FAQ zu maroden Brücken: Abreißen und neu bauen? Oder gibt es eine bessere Strategie?
Deutschlands Infrastruktur altert, und besonders die Brücken sind betroffen: etwa 50.000 gelten als marode. Das könnte jedoch auch ganz anders sein.

Inhaltsverzeichnis
- Mal wieder Verkehrschaos in Berlin. Warum sollte mich das interessieren?
- Warum sind so viele Brücken in einem derart schlechten Zustand?
- Weshalb wurden denn viele Brücken kaum gewartet?
- Nun gibt es ja bald die vielen Milliarden aus dem Sondervermögen Infrastruktur der Bundesregierung. Lassen sich damit nicht einfach alle maroden Brücken abreißen und neu bauen – und das Problem ist gelöst?
- Wie könnte ein zukunftstauglicher Umgang mit Brücken und öffentlicher Infrastruktur aussehen?
- Und wenn doch hier und da neu gebaut werden müsste?
- Kann die marode Brückeninfrastruktur auch eine Chance sein, vom bislang dominierenden Autoverkehr in Deutschland wegzukommen?
- Berücksichtigt die Bundesregierung diese Erkenntnisse denn schon in ihrer Verkehrsplanung?
Mitte März entdeckten Ingenieure bei einer Routinekontrolle, dass sich ein Riss an der Westendbrücke der Berliner Stadtautobahn A 100 massiv ausgeweitet hat. Sie entnahmen Bohrproben und stellten fest: akute Einsturzgefahr. Das Bauwerk darf nicht mehr befahren werden, Abriss und Neubau sind unvermeidbar. Da unter der Brücke die Schienen der Ringbahn verlaufen, musste auch der S-Bahn-Verkehr unterbrochen werden. Für Berlin ein infrastruktureller Schwerbelastungstest. Die Westendbrücke im Stadtteil Charlottenburg gehört mit 90.000 Fahrzeugen pro Tag zu den meistbefahrenen Strecken Deutschlands. Die üblicherweise eng getaktete Ringbahn befördert täglich 80.000 Menschen.
Mal wieder Verkehrschaos in Berlin. Warum sollte mich das interessieren?
Die Westendbrücke steht exemplarisch für die marode Brückeninfrastruktur Deutschlands. Eine kürzlich von der verkehrspolitischen Denkfabrik Transport and Environment veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass für bis zu 36 Prozent der Brückenfläche im deutschen Fernstraßennetz ein Abriss unumgänglich sei. Bei den kommunalen Brücken schätzen die Studienautor:innen den Sanierungsbedarf ähnlich hoch ein.
Warum sind so viele Brücken in einem derart schlechten Zustand?
„Die Brücken, die heute kaputtgehen, kommen alle aus derselben Zeit“, sagt Benedikt Heyl von Transport and Environment. Zwischen den 1960er und 1980er Jahren kam es zu einer Hoch-Zeit des Autobahn- und Brückenbaus. Nun, 50 bis 70 Jahre später, sind viele Bauwerke am Ende ihrer Lebensdauer angelangt – schon, denn die planmäßige Nutzungsdauer moderner Brückenbauten beträgt eigentlich 100 Jahre.
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Doch die damaligen Ingenieur:innen konnten die Menge an Autos und Schwerlastverkehr, die heute über die Brücken Deutschlands rollt, nicht absehen. Bei derart hohen Verkehrsbelastungen, wie sie heute üblich sind, entstünden schnell „Probleme mit den sogenannten Ermüdungsbeanspruchungen“, erklärt Steffen Marx, Brückenexperte von der TU Dresden. Die in den Brücken verbauten Stahlseile seien wie Büroklammern: „Wenn sie zwanzig Mal umbiegen, dann brechen sie.“
Bei Brücken seien es eben nicht nur zwanzig, sondern viele Millionen Mal. Jede Überfahrt verursacht Schwingungen, biegt sie ein kleines bisschen. Entscheidend dabei ist, wie stark die Schwingungen sind. „Nur 10 Prozent Lasterhöhung gegenüber einem bestimmten Grenzmaß kann die Lebenserwartung von Brücken von hundert Jahren auf eines verkürzen“, sagt Marx. Dazu kommt ein weiteres Problem: Die meisten Brücken wurden jahrzehntelang kaum gewartet.
Weshalb wurden denn viele Brücken kaum gewartet?
Schuld sei eine Verkehrspolitik, die zu sehr auf Neubau und zu wenig auf Instandhaltung setzt, erklärt Steffen Marx. „Die Strategie heißt: Verschleißen lassen, bis die Brücke kaputt ist.“ Bei modernen Bauten handele es sich fast immer um Spannstahlkonstruktionen. Dabei werden die Stahlseile im Beton verspannt, wodurch deutlich höhere Abstände zwischen den Pfeilern möglich sind.
Bei einer intakten Brücke sind die Stahlseile vollständig von Beton ummantelt. Bildet dieser aber Risse, können die Stahlseile anfangen zu rosten und verlieren Stabilität – die Brücke ist einsturzgefährdet. „Da reicht eine kaputte Abdichtung, durch die Feuchtigkeit in den Beton eintritt“, sagt Marx.
Dichtungen ausbessern oder Risse schließen, also frühzeitige Reparaturmaßnahmen, die verhindern, dass Feuchtigkeit eintritt, könnten die Lebensdauer der Bauwerke deutlich verlängern. Doch würden diese selten durchgeführt, sagt Marx. Zwar werden die Brücken regelmäßig durch Ingenieur:innen inspiziert, Maßnahmen jedoch meistens erst dann ergriffen, wenn ihr Abriss unausweichlich ist.
Nun gibt es ja bald die vielen Milliarden aus dem Sondervermögen Infrastruktur der Bundesregierung. Lassen sich damit nicht einfach alle maroden Brücken abreißen und neu bauen – und das Problem ist gelöst?
Verschleiß bis zum Abriss ist die teuerste und unsicherste Art, mit Bauwerken umzugehen. Während mögliche Risse im Beton bei Inspektionen schnell erkannt werden können, bleiben Ermüdungserscheinungen des Stahls oft unentdeckt. Die Prüfer:innen untersuchen die Brücken in der Regel nur optisch. Ob die Stahlseile im Innern des Betons rissig sind, können sie so nicht feststellen.
Welche Gefahr diese Ungewissheit bedeutet, zeigte der Einsturz der Dresdner Carolabrücke im September des vergangenen Jahres. Völlig unerwartet und im laufenden Betrieb stürzte das 375 Meter lange Bauwerk ein. Nur durch Glück kam niemand zu Schaden.
Der Ersatzneubau einer Autobahnbrücke ist zudem aufwendig und langwierig. Bei der Berliner Westendbrücke wird es noch mindestens zwei Jahre dauern, bis Autofahrer:innen sie wieder nutzen können. Dabei setzten der Bund, Berlin und die Autobahn GmbH schon alle Hebel in Bewegung, um die auf vier Jahre angedachte Bauzeit zu reduzieren. Die 2022 angepeilten Kosten von 45 Millionen Euro dürften sich heute deutlich erhöht haben. Für sämtliche bundesweit sanierungsbedürftigen Brücken beläuft sich der Investitionsbedarf auf über 100 Milliarden Euro.
Die etwa 50.000 maroden Brücken in Deutschland abzureißen und neuzubauen wäre zudem auch für das Klima ein großes Problem. Die Hunderttausende Tonnen Beton und Stahl, die in den alten Bauwerken verbaut sind, müssten für Neubauten wieder produziert werden. Besonders bei der Zementproduktion werden aber große Mengen an Treibhausgasen freigesetzt. Insgesamt ist die Bau- und Rohstoffindustrie in Deutschland für 10 Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich. Die Klimaziele des Pariser Abkommens einzuhalten, erfordert, so wenig wie möglich neu zu bauen.
Wie könnte ein zukunftstauglicher Umgang mit Brücken und öffentlicher Infrastruktur aussehen?
Für den Brückenexperten Steffen Marx liegt der Schlüssel einer nachhaltigen Infrastrukturpolitik darin, die Lebensdauer der Bauwerke so weit wie möglich auszudehnen. Wie das möglich sein könnte, untersuchen Forschende der TU Dresden gerade in Bautzen. Auf dem Firmengelände der Hentschke Bau GmbH haben sie eine 45 Meter lange Forschungsbrücke errichtet, die in ihrer Bauweise modernen Autobahnbrücken gleicht.
Über die Brücke fährt ein Schwerlastcontainer auf Schienen, der die Verkehrsbelastung simulieren soll. Unter der Brücke sind rund 200 Sensoren installiert. Sie sammeln rund um die Uhr Daten über den Zustand des Bauwerks: Dehnt der Beton sich aus, wird er rissig, feucht oder reißen die Stahlseile? Verarbeitet durch KI, sollen Schäden so frühzeitig erkannt werden. Dann könnte kostengünstig gegengesteuert werden, bevor ein Abriss unumgänglich ist. „Das sind ganz wichtige Zukunftstechnologien“, sagt Marx. „Wir könnten uns damit viele unnütze Baumaßnahmen ersparen.“
Und wenn doch hier und da neu gebaut werden müsste?
Umweltverbände und Mobilitätsexperten fordern angesichts des hohen Sanierungsbedarfs sämtliche Neubau- und Erweiterungsprojekte von Autobahnen einzustellen. Bei den unvermeidbaren Ersatzneubauten sollten Planer:innen den Ressourceneinsatz optimieren. Der Thinktank Transport and Environment empfiehlt in seiner Studie zudem, in Ausschreibungen neuer Bauprojekte eine verbindliche Quote für den Einsatz CO₂-frei produzierten grünen Stahls und Zements festzuschreiben.
Kann die marode Brückeninfrastruktur auch eine Chance sein, vom bislang dominierenden Autoverkehr in Deutschland wegzukommen?
Ja. Befahrbare Verkehrswege führen zwar kurzfristig zu weniger Stau, langfristig vor allem aber zu mehr Verkehr. Diese grundlegende Erkenntnis nennen Verkehrsforscher:innen „induzierten Verkehr“. Weniger automobile Infrastruktur zu bauen und mehr in Schiene und ÖPNV zu investieren ist im Umkehrschluss der effektivste Weg, die Verkehrsmengen auf der Straße zu verringern.
Das offenbart auch das Beispiel der Berliner Westendbrücke. Die Brücke gehört mit 90.000 Fahrzeugen pro Tag zu den meistbefahrenen Strecken Deutschlands. Zum befürchteten „Verkehrskollaps“ in den umliegenden Kiezen durch die Sperrung der A 100 und der Ringbahn kam es dort nicht.
Stattdessen „verpuffte“ ein Großteil des Verkehrs nach einer Weile: Stellen Autofahrer:innen fest, dass es auf einer gewohnten Route wegen Sperrung oder Stau nicht mehr flüssig läuft, suchen sie Alternativen. Sie fahren nicht nur Umwege, sondern steigen auch auf andere Verkehrsträger um oder verzichten vollends auf den Weg. In Berlin fordern Grüne wie auch der BUND deshalb, die Westendbrücke mit weniger Fahrspuren als zuvor neu aufzubauen.
Berücksichtigt die Bundesregierung diese Erkenntnisse denn schon in ihrer Verkehrsplanung?
Bislang nicht. Der Bundesverkehrswegeplan orientiert sich immer noch an prognostizierten Verkehrsmengen. Diese steigen durch den Zubau neuer Autobahnen, sodass aus dem Planungsinstrument eine selbsterfüllende Prophezeiung wird. Bis 2030 sollen noch 180 Milliarden Euro in den Neubau von Fernstraßen und Brücken fließen.
Mit Lebensdauern von 50 bis 100 Jahren zementieren diese nicht mehr zeitgemäße verkehrspolitische Vorstellungen weit in die Zukunft hinein. Gabriel Kapfinger, Verkehrsexperte vom BUND, mahnt deshalb: Die entscheidende Frage, welche Verkehrsinfrastruktur mit dem Schutz von Klima und Natur vereinbar ist und wie wir als Gesellschaft mobil sein wollen, müsse politisch verhandelt werden.
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