Neuer Kinofilm von Joachim Trier: Die Sache mit Sisyphos

Im Kino-Drama „Der schlimmste Mensch der Welt“ betrachtet Regisseur Joachim Trier die Sinnsuche einer jungen Frau, die durch Oslo treibt.

Ein Mann und eine Frau haben sich umarmt, mit geschürzten Lippen tauschen sie Rauch aus

Gilt nicht als Seitensprung, ist trotzdem eine intime Geste zwischen Julie und Eivind Foto: Koch Films

Die Sonne über Oslo geht gerade unter. Eine junge Frau blickt von einer Dachterrasse aus auf die Stadt hinab, die in warmes Abendlicht getaucht ist, und auf den ruhig dahinfließenden Akerselva. Sie steht, in einem schwarzen Cocktailkleid, seitlich zur statischen Kamera, hält eine Zigarette in der Hand. Ihr Gesicht ist zunächst abgewandt. Als sie den Kopf schließlich dreht, durchbricht sie fast die vierte Wand.

Es ist eine lange und leise, beinah unscheinbare Szene, mit der Joachim Trier den letzten Teil seiner „Oslo“-Trilogie einleitet – und doch ist in ihr bereits vieles von dem angelegt, was das Werk des norwegischen Filmemachers ausmacht: die zart bis erdrückend melancholische Stimmung etwa, mit der vom Disruptiven im Alltäglichen, den unauffälligen Augenblicken, die sich als Vorwehen einer Zäsur herausstellen sollen, erzählt wird.

So zeigt die Eröffnungsszene von „Der schlimmste Mensch der Welt“ den Moment, in dem Protagonistin Julie (Renate Reinsve) den Entschluss fasst, die Buchpräsentation ihres Partners ­Aksel (Anders Danielsen Lie) vorzeitig zu verlassen. Kurz darauf wird sie sich auf eine Hochzeitsfeier schleichen und eine Begegnung mit einem Mann haben, die sie ihre aktuelle Beziehung anzweifeln lässt und eine Sinnkrise auslösen wird.

Kurze Momente der Befreiung

Dennoch ist das, wofür sich Trier und sein langjähriger Co-Autor Eskil Vogt („The Innocents“) interessieren, nicht das Außergewöhnliche als solches, sondern vielmehr seine zuverlässige Wiederholung. Was ­Julie erlebt, mag ein Wendepunkt in ihrem Leben sein. Allerdings nur einer von vielen. Das Autorenduo interpretiert das menschliche Dasein zuerst als eine Aneinanderreihung existenzieller Krisen. Wie Sisyphos schieben ihre Figuren ständig eine Last vor sich her, empfinden vor allem in Neuanfängen kurze Momente der Befreiung. Ehe das Spiel von vorne beginnt.

Auch wegen dieser genauen Beobachtung ist „Der schlimmste Mensch der Welt“, wie die beiden vorangegangenen Filme der Reihe, eine feinfühlige Reflexion über die Grundbedingungen des Menschseins. Genauer gesagt, des Menschseins in einer urbanen Wohlstandsgesellschaft, die es sich erlauben kann, mit dem Sinn des eigenen Lebens anstatt dem eigenen Überleben selbst zu hadern. Die skandinavische Metropole ist dafür eine hervorragende Kulisse.

Obwohl sie inhaltlich nicht miteinander verbunden sind, lassen sich die drei Filme aufgrund dieses gemeinsamen Fokus als thematisch verwandt und ihre Protagonisten jeweils als eine geistige Fortentwicklung betrachten. Stets als intimes Porträt einer Selbstsuche angelegt, versuchen sich die Figuren im ersten Film noch über äußerliche Zuschreibungen zu definieren. Im 2006 erschienen „Auf Anfang“ werfen zwei junge Männer zu Beginn des Films die Manuskripte für ihre ersten Roman in den Briefkasten. Von einer Veröffentlichung versprechen sie sich nicht den großen finanziellen Erfolg, sondern viel mehr die Zugehörigkeit zu einer Kaste und damit einen Lebenszweck.

„Der schlimmste Mensch der Welt“. Regie: Joachim Trier. Mit Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie u. a. Norwegen 2021, 128 Min.

Während Eriks (Espen Klouman-Høiner) Roman abgelehnt wird, wird Phillips (Anders Danielsen Lie) nur kurz darauf veröffentlicht und er selbst zu einem Shootingstar der norwegischen Literaturszene. Doch was folgt, ist ein zielloses Chaos: Sechs Monate später holen ihn seine Freunde aus einem psychiatrischen Krankenhaus ab, er irrt durch die Stadt und stürzt sich manisch in das Projekt, seinem Leben – wenn schon nicht mit dem Schreiben, dann zumindest mit einer Liebesbeziehung – eine Richtung zu geben.

Kapitulieren vor der Hoffnungslosigkeit

Während Phillip vehement gegen das, was Albert Camus als das Absurde, den Widerstreit der Sinnlosigkeit der Welt und der Sinnsuche des Einzelnen, beschrieben hat, anzukämpfen versucht, resigniert die erneut von Danielsen Lie gespielte Hauptfigur des 2011 veröffentlichten „Oslo, 31. August“ davor. Als der drogenabhängige Anders die Entzugsklinik verlässt, bereitet ihm nichts eine Freude, nicht einmal das lang­ersehnte Date mit einer Geliebten. Es folgt ein kopfloses Streifen durch Oslo, gefüllt von flüchtigen Begegnungen. Da nichts davon seiner Hoffnungslosigkeit Linderung verschaffen kann, kapituliert er schließlich.

Auch in der „Der schlimmste Mensch der Welt“ ist Danielsen Lie dabei. Als Mittvierziger Aksel, besagter 15 Jahre älterer Freund von Protagonistin ­Julie, kämpft er weder gegen die Absurdität an noch flieht er vor ihr in den Selbstmord: Er hat sie akzeptiert, sich als Zeichner von politisch-unkorrekten Underground-Comics in einer Existenz eingerichtet, in der zeitweises Aufbegehren dennoch Platz findet, quasi zum Berufsbild gehört.

Nichtsdestotrotz steht Julie und damit erstmals eine weibliche Sinnsuche im Fokus des letzten Teils der Trilogie. Dass ausgerechnet die stärker als in den beiden vorangegangenen Filmen im Kontext von Partnerschaften erfolgt, kann man durchaus kritisch anmerken. Den Film deswegen als rückschrittlich oder sein Frauenbild gar als reaktionär zu klassifizieren, würde ihm jedoch in keiner Weise gerecht.

Julie ist die Figur, die sich am stärksten jeder Zuschreibung ihrer Rolle entzieht – vor allem in Karriere­dingen

Im Gegenteil: Obschon die Stärke eines jeden Films der Reihe vor allem in der Präzision der Charakterstudien liegt, die Vogt und Trier anstellen, ist Julie wohl die facettenreichste Figur aus der Feder des Autorenduos. Sie ist es, die sich am stärksten jeder Zuschreibung entzieht – vor allem in Karrieredingen.

Collage ihres Lebens

Trier arbeitet mit einer hastigen Collage, um einen Überblick über die Laufbahnen zu geben, in denen sie sich bereits versucht hat: Das Medizinstudium bricht sie ab, nachdem sie feststellt, dass ihre Leidenschaft immer schon der Seele statt dem Körper gegolten habe, wie eine allwissende Erzählerin aus dem Off erklärt. Das Psychologiestudium wirft sie hin, weil ihr klar wird, dass sie doch immer der visuelle Typ gewesen ist, und beschließt schließlich, Fotografin zu werden.

Bei einem Event, bei dem sie als Fotografin vor Ort ist, lernt sie allerdings Aksel kennen, und macht schließlich die neue Beziehung zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Existenz. In zwölf Kapiteln sowie einen Pro- und einen Epilog unterteilt, führt Trier durch die Stationen ihrer Partnerschaft, und ihre Verbundenheit darüber hinaus. In kurzen essayistischen Geschichten begleitet der Film seine Protagonistin bei der Suche nach dem eigenen Daseinszweck, lässt sie partielle Antworten finden – und sie zuverlässig wieder verwerfen.

Auch Aksel wird verworfen, sobald ihre Beziehung ins Alltägliche abgleitet und keine zufriedenstellende Raison d’être mehr liefert. Die Saat für das Ende ihrer Partnerschaft wird bereits in dem Kapitel ausgebracht, in dem es auf der Hochzeitsfeier zur Begegnung mit Eivind (Herbert Nordrum), einer neuen möglichen Antwort, kommt.

Weil sie sich geschworen haben, ihren Partnern nicht untreu zu werden, nähern sich ­Julie und Eivind ausschließlich über Formen, die per definitionem nicht als Seitensprung gelten. Allerdings mehr, weil sie derart abseitig sind, dass sie nicht ausdrücklich unter die Definition eines solchen fallen – und nicht, weil sie nicht intim genug wären, um als Untreue ausgelegt zu werden.

Intimer Austausch

Sie erzählen sich ihr dunkelstes Geheimnis, pusten sich gegenseitig Zigarettenrauch in den Mund, riechen gegenseitig an den Achseln des anderen und gehen sogar voreinander auf die Toilette. Gerade dieses Außergewöhnliche ihrer Begegnung ist es wahrscheinlich, das sie zueinander hintreibt.

Wie groß Julies Hoffnungen sind, dass mit Eivind alles anders sein könnte, bebildert Trier in der zweiten Hälfte mit einer überbordend langen Szene, die stark an klassische romantische Komödien erinnert: Eines Morgens träumt sie sich aus dem Alltag fort, rennt verzückt durch die plötzlich stillstehenden Straßen Oslos und auf ihre ganz persönliche Erlöserfigur zu. Beziehungsweise dem neuen Mann, in dem sie sie vermutet. Auch wegen seiner Inszenierungsfreude ist „Der Schlimmste Mensch der Welt“ nicht nur der Schluss-, sondern auch der Höhepunkt der Trilogie.

Doch natürlich hat ein solches „happily ever after“ in einer existenzialistisch-brütenden Reihe keinen Platz. Während für Julie kurz darauf eine weitere Episode der Selbstsuche beginnt, geht die des an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Aksels jäh zu Ende.

Ob die „Oslo“-Trilogie damit letztlich eine Reihe über die schreckliche Absurdität oder doch die absurde Schönheit des irdischen Daseins ist, hängt davon ab, ob man die Leben von Triers und Vogts Figuren mehrheitlich als erfüllt betrachtet. Ob man das kann, steht und fällt wiederum einzig mit der Fähigkeit, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen.

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