Faszination der Vierschanzentournee: Sucht nach dem Fliegen
Die Vierschanzentournee wird wieder ein Millionen-Fernsehpublikum haben. Warum berauschen sich nur so viele Menschen am Skispringen?
Die ganz große Party fällt dieses Jahr bei der Vierschanzentournee aus. Zum zweiten Mal dürfen wegen der Coronapandemie keine Zuschauer in die vier Stadien. Keine 40.000 in die Oberstdorfer Arena an der Schattenbergschanze, keine 25.000 in Olympiastadion in Garmisch-Partenkirchen, keine 28.000 in den Hexenkessel am Innsbrucker Bergisel und keine 25.000 beim Abschluss in Bischofshofen. Das obligatorische „Ziiiieeeehhhh“ aus Tausenden Kehlen nach dem Absprung – es wird nicht erschallen. „Schade, dass keine Zuschauer da sein werden“, hat Markus Eisenbichler gesagt, „weil sie immer für eine spezielle und eine besondere Atmosphäre sorgen.“
Die Fans fiebern stattdessen zu Hause vor den Bildschirmen mit. Für die ARD und das ZDF ist die Vierschanzentournee seit vielen Jahren ein Garant für hohe Einschaltquoten. Selbst in schlechten Jahren haben noch 4,4 Millionen Fans Skispringen eingeschaltet. Im vergangenen Jahr haben beim Neujahrsspringen 7,7 Millionen Zuschauer mit den deutschen Adlern mitgefiebert. Insgesamt haben drei der vier Springen die ersten Plätze aller Wintersportübertragungen belegt. Noch vor der vermeintlich liebsten Wintersportart der Deutschen: Biathlon.
Etwa 1.100 Skispringer – vom Schüler bis zum Senior – nehmen mehr oder weniger regelmäßig an Wettkämpfen des Deutschen Skiverbandes teil. Damit bewegt sich die Zahl der Deutschen, die jemals über eine Schanze gesprungen sind, im Promillebereich. Warum übt diese Disziplin dann bei den Massen diese ungeheure Faszination aus?
Auch der ehemalige Bundestrainer Werner Schuster hat für dieses Phänomen keine schlüssige Erklärung. „Vielleicht liegt es daran, dass es einen tiefen Wunsch des Menschen gibt, fliegen zu können“, sagt der Österreicher. „Gerade dieses Unvorstellbare ringt den Menschen enormen Respekt ab.“ Karl Geiger hat eine andere Erklärung parat. „Skispringen ist eine extreme und gefährliche Sportart“, sagt der Athlet, der bei der diesjährigen Tournee neben dem Japaner Ryoyu Kobayashi zu den großen Favoriten zählt. Dessen werde man sich immer wieder bewusst, wenn es mal zu Stürzen kommt. „Es ist nicht ohne“, so Geiger, „es kann sehr viel passieren.“ Damit gibt es eine Parallele zum Motorsport. Auch dieser Sport bezieht einen Teil seiner Faszination aus der Möglichkeit, dass immer ein Unfall passieren kann.
Mehr als Adrenalin
Dabei sind die Abläufe geradezu normiert. Zwischen dem Abdrücken vom Balken bis zum Abschwingen im Auslauf vergehen etwa acht Sekunden. Auf den maximal 105 Metern bis zum Schanzentisch werden die Springer auf etwas mehr als 90 Kilometer pro Stunde beschleunigt, es folgt der aktive Absprung vom Schanzentisch, und dann geht’s ab in die Luft – bis die Gesetze der Physik die Springer wieder zurück auf den Boden holen. Mal früher, mal später. Dazu kommen allerdings noch äußere Einflüsse wie Wind.
„Allein die Kräfte in der Luft zu spüren, ist beeindruckend“, beschreibt Olympiasieger Andreas Wellinger einen Sprung, „das bringt eine Welle an Gefühlen, die durch den Körper schießen.“ Für eines sorgt Adrenalin. Aber auch mehr. „Bei manchen Skispringern, die eine Art Sucht entwickeln, liegt systematisch ein Grundbedürfnis vor“, wird der Sportpsychologe Oskar Handow in „Das Buch vom Skispringen“ (Autor: Volker Kreisl, Verlag die Werkstatt) zitiert, „allerdings hat ein Risikosportler eine gesündere Variante gefunden, damit umzugehen.“
Die Sucht nach dem Fliegen spiegelt sich bei vielen Springern im Privaten wider. Nicht nur Andreas Wellinger macht zurzeit den Flugschein. Auch der Schweizer Simon Ammann besitzt die Lizenz. Thomas Morgenstern, Olympiasieger 2006, hat aus dieser Leidenschaft ein Geschäft gemacht, darf sogar einen Hubschrauber pilotieren. „Es ist die Kombination aus Luft, Leichtigkeit und Gefühl von Freiheit“, beschreibt Wellinger, „das, was wir beim Skispringen genau gleich, aber viel zu kurz haben, kann man in einem Flugzeug noch viel mehr genießen.“ Auch ohne Zuschauer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau