Fachleute über Erinnerungskultur: „Wir müssen Erinnern global denken“

Auf den Demos gegen rechts waren wenige Migranten. Martin Link vom Flüchtlingsrat S-H und Heino Schomaker von der LAG Gedenkstätten über mögliche Gründe.

"Wie viele Hitler-Dokus braucht ihr noch?" steht auf einem Plakat bei der Demonstration gegen Rechtsextremismus.

Mehrheitsgesellschaft auf der Straße: Demo gegen rechts am vergangenen Wochenende in Hamburg Foto: Jonas Walzberg/dpa

taz: Herr Link, Herr Schomaker, an den aktuellen Demos gegen rechts nehmen vergleichsweise wenige Menschen mit Flucht­erfahrung oder nicht biodeutsch gelesene Personen teil, auch die Red­ne­r*in­nen stammen überwiegend aus der Mehrheitsgesellschaft. Ihre These lautet, das läge auch daran, dass hierzulande eine diverse und plurale Erinnerungskultur fehlt. Wie könnte die aussehen?

Heino Schomaker: Sicher gibt es viele persönliche Gründe, warum Menschen demonstrieren oder eben nicht. Aber die Art, wie in Deutschland Erinnerungskultur praktiziert wird, ist immer noch ein sehr abgeschlossenes Projekt biodeutscher Akteur*innen, mit Fokus auf der NS-Zeit. Natürlich hat die nach wie vor eine zentrale Bedeutung, aber eine Einwanderungsgesellschaft muss die Zugewanderten einbeziehen, ihre Geschichten und die ihrer Herkunftsländer.

Würde das nicht bedeuten, den Holocaust mit anderen Taten zu vergleichen und gleichzusetzen?

Martin Link: Die Debatte über die historische Einmaligkeit des Holocaust ist sehr deutsch, Eingewanderte können das oft nicht nachvollziehen. Dass die Mehrheitsgesellschaft versucht, einzelne Gruppen auszumerzen, ist auch eine Erfahrung in der Geschichte von Einwander*innen. Sie sind irritiert, wenn wir den Eindruck vermitteln, ihre Historie habe weniger Gewicht als unsere. Ja, der Holocaust hat mit der industriellen Vernichtung von Millionen Menschen eine andere Dimension, aber Genozid bleibt Genozid. Wenn wir zu einem pluralen Erinnern kommen wollen, dürfen wir in der Einwanderungsgesellschaft die Erfahrungen, die andere mitbringen, nicht abwerten.

1955 in Hamburg geboren, leitete die Heinrich-Böll-Stiftung in Schleswig-Holstein und ist ehrenamtlicher Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein.

Schomaker: Wir müssen Erinnern global denken. Ich verstehe das „Nie wieder!“ als universellen Ausdruck für Menschenrechte. Ganz konkret: Ich trete für den Schutz jüdischen Lebens und das Existenzrecht Israels ein und kann gleichzeitig die katastrophale Situation der Menschen im Gazastreifen beklagen und über Kolonialismus und seine Folgen diskutieren.

Wie könnte so eine Haltung entstehen?

Link: Es gibt bis dato kaum politisches Bewusstsein dafür, dass es in einer diversen Gesellschaft eine gemeinsame Vergewisserung der Geschichte geben muss. Einwanderung soll einen Bedarf befriedigen, etwa dem Mangel an Arbeitskräften abhelfen. Aber damit Zugewanderte und Mehrheitsbevölkerung eine Zukunftsperspektive entwickeln können, kann es helfen, sich auf gemeinsame historische Wurzeln und Bezüge zu besinnen. Darüber wollen wir ins Gespräch gehen und hoffen auf Förderung.

Wofür brauchen Sie die?

58, wuchs als Kind von Vertriebenen auf der Insel Neuwerk auf. Der gelernte Sozialpädagoge ist seit fast 30 Jahren Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein.

Schomaker: Ich sage Ihnen ein Beispiel: Der Flüchtlingsrat und die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein möchten Migranten-Selbstorganisationen einladen und gemeinsam überlegen, wie wir die Strukturen und Inhalte der Erinnerungsarbeit öffnen und Erinnerungskultur weiterentwickeln können. Dahinter steht keine Kritik an den Ak­teu­r*in­nen der Erinnerungsarbeit und der historisch-politischen Bildung, die – oft ehrenamtlich – eine sehr gute Arbeit machen. Aber unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden, und das muss sich auch in ihrer Erinnerungskultur ausdrücken.

Link: Dafür müssen wir die Gedenkstätten für Eingewanderte identifizierbar machen. Heute sind das sehr teutonisch geprägte Orte, orientiert auf die deutschsprachige Zielgruppe. Daher bilden sich die Erfahrungen aus anderen Ländern eher weniger in den Gedenkstätten ab. Das sollte sich im Zuge einer einwanderungsgesellschaftlichen Erinnerungsarbeit ändern, schließlich reicht die Geschichte des Faschismus über Europa hinaus. Ich erhoffe mir durch solche Debatten mehr wechselseitigen Respekt im Zusammenleben und einen gemeinsamen Blick auf die Welt.

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Das ist die langfristige Sicht – aber wie gelingt es, dass die aktuellen Demos mehr Menschen anziehen?

Schomaker: Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie willkommen und wichtig sind. Bei der Demo in Kiel am vergangenen Samstag gab es Beiträge von Schwarzen Personen, die neue Perspektiven eröffnet haben. Das ist von zentraler Bedeutung, das ist Diskursqualität in der Einwanderungsgesellschaft.

Für große Teile der Mehrheitsgesellschaft scheint das Treffen in Potsdam von AfD-Funktionären mit Rechtsextremen, bei dem über die „Remigration“ großer Bevölkerungsgruppen gesprochen wurde, ein Weckruf gewesen zu sein. Personen, die nicht biodeutsch gelesen werden, erleben aber ständig Alltagsrassismus. Nehmen Betroffene der Mehrheitsgesellschaft ihre Entrüstung nicht ab?

Link: Darüber will ich nicht spekulieren. Aber bei den Demonstrationen wollen sich in erster Linie Deutsche von dem abgrenzen, was da angeblich in ihrem Namen im braunen Hinterzimmer vorbereitet wird. Dass Einwandernde, die regelmäßig Alltagsrassismus, restriktive Politik und eine ausgrenzende Bürokratie erfahren, nicht mit wehenden Fahnen auf den Markt antirassistischer Bekenntnisrituale der Mehrheitsgesellschaft ziehen, sollte uns nicht überraschen. Solange Integration nur formal abläuft, stets im Fadenkreuz der Behörden, führt das nicht zu positiver Identifizierung, sondern nur zu einer defensiven Strategie der Fehlervermeidung. Das Ziel ist, dass alle hier Lebenden das Land und die Zukunft als kollektives Projekt verstehen. Das ließe sich über die Brücke der gemeinsamen Aneignung der Geschichte erreichen.

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