Familien mit vorerkrankten Kindern: Im Schatten der Gesellschaft
Die einjährige Murielle leidet an einem Herzfehler. Wegen der Pandemie lebt ihre Familie seit zwei Jahren im Hintergrund – mit jeder Lockerung wird es für sie schwieriger.
„Augen zu!“, ruft der 4-jährige Mortimer. Die Eltern hören nicht. „Au-gen zu!“ Er versteckt sich in einem Metallgerüst, sein Ruf klingt blechern. Die Eltern drehen sich um und gucken in die Sonne. Sie sitzen im Berliner Naturpark Schöneberger Südgelände, weil sich dort kaum andere Menschen aufhalten. Cristina und Mats Mojem, die Eltern von Mortimer, Mortimer selbst und seine Schwestern Madikken (5 Jahre) und Murielle (1,5 Jahre) sind das, was man seit der Coronapandemie eine Schattenfamilie nennt.
Die taz-Redakteurin Nicole Opitz wurde für diesen Text mit dem Journalistenpreis des Bundesverbands Herzkranke Kinder e.V. 2023 ausgezeichnet. Sie erhielt die Auszeichnung in der Kategorie „Text / Print“.
Weitere ausgezeichnete taz-Texte finden Sie hier.
Das bedeutet: Die Mojems ziehen sich seit etwa zwei Jahren zurück. Sie leben so, wie die meisten das vom ersten sogenannten Lockdown kennen: Sie lassen sich Lebensmittel liefern, treffen kaum Freund:innen, lassen niemand Fremdes in die Wohnung. Denn die Kleinste, Murielle, hat Pulmonalatresie, einen angeborenen Herzfehler, der dafür sorgt, dass Murielle dauerhaft beatmet und palliativ betreut wird.
Cristina Mojem, Mutter von Murielle
„Sie wird so oder so sterben, da wollen wir nicht noch, dass sie vorher das blöde Virus holt“, sagt Cristina Mojem mit zusammengekniffenen Augen gen Sonne. Es ist Ende März, die Lockerungen der Coronamaßnahmen machen ihr und ihrem Mann Angst. Sie erhöhen das Risiko einer Infektion und schränken die Familie noch weiter ein als ohnehin schon: Ohne Maskenpflicht traut sie sich in kein Geschäft. „Wenn niemand mehr Maske anhat, ist das Risiko einfach zu hoch“, sagt Cristina Mojem.
Während die beiden erzählen und Murielle immer wieder die Hände ausstreckt, um von Cristina Mojem gestillt zu werden, verkriecht sich die 5-jährige Madikken hinter einer Bank und fängt an zu weinen. „Was ist denn, Madikken?“ – „Ich weiß nicht“, schluchzt sie. „Manchmal muss man einfach weinen“, sagt Cristina Mojem. Wie lange Murielle, genannt Murkel, leben wird, weiß die Familie nicht. Manche Menschen mit Pulmonalatresie können erwachsen werden – je nach Diagnostik und Behandlungsmöglichkeit.
Transplantation klappt nicht
Bei Murkel ist das sehr unwahrscheinlich, bis zuletzt hatte die Familie auf eine Transplantation gehofft: Am Tag zuvor hatte Cristina Mojem auf ihrer Facebook-Seite „Mit Herz und Seele – Murkel“ gepostet: „Wir warten jetzt also auf Rückmeldung, ob es technisch möglich wäre, sie zu transplantieren, und dann würden wir uns mal mit Fachpersonen zusammensetzen und schauen, was es eben für Auswirkungen auf unsere Kinder und eben auch uns als Paar haben könnte.“ Über 2.000 Menschen folgen Mojems Facebook-Seite, schreiben aufmunternde Kommentare, fühlen mit, manche schicken Geschenke oder Geld an die Familie.
Und nun? Hat sich die Familie für eine Transplantation von Herz und Lunge entschlossen? „Das ist ein schwieriges Thema“, sagt Cristina Mojem. „Wir haben gestern den Anruf bekommen: Das mit der Transplantation klappt nicht. Das war unsere letzte Hoffnung.“ Murielle guckt während des Gesprächs skeptisch, sie hat eine ganze Facette von skeptischen Blicken.
Cristina und Mats Mojem wissen nicht, ob sich Murielles Tod langsam ankündigt oder plötzlich kommt. „Es gibt einen 1,50-Meter-Radius um Murkel“, sagt Cristina Mojem und zeichnet mit der Hand einen halben Kreis in die Luft. Mojem war von ihrer Tochter seit der Geburt nicht getrennt. „Ich bin Bezugsperson Nummer eins“, sagt sie.
Das sei auch so, weil Mats Mojem während Corona selbst auf der Intensivstation nicht zu ihr gelassen wurde. „Da waren die Zahlen noch niedriger als jetzt. Er durfte sein eigenes Kind auf der Intensivstation nicht besuchen. Obwohl sie palliativ ist“, sagt Cristina Mojem. „Heute darf man bei den Zahlen sonst was machen.“ Während Cristina Mojem spricht, rattert nicht nur der Kinderwagen mit Murkel und Beatmungsgeräten über das Gitter, über das die Familie im Park spazieren geht. Auch ein kleinerer Wagen mit einem Teddy wird geschoben: Murkels ältere Geschwister, Madikken und Mortimer, streiten sich fast vier Stunden darüber, wer den Teddywagen schieben darf. Wer sich kümmern darf, wird immer wieder neu ausgelotet.
Nur auf leere Spielplätze
Ausloten, damit kennen sich auch Mats und Cristina Mojem aus: „Die große Herausforderung ist, für uns zu entscheiden: Was machen wir, was machen wir nicht?“, sagt Mats Mojem. „Was ist für Murielle besser, nicht zu machen, und was ist für die anderen beiden Kinder besser, damit sie nicht die ganze Zeit in der Wohnung sind? Da einen Mittelweg zu finden, ist sehr schwierig“, sagt Mojem und seufzt. „Wir gehen nur auf den Spielplatz, wenn keine anderen Kinder da sind.“ Wenn es regnet, gehen sie raus spielen. „Uns macht Regen nichts, die Kinder mögen Regen auch und der Spielplatz ist leer“, sagt Mojem.
Dass sich Schattenfamilien wie die Mojems isolieren müssen, liegt auch an einer Coronapolitik, die sie außer Acht lässt. „Corona ist für Kinder keine gefährliche Krankheit“, sagte die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) bei Markus Lanz im Februar. Oftmals ist davon die Rede, dass eine Corona-Infektion „nur“ für Vorerkrankte gefährlich sein könne. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung geht von rund einer halben Millionen Kinder mit Vorerkrankung im Alter von 12 bis 17 Jahren aus. Laut einer Studie des RKI haben 11 Prozent aller Mädchen und 16 Prozent aller Jungen eine chronische Erkrankung.
Eigentlich wurde den Mojems eine sogenannte Corona-Auszeit vom Staat finanziert. Sie wollten an die Ostsee fahren. „Wir werden einen Teufel tun und an die Ostsee fahren“, sagt Cristina Mojem. Die Zahlen seien zu hoch. „Nachholen können wir den Urlaub nicht, da die Corona-Auszeit wohl nicht erneut beantragt werden kann, wenn man selbst storniert hat. Ich glaube, dass unsere Kinder trotzdem glücklich sind.“ Glück, das sagt Cristina Mojem oft. Sie erzählt, wie den Kindern einiges ermöglicht wird, das vor der Pandemie undenkbar gewesen sei: Sie gehen später ins Bett, spätabends auf den Spielplatz. „Ich denke mir mittlerweile: Was soll’s. Soll Murielle halt den Butterkeks essen“, sagt Cristina Mojem. „Bei Madikken war mir das noch sehr wichtig, sie durfte zwei Jahre lang keinen Zucker essen.“
Dann plötzlich, wir sind auf dem Weg zum Spielplatz, findet Madikken etwas am Wegesrand, hebt es auf und streckt ihren kleinen Arm in die Höhe. „Ein Mistelzweig“, ruft sie. Sie springt zu ihrer Mutter, küsst sie und die kleine Schwester. Madikken quietscht vergnügt, Murielle quietscht mit.
Kinder hören nicht auf, Kinder zu sein
Später, als die Familie auf einen kleinen Spielplatz gelangt, klettert Madikken einen Baum hoch und hängt sich an einen Ast. „Mama, Mama, guck mal“ – „Und jetzt: Lass dich fallen!“, ruft Cristina Mojem. Madikken hüpft hinunter und klettert wieder auf den Baum. Währenddessen schaukelt Mats Mojem mit Murielle, Mojem küsst sie am Hinterkopf.
Neben Murkels Krankheit wollen Cristina und Mats Mojem auch die Bedürfnisse der anderen beiden Kinder wahrnehmen. Kinder hören nicht auf, Kinder zu sein und Kinderprobleme zu machen, nur weil die Schwester vielleicht bald stirbt. Für jeden sieht das Abseits ein bisschen anders aus: Nicht jede Schattenfamilie ist wie die Mojems. Das betont auch Andrea Häfele, die in dem Verein Eltern beraten Eltern arbeitet. Häfele berät Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung. „Vieles kann man nicht über einen Kamm scheren, weil jede Familie einzigartig ist. Dass sie nicht gesehen werden, haben sie gemeinsam.“
Dabei verstärke die Pandemie diese Situation nur: Eltern von Kindern mit Behinderung und chronischer Erkrankung seien schon vor der Pandemie ignoriert worden. Viele Kontakte seien über die Pandemie weggebrochen, soziale Kontakte fast gänzlich. Dazu kämen die Ängste: mögliche Ansteckung in Kita und Schule sowie die Isolation, die auch die Kinder erfahren haben.
Auch bestünden für viele Familien finanzielle Schwierigkeiten. „Was jetzt dazukommt, ist das gesellschaftliche Unverständnis“, sagt Häfele. „Dabei fangen für diese Familien die Sorgen jetzt erst recht an. Das Unverständnis ist sehr belastend.“ Gerade weil die Familien alleine gelassen werden mit dem Thema, müsse man sie nach wie vor schützen.
„Wir entscheiden hauptsächlich nach Bauchgefühl“, erzählt Mats Mojem. Und am nächsten Tag zeigt sich dieses Bauchgefühl auch auf Cristina Mojems Facebook-Seite: Sie fahren doch an die Ostsee. Mit viel Vorsicht und Abstand zu anderen Familien, aber auch mit dem Glück, den 1,5-Jahre-Geburtstag von Murkel zu feiern. „Auf noch ganz viele tolle und so besondere Monate mit Murkel“, schreibt Cristina Mojem auf ihre Facebook-Seite. Damit das möglich ist, wird sich die Familie auch weiterhin im Schatten halten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“