Explosion in Beirut: Das verfluchte Schiff
Nach der Detonation in Libanons Hauptstadt Beirut lässt sich der Weg von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat zunehmend nachvollziehen. Risiken waren bekannt.
„Eigentlich hätte das Schiff nie in Beirut ankommen sollen“, sagt Swetlana Fabrikant gegenüber der taz. Rund 1.500 Kilometer vom Libanon entfernt, im ukrainischen Odessa, leitet Fabrikant die Stiftung Assol, die sich für die Interessen von Seeleuten und ArbeitsmigrantInnen einsetzt. Vor Jahren, als die Tragödie von Beirut ihren Anfang nahm, hatte Fabrikant für die vorwiegend ukrainischen Seeleute der „Rhosus“ gekämpft.
Übereinstimmenden Angaben von Fabrikant und Juristen einer Anwaltskanzlei zufolge, die mit dem Fall befasst war, machte sich die „Rhosus“ im Herbst 2013 auf den Weg von Georgien nach Mosambik. Dort wartete eine Firma, die kommerzielle Sprengstoffe herstellt, auf das Ammoniumnitrat, wie die New York Times am Mittwoch berichtete. Der Schiffseigner, der Russe Igor Grechushkin aus Chabarowsk, hatte das Schiff erst ein Jahr zuvor gekauft. „Die,Rhosus' war sehr alt, aber sie fuhr noch“, erinnert sich Fabrikant.
Allerdings sollte sie nie in Mosambik ankommen. Die „Rhosus“ „ist in Beirut gestrandet“, heißt es in einem auf Juli 2014 datierten Eintrag auf der Webseite des Unternehmens Fleetmon, das Positionsdaten und Bewegungen von Schiffen beobachtet. „Mit Ammoniumnitrat beladenes Schiff war für ein anderes Land bestimmt. Der Grund, warum sie Beirut anlief, ist unklar, möglicherweise für Lieferungen oder aufgrund mechanischer Probleme.“ In Beirut endete die Fahrt. Für immer.
Für Teile der Besatzung aber begann ein Drama. Als die Seeleute 2013 das Schiff bestiegen, hatte sie niemand über schwere Mängel in Kenntnis gesetzt, berichtet Fabrikant. Auch dass die Vorgänger-Crew vom Eigner keinen Lohn erhalten hatte, sei ihnen nicht bekannt gewesen. „In Libanon wollten sie zunächst notwendige Reparaturen vornehmen lassen.“
Hungernde Matrosen
Doch in Beirut habe die Mannschaft erkannt, dass Grechushkin zahlungsunfähig war und sich für sein Schiff nicht mehr zuständig fühlte. Fabrikants Schilderung deckt sich mit dem Fleetmonbericht, dem zufolge sowohl der Schiffseigner als auch der Besitzer des Ammoniumnitrats das Schiff mitsamt Ladung aufgegeben hatten.
Für Teile der Crew war die Reise damit noch nicht beendet. „Die meisten Besatzungsmitglieder außer dem Kapitän und vier Besatzungsmitgliedern wurden repatriiert“, das heißt in die Heimat zurückgeführt, schrieben zwei JuristInnen des Anwalts-Netzwerks shiparrested.com, die noch 2015 mit dem Fall befasst waren.
Die libanesischen Behörden hätten den verbliebenen Seeleuten erklärt, sie dürften das Schiff erst verlassen, wenn angefallene Liegegebühren beglichen seien, sagt Fabrikant. Die Seeleute saßen fest, fühlten sich wie „Geiseln“, wie Boris Prokoschew, russische Kapitän der „Rhosus“, es ausdrückte.
Fotos der Seeleute mit Plakaten wie „Libanesen, lasst uns nach Hause“ gingen 2014 durch die ukrainische Presse. Im April 2014 ging Kapitän Prokoschew an die Öffentlichkeit: „Die Mannschaft hungert. Am 4. April haben wir für zwei Wochen Lebensmittel bekommen. Jetzt ist schon der 25. April und wir haben noch keine neue Essensrationen bekommen.“ Im Sommer schließlich konnten die Seeleute ihre Heimreise antreten.
Das verlassene Schiff
Der auf Schifffahrt spezialisierte Journalist Mikhail Voytenko, Autor des Fleetmonberichts, hingegen vermutete damals für die Festsetzung der Crew einen anderen Grund als angefallene Liegegebühren: „Die Hafenbehörden möchten nicht mit verlassenen Schiffen zurückgelassen werden, die mit gefährlicher Fracht und Sprengstoff beladen sind.“
Dass mit der Ladung der „Rhosus“ nicht zu scherzen war, ist also nicht erst seit der Katastrophe vom Dienstag bekannt. Auch die Juristen von shiparrested.com schrieben bereits 2015: „Aufgrund der Risiken, die mit dem Zurückhalten des Ammoniumnitrats an Bord verbunden sind, haben die Hafenbehörden die Ladung in die Lager des Hafens abgeladen“ – wahrscheinlich direkt in Hangar 12.
Auch Aussagen des Chefs der libanesischen Zollbehörde, Badri Daher, weisen darauf hin, dass die Gefahr in weiten Kreisen bekannt war. Zollmitarbeiter hätten mindestens sechs Schreiben verfasst und explizit vor der Ladung gewarnt, berichtet unter anderem der Nachrichtensender Al Jazeera.
Nach der Explosion – Eine Familie in Beirut
Den Recherchen zufolge schlug der Zoll drei Optionen vor: das Ammoniumnitrat exportieren, es der libanesischen Armee übergeben oder es an ein Privatunternehmen verkaufen.
Eine Antwort aber blieb aus, bis es zu spät war. Recherchen des Investigativ-Netzwerks Bellingcat zufolge brach am Dienstag zunächst in einer Lagerhalle, offenbar dem Hangar 12, ein Feuer aus. In lokalen Medien war als Ursache von Schweißarbeiten die Rede, was bislang aber nicht bestätigt ist. Es folgten mehrere kleine Explosionen und schließlich eine Detonation, wie sie die Mittelmeerstadt selbst im libanesischen Bürgerkrieg noch nicht erlebt hat.
Ist die Hisbollah im Spiel?
Präsident Michel Aoun hat Aufklärung versprochen, doch die Fragen, die sich stellen, gehen ans Mark des libanesischen Staates: War aufseiten der Behörden tatsächlich nur Verantwortungslosigkeit im Spiel? Oder gab es finanzielle Interessen? Hatte möglicherweise die Hisbollah Interesse an dem Material? Die Miliz, die im Libanon als politische Partei auch an der Regierung beteiligt ist, hatte nach israelischen Informationen Ammoniumnitrat auch in Deutschland gelagert, wie die Times of Israel im Mai berichtete. Der 4. August 2020 könnte den Libanon noch über Jahre hinweg beschäftigen.
Und die „Rhosus“, die letztendlich ohne Ammoniumnitrat weiter vor Beirut ankerte? „Das Schiff gibt es nicht mehr“, sagt Swetlana Fabrikant. Es sei vor einigen Jahren vor der Küste Beiruts versunken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Klimaschützer zu Wahlprogrammen
CDU/CSU und SPD fallen durch, Grüne punkten nur wenig