Fahrradfahren im Alltag: Wenn das Rad vor den eigenen Augen geklaut wird
Ist das Rad geklaut, ist der Ärger groß. Aber manchmal hilft es, schnell genug zu rennen – wie in diesem Fall unserer Autorin.
V or eineinhalb Jahren schrieb ich hier über Fahrraddiebstähle. Ich hatte nach einer Lesung vor dem leeren Fahrradbügel gestanden und mich wie ein verwirrter Teilnehmer bei „Vorsicht Kamera“ umgeschaut. Wenn mir ein Rad gestohlen wird – vorm Restaurant, vorm Haus oder aus dem Keller –, bin ich immer aufs Neue überrascht. Motto: Das ist mein Fahrrad, ich brauche das jeden Tag. Warum nimmt mir das jemand weg?
Nach dem letzten Diebstahl kaufte ich mir dasselbe Modell erneut. Und war damit letzten Samstag an der Spree auf einer Rasenfläche direkt am videoüberwachten Bauzaun des Bundeskanzleramts. Ich legte meine Decke neben das Rad und machte für zehn Minuten die Augen zu. Als ich sie wieder aufmachte, waren die Ausflugsschiffe noch da, die Spaziergänger an der Promenade, die Mittagssonne – nur mein Rad war weg. Hundert Meter entfernt sah ich es langsam davonfahren.
Ich griff nach meinen Sachen und spurtete los. Mein Rad stoppte, der Sitz wurde heruntergestellt. 80 Meter, 50, 20. Ich rannte. Das Rad fuhr weiter, bog Richtung Hauptstraße ab. „Das holst du nicht ein“, dachte ich keuchend. „Aber du bleibst dran.“ Ich wechselte von Rennen auf Joggen. Sah, wie mein Rad einen Halbkreis beschrieb, plötzlich in meine Richtung kam, einen weiteren Schlenker machte, und fünf Meter an mir vorbeikam.
Sollte ich spurten, springen und schubsen? Also einen Typ in Drogentrance angreifen? Ich schleuderte stattdessen mit Kraft meine Trinkflasche ins Hinterrad und brüllte „Das ist mein Fahrrad!“ Flaneure erschraken. Mein Rad zuckte kurz unter der Flasche. Der Dieb fuhr unberührt weiter.
„Halten Sie ihn an!“, brüllte ich noch einmal, diesmal in Richtung von drei Fußgängern, in deren Richtung mein Rad nun gesteuert wurde. „Der hat mein Rad geklaut!“ Alle drehten sich um. Einer verschwand sofort hinter einer Hausecke. Die anderen beiden blieben auf dem Weg stehen. Der Dieb steuerte auf sie zu. Bremste. Stieg ab. Legte das Rad auf den Boden. Und ging weiter. Ich lief zu Rad und jungem Paar, bedankte mich. Mein Rad hatte nicht einmal verbogene Speichen. Aufgeregt waren wir alle. „Wir wussten nicht, ob der uns einfach überfährt“, meinte die Frau. Ich sah dem Dieb nach. Sollte ich ihm folgen?
Ich erinnerte mich an meine letzte Anzeige: Zwei junge Männer waren mit einem E-Roller über Rot und in meinen radfahrenden Sohn gefahren. „Ein Klassiker“, hatte der Polizist gesagt. „Das passiert an der Ecke oft.“ Obwohl ich ein Foto vom Fahrer hatte, wurde niemand ermittelt, die Kreuzung wurde sowieso nicht verändert. Solche Unfälle passieren da halt oft. Und für einen Drogenabhängigen, der mir das Rad aus Armeslänge stahl, würde sich in Berlin auch niemand interessieren. Immerhin hatte ich es zurück.
Toll fühlte sich dieses Erlebnis unter Bundeskanzler-Videobewachung trotzdem nicht an. Also versuche ich es jetzt mal mit einem Reframing: Menschen haben mir einfach so geholfen, mein Fahrrad zurück zu erkämpfen. Und zwar Fußgänger. Aus der Gen Z. Und das mitten in Berlin. Danke.
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