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Fahrradfahren auf der Berliner SonnenalleeGeisterbahn und Autowahn

Unser Autor hat es gewagt, mit dem Rad über die Sonnenallee zu fahren. An Hundekot, Schlaglöchern und SUVs vorbei. Er lebt noch.

Selbst im grün regierten Berlin braucht Fahrradfahren Mut Foto: Jens Gyarmaty

Berlin taz | Dass die Bevölkerung die Verkehrswende längst selbst eingeleitet hat, merkt man daran, dass es gerade im Sommer auf den schmalen Radwegen zu eng wird. Doch langsam zieht auch die Berliner Politik nach.

Sonnenallee vor der Wahl

Berlin wählt. Schon wieder. Die vergangene Wahl war ungültig. Niemand wundert sich darüber. Berlin gilt als kaputt. Geht überhaupt was in der Stadt?

Seit dem Jahreswechsel ist die Sonnenallee im Bezirk Neukölln in aller Munde. Für die einen ist sie Ausdruck einer virilen Großstadt, andere haben Angst, wenn sie nur an den vielen arabischen Läden vorbeigehen. Wer die oft arg aufgeregte Debatte um Clans und Paschas verfolgt, muss glauben, an der Sonnenallee entscheide sich das Wohl und Wehe aller Integrationsbemühungen.

Und sonst? Die Straße hat noch mehr Berlin zu bieten. Sie beginnt am Hermannplatz, wo ein gigantisches Kaufhausprojekt geplant wird. Das Gentrifizierungsgespenst geht um. Und sie endet da, wo früher Ostberlin war. Also: Schaut auf diese Straße!

Die taz widmet deeer Sonnenallee ein Dossier zur Berlin-Wahl.

Alle Texte finden Sie hier taz.de/sonnenallee

Sogar in Neukölln. Dort zeigen sich im Zuge einer veränderten Bevölkerungsstruktur verschiebende Mehrheiten erste Effekte. Zwar misstraut man besonders im Osten den Bundesgrünen, weil die nicht schnallen wollen, dass Putin der Freund aller Kinder ist. Doch für grüne Basics in der Lokalpolitik langt es allemal: Runkelrüben, Ökostrom und eben Fahrrad.

Während andere Magistralen des Bezirks wie Hasenheide, Karl-Marx-Straße und Kottbusser Damm sukzessive mit breiten Fahrradstreifen befriedet wurden, bleibt die Sonnenallee jedoch als anachronistisches Symbol für das alte Westberlin erhalten – eine Geisterbahn des Autowahns.

Bubi Scholz, Brigitte Mira und Eberhard Diepgen; Bahnhof Zoo, Hertha BSC und „Mampe Halb & Halb“. Man rauchte im Bus, und die Gammler auf dem Fahrrad fuhr man einfach um. Das Leben einer Radfahrerin zählte für die Altparteien nie mehr als das einer lästigen Mücke. Radfahrer störten, schadeten der Autoindustrie, waren keine vollwertigen Bürger; man hätte ihnen eigentlich das Wahlrecht entziehen müssen.

Fünf Kilometer Verkehrsmuseum

Im Grunde ist die Sonnenallee ein befahrbares, interaktives Verkehrsmuseum auf knapp fünf Kilometern Länge. Das erste Teilstück am Hermannplatz bildet die 1950er Jahre ab: Der Verkehr fließt, komplett ohne Fahrradwege.

Als nächstes das neunzehnte Jahrhundert: Ab der Pannierstraße verengt sich die Fahrbahn weiter auf circa eindreiviertel Spuren, die nicht mal mehr durch Markierungen voneinander abgegrenzt sind. Dafür kann man überall parken, am Rand, auf dem Mittelstreifen und in zweiter Reihe. Der Autor fühlt sich wie ein Fuchs bei der Parforcejagd und fragt sich, ob leben­sgefährliche Vor-Ort-Recherche im angemessenen Verhältnis zu einem Artikel für 76,80 Euro steht.

Zwar ist die Sonnenallee hier arabisch geprägt, doch zu sarrazinesken Silvester-Gedächtnis-Reflexen taugt das wenig. Denn die Mischung aus schlechtem und aggressivem Fahrverhalten ist urdeutsch. Dem Berliner mag sie überdies als eskapistische Lebensflucht aus der protestantischen Disziplin dienen, um auch einmal über die Stränge zu schlagen und die Obrigkeit zu verspotten.

Die Autofahrt ist der Karneval des Preußen, das Abdrängen von Radfahrern sein mit Senf gefüllter Pfannkuchen und der SUV sein Motivwagen. Wo sich Migrantenkinder dieser Sitte mit lobenswertem Eifer annehmen, kann ihnen das kaum zum Vorwurf gemacht werden. Allerorten werden sogenannte Integrationsleistungen von ihnen verlangt, und dann soll es auch wieder nicht recht sein?

Das Ende der Weserstraße

Noch extremer präsentiert sich die parallel verlaufende Weserstraße, die vermutlich längste Nebenstraße der Welt. Am Anfang eine huppelfrei gentrifizierte Fahrradstraße, auf der kein Tropfen aus dem im Lastenrad transportierten Grünkohl­smoothie schwappt, fadet sie am Ende in eine absurde Trümmerwüste mit der euphemistischen Beschilderung „Rad u. Gehwegschäden“ aus. Die Mittelalterabteilung.

Doch zurück zur Sonnenallee. Erst kurz vor dem S-Bahn-Ring beginnt so ein buckliger Oldschool-Radweg, der an der Planetenstraße jedoch schon wieder endet, und zwar für den Rest des Straßenzugs.

Vielleicht ist das ja auch alles eine Idee der Grünen, denken wir, während wir uns aufrappeln, um Blut und Hundekot von der zerrissenen Hose zu wischen. Bestimmt soll die Sonnenallee dem Wahlvolk einfach nur als Mahnmal einer präzivilisatorischen Verkehrspolitik und deren Folgen erhalten bleiben.

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12 Kommentare

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  • @RERO und ich sind uns einig: dass muss ich im Kalender markieren ;-D

  • " Zwar misstraut man besonders im Osten den Bundesgrünen, weil die nicht schnallen wollen, dass Putin der Freund aller Kinder ist."



    Meiner Meinung nach übelste Polemik.

  • Die Sonnenallee erinnert zumindest in Teilen an das, was in Nordamerika als Stroad bekannt ist: a street, that is built like a road. Eine Straße, die zum parken genutzt wird, viele ein- und Ausfahrten hat und gleichzeitig breit ausgebaut ist. Letzteres suggeriert dem Autofahrer unterbewusst, dass er hier schnell fahren kann. Durch die ganzen Abzweigungen und parkenden Autos wird eine solche Straße aber selbst für Autofahrer scheiße. @tomás zerolo hat schon passenderweise die Reizüberflutung erwähnt.

    Was für Autofahrer schon schlecht ist, ist für Radfahrer schlicht unzumutbar.

    Disclaimer: ich war noch nie auf der Sonnenallee, nur virtuell auf Streetview: maps.app.goo.gl/Lof3FNeRdEfQfCW17

  • Grünes und fundamentalistisch verbrämtes Wunschdenken. Realitätsferne in Bezug auf die Nöte und Notwendigkeiten einer Großstadt anstelle pragmatischen Sachverstandes. Die aktuelle Studie der Naumann Stiftung zeigt, was die Mehrheit der Berliner Bevölkerung in Bezug auf das sog. Mobilitätsgesetz wirklich denkt. Und das dann immer wieder beispielhaft bemühte Stigma des bösen SUV und seines Fahrers verhallt glücklicherweise zunehmend verständnislos in den Großstadtschluchten unserer Hauptstadt. Nur damit keine Stereotypen aufkommen - ich besitze seit 4 Jahren kein Auto mehr.

  • Wenn man nicht viel rum kommt mit dem Rad, dann kommen solche Geschichten dabei raus. Ohne Zweifel ist die Sonnenallee in keiner Weise fahrradgerecht. Stadteinwärts geht es aber schon deutlich besser, und da ein großer Teil mittlerweile Tempo-30-Zone ist, "schwimmt" man als Fahrradfahrer auch eher im Verkehrsfluß mit.



    Weit gruseliger empfinde ich da zum Beispiel streckenweise die Fahrradwege entlang der B1. Auch die Schönhauser Allee ist keine gelungene Radstrecke. Mit der prominenten Engstelle zwischen Gneiststraße und Buchholzer Straße - 1,5 Meter für Fußgänger und Fahrradfahrende zusammen. Man schafft es an der Stelle wohl nicht, den Grundstücksbesitzer einen Meter seines Vorgartens zu enteignet.

    • @Mopsfidel:

      Enteignungen funktionieren halt nur, solange es um ganze Dörfer geht. Man muss nur Bodenschätze darunter vermuten.

  • Was hier etwas schelmisch dargestellt wird ( "Das Leben einer Radfahrerin zählte den Altparteien nie mehr als das einer lästigen Mücke. Radfahrer störten, schadeten der Autoindustrie, waren keine vollwertigen Bürger")..



    ..ist leider nicht ganz von der Hand zu weisen...und die Aggressivität mancher Autofahrer nimmt, auch Dank der Signale von Hr Wissing wieder zu..

    Radfahrende wurden/werden z.T. immer noch als Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse gesehen und behandelt.

    Das liegt zum großen Teil am "System Auto", indem man sich eben in einer abgeschotteten Blase befindet, sich dank Masse und PS aber sehr stark fühlt..und oftmals gar nicht mit bekommt, wenn man Leben und Gesundheit Anderer gefährdet.



    Es liegt aber auch an dem politischen Klima was drum herum aufgebaut wird. Und in dieser Hinsicht bringt uns Hr Wissing ein Stück zurück in eine üble Vergangenheit..(man kann heute schon vorhersagen, daß sich in den kommenden Jahren die Anzahl getöteter Fußgänger und Radfahrer erhöhen wird)..

    Das Verhältnis von Autonutzern und einfachen Menschen im Strassenverkehr, hat durchaus faschistische Züge und erinnert, im Bezug auf die Verteilung der Sicherheitsinteressen ein wenig an Apartheitsregime..

    Wenn diesem System Jahr für Jahr tausende Menschen geopfert werden, damit es ein Teil der Bevölkerung sicher und bequem hat, dann ist zutiefst ungerecht...und das nicht mit aller Macht zu verändern, ist schlicht und einfach ein Verbrechen.!!

    • @Wunderwelt:

      "Das Verhältnis von Autonutzern und einfachen Menschen im Strassenverkehr, hat durchaus faschistische Züge und erinnert, im Bezug auf die Verteilung der Sicherheitsinteressen ein wenig an Apartheitsregime.."



      Dem möchte ich mich ausdrücklich und ohne Ironie anschließen, danke.

      • @Quastenflosser:

        Hilft es Ihnen denn wirklich weiter, Faschismus und Apartheid zu relativieren?

        Übrigens soll Wissing der Erfinder des 9-Euro-Tickets gewesen sein, wie die ZEIT schrieb.

  • Eine wunderbare Beschreibung dieses elendigen Flickwerks post-römischer Verkehrspolitik!



    Immerhin, Sie leben noch, um Ihre 76,80 Euro in den nächsten Grünkohl-Smoothie und die Reinigung Ihrer Kleidung investieren zu können. Eine Nullsummenfahrt?

  • Ich hatte ja das Glück (nein kein Funke Ironie), zehn Jahre in Berlin leben zu dürfen. Fahrradfahren war am Anfang... gewöhnungsbedürftig (wie so einiges).

    Nach einer Weile habe ich verstanden, dass die meisten Autofahrer*innen (wie ich) einfach von der Reizüberflutung überfordert sind. Und, sollte es mal eng werden, heilfroh sind, mich nicht plattgefahren zu haben. Tatsächlich habe ich sie als weit unaggresiver empfunden als die in dieser kleinen süddeutschen Stadt, in die ich zurückgekehrt bin (auch hier ist es besser geworden: zehn Jahre machen einen Unterschied).

    Danach wusste ich: hellwach, immer deutlich machen, was ich vorhabe, und im Zweifelsfall deutlich in die Mitte der Fahrbahn. Bloss nicht dort an den Rand, wo ich nicht störe, weil man mich nicht sieht.

    Die einzigen Unfälle in zehn Jahren, die ich in Berlin hatte waren mit mir selbst (Schlagloch nicht gesehen).

    Die Fahrradstreifen nach Covid sind natürlich ein Traum, auch (oder gerade!) wenn sie die AfD nicht mag :-)

    • @tomás zerolo:

      Ich bin nicht häufig Ihrer Meinung, aber in diesem Fall teile ich sie voll.

      Ich würde zudem behaupten, der Adressat für Agressionen der Autofahrer sind in Berlin vorangig andere Autofahrer.

      Den einzigen krassen Unfall, den ich in vielen Jahren hatte, war mit einem anderen Radfahrer. Außerdem habe ich mit mal wegen Straßenbahnschienen hingepackt.

      Ich fahre aber auch gern in der Mitte der Fahrbahn und achte darauf, dass man mich nicht übersieht.