Expertin über Fabriken in Kambodscha: „Große Marken wälzen die Schuld ab“

Textilmüll durchläuft in Kambodscha ein informelles Netzwerk. Nachhaltigkeits-Expertin Hanna Guy fordert Markenhersteller zum Handeln auf.

Frauen heben eine Stoffbahn mit Wildkatzenmuster an Nahmaschinen

Textilarbeiterinnen nähen für H&M in Kambodscha Foto: Samrang Pring/reuters

taz: Frau Guy, wie sieht der Arbeitsalltag in einer Bekleidungsfabrik in Kambodscha aus?

Hanna Guy: Wir sprechen hier von Tausenden von Menschen, die Schulter an Schulter in einem Gebäude arbeiten. Es gibt zu wenige Toiletten, Pausen und Möglichkeiten, sich auszuruhen und zu essen. 10-Stunden-Schichten plus Überstunden sind Standard, sechs Tage die Woche. Der Mindestlohn in der Bekleidungs-, Textil- und Schuhindustrie beträgt 194 US-Dollar im Monat.

Wie wichtig ist die Bekleidungsindustrie für Kambodscha?

Sie ist neben dem Baugewerbe, dem Tourismus, der Landwirtschaft und dem Bergbau eine der wichtigsten wirtschaftlichen Säulen Kambodschas. Viele internationale Marken lassen in Kambodscha produzieren. Allerdings ist die Zahl der Bekleidungsfabriken zurückgegangen.

Hanna Guy, 36, ist Beraterin für Nachhaltigkeit. Sie arbeitete 13 Jahre lang in Kambodscha und ist Autorin des Berichts „Waste Streams Mapping, Pathways from Key Suppliers to Landfill“ (2021) der GIZ.

Wie kommt das?

Einer der Gründe: Die EU hat verschiedene Handels- und Steuererleichterungen aufgehoben, die für Kambodscha gewährt wurden.

Mit dem „Alles außer Waffen“-Abkommen bietet die EU den am wenigsten entwickelten Ländern einen zoll- und quotenfreien Zugang zum EU-Markt. Die EU beschloss, das Abkommen für Kambodscha im August 2020 teilweise aufzuheben wegen Bedenken hinsichtlich der Menschen- und Arbeitsrechte.

Das Ziel war es, Kambodscha zu ermutigen, die sozialen Bedingungen zu verbessern. Aber abgesehen von Covid-19 gibt es eine weitere Entwicklung der Branche: Sehr große Marken ziehen aus Kambodscha ab, viele gehen nach Vietnam und Myanmar. Und es gibt auch eine aufstrebende Industrie in mehreren Ländern Afrikas.

Kambodscha gehört zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt, auch wenn die Wirtschaft schnell wächst.

In den rund 1.200 Bekleidungs- und Schuhfabriken arbeiten über 700.000 Menschen, die Mehrheit davon sind Frauen. Insgesamt hat Kambodscha 16 Millionen EinwohnerInnen.

Der Mindestlohn in der Bekleidungs- und Schuhproduktion beträgt aktuell 194 US-Dollar pro Monat, ein existenzsichernder Lohn läge Schätzungen zufolge bei über 400 US-Dollar monatlich.

Textilienexporte gehen hauptsächlich in die USA und nach Europa und machen etwa 70 Prozent des gesamten Exportvolumens aus, 2021 mit über 11 Milliarden Dollar.

Premierminister Hun Sen von der kambodschanischen Volkspartei regiert seit 1985 autokratisch. Das Land ist ein de-facto-Einparteienstaat.

Nach zunehmender Unterdrückung von Opposition und GewerkschafterInnen entzog die EU Kambodscha im August 2020 teilweise den zoll- und quotenfreien Zugang zum EU-Markt, der auf dem „Alles außer Waffen“-Abkommen für Entwicklungsländer basierte.

Ist es jetzt also billiger, in Vietnam oder Myanmar zu produzieren?

Nicht per se, aber wenn man sich die Gesamtkosten der Massenproduktion ansieht. Vietnam zum Beispiel verbessert die Zugänglichkeit von Stoffen, die Bedingungen für Importe und Exporte und hat in die Ausbildung von Fachkräften investiert. Es mag zwar etwas teurer sein, aber man hat dort Zugang zu besser ausgebildeten Arbeitskräften.

Nach einer Recherche wirft Greenpeace vielen globalen Bekleidungsmarken vor, dass ihre Abfälle in Kambodscha in Brennöfen entsorgt werden. Was halten Sie davon?

Die Sache ist aus meiner Sicht nicht so einfach. Als ich die Fabriken besuchte, waren viele sehr transparent in Bezug auf ihre Abfallpraktiken. Sie überwachten die Abfälle und sie entsorgten sie über einen Dienstleister.

Wieso landen dann trotzdem Textilabfälle in Öfen, wo sie nicht landen sollten?

Es gibt eine ganze Kette, über die der Abfall entsorgt wird. Erst wird er vielleicht an einen Großhändler verkauft, dann in kleineren Portionen weiterverkauft, manchmal vier- oder fünfmal. Am Ende kauft jemand Lkw-Ladungen voller Abfällen. Darin können Markenetiketten enthalten sein, aber auch Plastik aus anderen Fabriken oder Flaschenreste. Bevor der Müll in die Brennöfen gelangt, hat er ein ganzes informelles Netzwerk durchlaufen.

Und sind die großen Marken trotzdem verantwortlich?

Die globalen Bekleidungsunternehmen tragen die Verantwortung, es ist immer noch ihr Abfall. Sie wälzen die Schuld auf die Fabriken ab, die sie beauftragen. Doch es sind die großen Marken, die Milliarden verdienen, und sie sollten ihre Lieferkette überwachen. Sie müssen Teams vor Ort haben, die dafür sorgen, dass der Abfall verfolgt wird.

Was sollte die kambodschanische Regierung tun?

Mittlerweile gibt es weltweit ein Bewusstsein dafür, unter welchen Bedingungen die Kleidung hergestellt wird. Verbraucher fordern Nachhaltigkeit. Das ist der Grund, warum beispielsweise Nike sagt, dass sie fair sein und Biobaumwolle verwenden wollen, oder warum Levis weniger Wasser für seine Denim verwendet. Alle Länder, auch Kambodscha, müssen ihre Bedingungen verbessern, um da noch wettbewerbsfähig zu sein und Zugang zu diesen Märkten zu erhalten.

Tragen Sie Kleidung bekannter Marken?

Ich persönlich trage keine Marke, bis sie in ihrer Lieferkette für existenzsichernde Löhne sorgt.

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