Fehlende Diversität im Theater: Sehnsucht nach der Platte
Der Kulturbetrieb lechzt nach Geschichten aus der Arbeiterklasse. Doch Förderungen gibt es kaum. Wie gehen Kulturschaffende mit diesem Widerspruch um?
Mit einem Vorsprechen bewarb sich der Nachwuchs einer renommierten Schauspielschule für ein Praxisjahr an einem großen Stadttheater. Bei der anschließenden Analyse der „Performance“ sagte die Leiterin des Theaters, mit dem Finger auf ein Schauspielerfoto zeigend: „Er hier braucht noch Zeit, um zu den anderen aufzuschließen. Er hat aber auch eine interessante Biografie.“
Die anderen Teammitglieder schauten auf. „Er ist in einer Platte aufgewachsen.“ Mit einer Arbeiter*innenbiografie im Kulturbetrieb anzuknüpfen, oder gar erfolgreich zu sein, ist eben nicht nur mühselig, sondern auch selten. Begleitet wird dieser sogenannte „Aufstieg“ in die hehren Gefilde des Bürgertums von Stigmatisierung und Diskriminierung.
Gleichzeitig besteht in Theater und Literatur die Nachfrage nach freshem Content, nach der „interessanten Plattenbiografie“, nach Plots mit Haltung. Was ist aber der Preis dieser Sehnsucht und wie gehen Working-Class-Kulturschaffende mit dem Widerspruch um, dass das Bürgertum sie braucht und gleichzeitig ausschließt?
Beim Open Mike, einem der wichtigsten Preise für Jungautor*innen, haben vier der letzten sechs Prosagewinner*innen sich am Deutschen Literaturinstitut (DLL) in Leipzig oder am Kulturcampus in Hildesheim ihre Sporen verdient.
„Kreatives Schreiben studiert habe ich mit Lehrerkindern und Ärztekindern und noch mehr Lehrerkindern und noch mehr Ärztekindern“, schrieb der Hildesheim-Absolvent Florian Kessler schon vor sechs Jahren in der Zeit. „In jeder Saison der letzten Jahre wurde mehr als die Hälfte aller bis in die Feuilletons vordringenden Romandebütanten an einem dieser beiden Institute ausgebildet“, so Kessler.
Behaupteter Realismus
Wie äußert sich das? Elegisches Selbstmitleid und Selbstreferentialität sind nur zwei der Elemente, die etwa in „Allegro Pastell“, dem jüngsten Roman des Managersohns und Hildesheim-Absolventen Leif Randt, hervortreten. Protagonistin Tanja schreibt an ihrem zweiten Roman in Berlin, Protagonist Jerome ist Webentwickler und haust mietfrei im elterlichen Bungalow. „Ihre Sorge ist ihr Selbst“, hieß es in der taz.
„Allegro Pastell“ ist der erste Randt-Roman, der in der sogenannten Wirklichkeit spielt. Und der damit, stellvertretend für eine ganze Kohorte Autor*innen, einen Realismus behauptet, der kaum bis gar nicht den eigenen Klassenstandpunkt reflektiert. Stattdessen dann doch lieber die letzte Therapie oder das Befinden der Monsterapflanze. Natürlich ganz ironisch und leidlich depressiv.
Doch nicht alle Millennials haben die finanziellen Möglichkeiten, um vier Mal in der Woche auf der Couch ihrer Therapeut*innen zu liegen, nicht alle Schreibenden mit drei Nebenjobs die Zeit, ihre Familienissues zu reflektieren. Die Geschichten der anderen Millennials sind selten zu lesen, kaum auf den Großen Bühnen der Stadttheater zu sehen.
Dabei hat manch einer durchaus genug vom erschöpften Einheitsbrei der Generation Bürgikids. „Mensch, ein Glück, es gibt noch andere wie mich“, kommentiert der Berliner Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier die Lektüre des von ihm inszenierten „Rückkehr nach Reims“. Am Buch Didier Eribons interessierte ihn vor allem das Milieu der Arbeiterklasse, „die soziale Gewalt der konkreten Ausbeutungsverhältnisse“. Es gibt ihn also – den Wunsch, soziale Realitäten sichtbar zu machen.
Auch das Theater hält die soziale Frage von Bühne und Haus fern. Entscheidend für diese milieuspezifische Contentarmut ist die Bezahlung. Wer es im Theater zu etwas, nämlich einer 60-Stunden-Woche mit 2.000 Euro Bruttoverdienst, bringen will, der muss erst mal unbezahlt oder unter der Armutsgrenze klotzen, also in Vorleistung treten: unbezahlte Hospitanzen, unbezahlte Wochenendarbeit, vorsorgende Ferienjobs und strafende Blicke, wenn der alles finanzierende „Nebenjob“ den Proben in die Quere kommt.
Förderung ist nur Rinnsal
Theater ist Sozialleben, fehlendes Kleingeld für das Abhängen nach der Probe rächt sich in Form sozialer Missachtung oder im ausbleibenden Jobangebot. Wie sehr die Startpositionen der kulturschaffenden zwanzig- bis vierzigjährigen Millennials auseinanderklaffen, zeigt sich in der gegenwärtigen Krise wie unter einem Brennglas.
Im Angesicht von Covid-19 werden die ohnehin beschaulichen Geldflüsschen im Kulturbetrieb zum Rinnsal. Theater und Zeitungen führen reihenweise Kurzarbeit ein, Konzerte, Lesungen und Performances fallen bis auf Weiteres aus. Ein Ausfallhonorar einfordern fällt schwer, wenn man für den nächsten Gig als unkomplizierte*r Auftragnehmer*in rüberkommen muss, über nennenswerte Rücklagen oder gar eine Altersvorsorge verfügen die allerwenigsten.
Zugleich steigt der Hunger der Institutionen nach freshen Inhalten, nach innovativen Ideen, um die eiligst ausgerufene Online-Sphäre zu bespielen. „Jetzt passiert, was ich mir schon lange gewünscht habe“, schwärmt Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Spiegel-Interview. „Der Bereich Kultur blüht in der digitalen Welt richtig auf.“
Diesen digitalen Content sollen nun die Millennials liefern, da sie als Digital Natives das nötige Know-how mitbringen. Dabei leiden die prekär Aufgestellten unter ihnen besonders an den krisenhaften Verhältnissen und den bislang spärlichen digitalen Vergütungsmodellen. Überhaupt noch Kunst und Kultur zu produzieren, könnte so zum Privileg derjenigen werden, deren Familie mit privater Soforthilfe einspringt. Das hat System.
Bis in die Nullerjahre hinein wuchs eine Generation heran, der versprochen wurde, sie könnte alles sein, solange sie sich nur richtig viel Mühe gab: A fantastic Barbie girl oder a big brother, Anne Will oder Christian Kracht. So drängten die Bildungsaufsteiger*innen der 90er zuhauf in ein Feld, das sie nur halbherzig wollte. „Du hast noch keinen Erfolg? Selbst schuld!“, geißelten sie sich.
Einen ersten heftigen Dämpfer erfuhr diese neoliberale Mär im Zuge der Finanzkrise 2008; und nun steht laut IWF die heftigste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er-Jahre bevor. Umso mehr drängt sich die Frage auf, mit welchem Selbstverständnis Künstler*innen und Kulturschaffende in die nächsten Jahre gehen wollen.
Warum gibt es keinen Hilfsfond?
Klar ist: Während Kulturinstitutionen sich für eine Plattenbau-Biografie und für digitale Innovationskompetzenz interessieren, nützt das herzlich wenig, wenn davon nicht die Miete bezahlt werden kann. Wie also etwas leisten, wenn von der eigenen Arbeit viele andere profitieren, nur nicht diejenigen, die von ihrer Kunst leben müssen? Wie sollen sie Anerkennung und Entlohnung rausschlagen?
Deutschlands Vorzeigeintellektuelle Carolin Emcke spricht davon, dass sie nach Corona knutschen, raven und klassische Konzerte besuchen möchte. Warum lanciert sie mit ihrem breiten Netzwerk keinen Hilfsfonds, der die Freiheit vieler Schreibender in einem „Danach“ annähernd denkbar machen würde?
Individuelle Gesten der Solidarität könnten eine Debatte über die Notwendigkeit struktureller Veränderungen im Kulturbetrieb anstoßen. Entscheidungsträger*innen dazu zu zwingen, Verteilungsgerechtigkeit in ihren Institutionen zu etablieren, ist aber unausweichlich. Und das hieße, Förderungsmittel an soziale (und ökologische) Kriterien zu koppeln. Wenn Kulturinstitutionen konkret nachweisen müssen, wie sie Diversität und Inklusion fördern, wären symbolische Gesten kultureller Teilhabe passé.
Zugleich gilt es, Klassenbewusstsein außerhalb der etablierten Institutionen zu praktizieren. Ein ermutigendes Beispiel ist das von einem Autor*innenkollektiv herausgegebene Magazin nous – konfrontative literatur.
In der neuesten Ausgabe fordert Mesut Bayraktar, „Kulturindustrie und falschem Frieden Gegenkultur und Gegengeschichte“ entgegenzusetzen – etwa den zerschundenen Körper seines Vaters nach jahrzehntelanger Fließbandarbeit: „Konkrete Utopie ist nicht utopistisch.“ Lasst sie uns Stück für Stück in die Gesellschaft weben!
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