Fazit des Grünen-Parteitags: Brav und regierungswillig
Annalena Baerbock gelingt es nicht ganz, in die Offensive zu kommen. Die Grünen-Basis segnet auf dem Parteitag den Kurs des Vorstands ab.
Kurz zuvor ist auch Stuttgart zugeschaltet. Ministerpräsident Winfried Kretschmann zitiert seine Lieblingsphilosophin Hannah Arendt – „Wo, wenn nicht in der Politik, sollen Wunder geschehen?“ – und stärkt Annalena Baerbock den Rücken. Max Weber habe drei Eigenschaften für gute Politiker ausgemacht, sagt Kretschmann. Leidenschaft in der Sache, Augenmaß, Verantwortungsgefühl. „Das ist eine sehr gute Beschreibung von Annalenas Profil.“
Von Baden-Württemberg bis Washington, wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Die beiden Szenen vom Sonntag binden gut zusammen, was die Grünen auf ihrem dreitägigen Parteitag in Berlin demonstrieren wollten. Aber gelingt das?
Erst Baerbocks Versäumnis bei der Angabe von Nebeneinkünften, dann das mäßige Ergebnis der Grünen in Sachsen-Anhalt, schließlich die Ungereimtheiten im Lebenslauf der Spitzenkandidatin. Die Partei sah nicht gut aus zuletzt. Um das Bild zu korrigieren, trafen sich die Grünen drei Tage lang in einem Industriebau in Berlin, die wichtigsten Leute und JournalistInnen waren unter strengen Hygieneauflagen vor Ort, gut 800 Delegierte digital zugeschaltet. Offiziell ging es darum, das Wahlprogramm zu beschließen, aber über allem schwebte die Frage: Wie kommt die Partei wieder in die Offensive?
Milieus, mit denen Grüne nichts anfangen können
Annalena Baerbock merkte man den Druck an, der auf ihr lastet. Über weite Strecken war sie abgetaucht und nicht in der Halle, während ihr Co-Chef Robert Habeck entspannt durch die Gänge stromerte, lächelnd und immer zu einer Plauderei aufgelegt. Einerseits ist das ein Trick, die Kanzlerkandidatin macht sich rar. Wenn Baerbock mal durch die Halle lief, scharten sich sofort die Kamerateams um sie. Aber etwas defensiv wirkte es eben auch.
Baerbock kämpfte bei früheren Parteitagen in Debatten für den Kurs der Grünen-Spitze, dieses Mal hält sie sich zurück. Auch ihre große Rede am Samstagnachmittag, mit der sie sich der Republik als Regierungschefin empfehlen will, als erste Grüne in der Geschichte überhaupt, gelingt ihr mittelprächtig. Sie wirkt wie ein Best-of des Wahlprogramms, kein leuchtender Satz, keine überraschende These bleibt hängen.
Aber für das Fernsehpublikum, die „sehr geehrten Damen und Herren“, an die sich Baerbock richtet, dürfte der Überblick dennoch funktioniert haben. Baerbock erklärt Punkt für Punkt die Palette grüner Politik. Ihre zentrale Botschaft: Das Abwenden der Klimakrise sei das wichtigste Thema der nächsten Jahrzehnte, das traditionelle Wirtschaftsmodell müsse zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft weiterentwickelt werden. „Wir haben uns 40 Jahre darauf vorbereitet, mit allen Ecken und Kanten“, sagt Baerbock. „Jetzt ist der Moment, unser Land zu erneuern, und alles ist drin.“
Niemand dürfe bei der Wende zurückgelassen werden, die Baerbock in eine Reihe stellt mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, der friedlichen Revolution in Ostdeutschland und der europäischen Einigung. Nicht der Stahlarbeiter dürfe zurückgelassen werden, nicht die Pendlerin, nicht die Handwerker und die Kohlekumpel. Bewusst spricht sie Milieus an, die mit den Grünen wenig anfangen können. Ebenso bewusst betont sie, wie wichtig sozialer Ausgleich ist.
Ein herzhaftes „Scheiße!“
Die stärksten Stellen sind die persönlichen Anekdoten. Baerbock erzählt vom Tod der Schwester ihrer Mutter, als diese noch ein Kind war. Die Mutter hätte die Schule als lernschwach verlassen sollen. Aber Gespräche mit einem Kinderpsychologen und eine großartige Lehrerin hätten geholfen. So habe ihre Mutter es am Ende geschafft, Sozialpädagogin zu werden. Damit verweist sie auf eine Politik, in der Menschen aufgefangen werden. „Jeden Einzelnen zu sehen und zu hören und gleichzeitig das große Ganze im Blick zu behalten und dem Wohle aller zu dienen. Das ist unser Kompass.“
Sie wirkt verkrampft, wird erst mit der Zeit lockerer. Einmal verhaspelt sie sich, muss neu ansetzen. Am Ende lächelt sie erleichtert, nickt den eigens eingeladenen Neumitgliedern, die zuhören dürfen, knapp zu. Als sie die Treppe hinuntergeht und auf Habeck zuläuft, rutscht ihr ein herzhaftes „Scheiße!“ heraus. Eine Kamera zeichnet es auf, der Filmausschnitt geht auf Twitter sofort viral. Baerbock habe sich auf ihren Versprecher bezogen, heißt es danach in ihrem Umfeld.
Die Szene sagt auch etwas über das gute Vertrauensverhältnis von Baerbock und Habeck. Wäre es vorstellbar, dass Armin Laschet so etwas zu Markus Söder sagt? Eher nicht. Die Delegierten stärken ihrem Spitzenduo – es wird über beide gemeinsam abgestimmt – demonstrativ den Rücken. 98,5 Prozent, ein geradezu sozialistisches Ergebnis.
Das ist wichtig für die grüne Selbstvergewisserung. ParteistrategInnen räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass die falsch angegebenen Mitgliedschaften Baerbocks Image beschädigt haben. Es sei blöd, dass es keinen ausreichenden Sicherheitscheck geben habe, heißt es. Da bliebe „ein tiefer Kratzer“.
Der Wahlkampf wird brutal
In der Krise wird Robert Habecks Rolle als Wingman neben Annalena Baerbock noch mal besonders deutlich. Er kann es sich erlauben, die Strippen zu ziehen, Spins zu setzen – etwa, als er in seiner Rede am Freitagabend den philosophischen Überbau zu Baerbocks konkreten Ansagen liefert. „Wer das Klima schützt, schützt die Freiheit.“ Durch das Klima-Urteil von Karlsruhe, so seine These, verschiebe sich paradigmatisch eine Polarität, die die Gesellschaft verdummt habe.
Kampfdrohnen Es war die große Überraschung des Parteitags: Die Grünen wollen die Anschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr nicht grundsätzlich verbieten. Allerdings soll vorher erst klar gemacht werden, wofür sie eingesetzt werden sollen. Das von der Abrüstungspolitikerin Katja Keul vorgeschlagene generelle Verbot setzte sich auf dem Parteitag nicht durch.
Arbeit und Soziales Die Grünen wollen die Hartz-IV-Regelsätze in einem ersten Schritt um mindestens 50 Euro anheben. Mittelfristig solle Hartz IV „überwunden“ und durch eine sanktionsfreie Garantiesicherung abgelöst werden. (us)
Egal, ob es ums Nackensteak, ums Fliegen oder ums Tempolimit geht: Die Zeiten, in denen interessierte Kreise hemmungslosen fossilen Konsum mit Freiheit gleichsetzen konnten, seien vorbei. Ob sich Habecks Deutung in der Realität durchsetzt, ist offen. Neulich wetterten CDU, SPD und Bild-Zeitung gegen höhere Benzinpreise, obwohl die Große Koalition mit ihrem Beschluss zum CO2-Preis selbst dafür gesorgt hatte. Mit Zahlenfresserei kommen die Grünen gegen derlei Polemik nicht an, glaubt Habeck. Stattdessen will er das große Ganze erzählen, klar machen, dass es bei dieser Wahl um eine Jahrhundertfrage geht.
Die Benzinpreis-Diskussion werfe die Frage auf, wie glaubwürdig die Lippenbekenntnisse zum Klimaschutz seien, sagt Kretschmann. „Man kann sich doch nicht gleich aus dem Staub machen, wenn es mal Gegenwind gibt.“ Einen Vorteil hatte die Aufregung aber für die Grünen: Sie dürfte auch dem rebellischsten Basisgrünen klar gemacht haben, wie brutal der Wahlkampf wird.
Gleich reihenweise lassen die Delegierten in Onlineabstimmungen Anträge abblitzen, die das Wahlprogramm verschärfen würden. Ein Beispiel ist die Klimaschutzdebatte am Freitagabend: Der Klimaaktivist Jakob Blasel will den CO2-Preis auf 80 Euro pro Tonne Kohlendioxid setzen statt auf 60 Euro. Blasel beruft sich auf WissenschaftlerInnen wie die Energieökonomin Claudia Kemfert. Habeck geht persönlich in die Bütt – und entgegnet kühl: Es gebe nicht die Wissenschaft, ebenso wenig, wie es die Politik gebe.
Deutschland bleibt drin
Ein Tempolimit von 70 km/h auf Landstraßen? PendlerInnen verlieren Zeit für ihre Familien, kontert Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor schon 2025? Man dürfe die Beschäftigten der Autokonzerne nicht in die Arme der Fanatiker von rechts außen treiben, findet Cem Özdemir. Grüne Spitzenleute klingen wie Liberale und Konservative, als sie für den moderaten Kurs kämpfen. Die Argumente scheinen austauschbar zu sein.
Arbeitsam und bürokratisch haken die Delegierten einen Tagesordnungspunkt nach dem anderen ab. Rede, Gegenrede, Abstimmung, oft liegt man sogar vor dem eigenen Zeitplan – was sonst so gut wie nie vorkommt bei Grünen-Parteitagen. Sie wollen engagiert, aber nicht zu radikal wirken – und heraus kommt eine etwas verklemmte Professionalität. Fast überall wird der Vorstandskurs gestützt. Ein Antrag, der einen Mindestlohn von 13 Euro fordert, scheitert – die Grünen bleiben bei 12 Euro. Einer, der ein Wahlalter von 14 Jahren fordert, wird ebenfalls abgelehnt. Die Grünen ziehen wie geplant mit der Idee in den Wahlkampf, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken.
Eine viel versprechende Kampfabstimmung fällt gleich ganz aus. Die Überschrift des Wahlprogramms lautet: „Deutschland. Alles ist drin.“ Eine Gruppe linker Grüner hatte vor dem Parteitag gefordert, das Wort „Deutschland“ zu streichen – zur großen Freude der Redaktion der Bild-Zeitung. Doch die Antragsteller ziehen ihr Anliegen am Samstagabend zurück und ersparen Baerbock eine unsinnige Debatte, die für peinliche Schlagzeilen gesorgt hätte. Deutschland bleibt drin.
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