Expertin über Altersarmut: „Viele trauen sich nicht zur Tafel“
Heute startet der Kongress #ArmutAbschaffen. Besonders Frauen seien von Altersarmut betroffen, sagt Ann-Kathrin Kelle vom Verein „Groschendreher“.
taz: Frau Kelle, das Kieler Bündnis gegen Altersarmut „Groschendreher“ beschäftigt sich mit Altersarmut und tritt auf dem digitalen Aktionskongress des Paritätischen Gesamtverbandes auf, der am Donnerstagnachmittag beginnt. Was ist das Besondere an der Altersarmut im Unterschied zu anderen Gruppen Armutsbetroffener?
Ann-Kathrin Kelle: Unter den Armutsbetroffenen im Alter sind viele Frauen, die aufgrund der großen Lücken in der Erwerbsbiografie, der unbezahlten Familienarbeit, vielleicht noch einer Scheidung jetzt nur eine kleine Rente haben und daher in diese Situation geraten sind. Die haben Care-Arbeit geleistet, vielleicht in Teilzeit gearbeitet und sind jetzt arm. Das ist ein gesellschaftliches Problem und wird aber jetzt zum individuellen Problem der Menschen gemacht.
Ann-Kathrin Kelle ist Koordinatorin bei „Groschendreher“, Kieler Bündnis gegen Altersarmut, Teil des Armutskongresses des Paritätischen Gesamtverbandes (www.aktionskongress.de).
Diese Frauen könnten stolz sein auf ihre Lebensleistung …
Natürlich, aber man muss die Bilder in der Gesellschaft sehen, die gerade vorherrschen. Derzeit ist es das Bild der berufstätigen Frau, die auch Mutter ist. Das wird propagiert. Das kann ältere Frauen unter Druck setzen, die in einer Zeit Hausfrau und Mutter waren, als es keine Kitaplätze gab, jedenfalls im Westen nicht, und als die Männer den Frauen noch verbieten konnten, zu arbeiten.
Ältere Menschen können ja auch nicht mehr arbeiten, um so der Armut zu entkommen.
Die Notsituation, die Armutssituation ist durch Erwerbstätigkeit nicht mehr zu ändern. Dass es diese Hoffnung nicht gibt, drückt auf das Befinden.
Es heißt oft, ältere Menschen gehen nicht zum Grundsicherungsamt, wenn die Rente nicht reicht. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Das erleben wir auch. Das liegt einmal daran, dass die Aufklärung über den Anspruch auf Grundsicherung nicht so groß ist. Es hat aber auch mit dem Autonomieempfinden zu tun. Die Situation selbst bewältigen zu können, aus eigenen Mitteln, hat eine andere Qualität und ist anders besetzt, als wenn ich von anderen abhängig bin. Bei vielen alten Menschen gibt es diese Denkweise. Der Bezug von Menschen in Kiel mit Grundsicherung im Alter liegt bei ungefähr 7 Prozent. Man schätzt aber eine Dunkelziffer von 30 Prozent, die ihren Anspruch nicht wahrnehmen.
An was sparen die alten Menschen, wenn sie so wenig Geld zur Verfügung haben?
Neue Klamotten werden zum Beispiel nicht gekauft. Eine Frau erzählte, sie wollte im Supermarkt einen Blumenkohl kaufen. Aber vier Euro für einen Blumenkohl war einfach zu viel. Ein Problem sind auch die Medikamente. Nicht verschreibungspflichtige Medikamente muss man selbst bezahlen, etwa Schmerzmittel und Mittel gegen Erkältungen. Wenn Medikamente nicht gekauft werden, weil man das Geld nicht hat, verschlechtert das noch mal den Gesundheitszustand.
Gehen die älteren Armutsbetroffenen denn zur Tafel?
Die Gruppe, die sich zurückzieht, geht eher weniger zur Tafel. Die Menschen, die ein Stück weit eher nach außen gehen mit ihrer Situation, die extrovertierter sind, die kommen zur Tafel und halten die Scham und Stigmatisierung dann aus.
Ist das nicht besser geworden mit der Stigmatisierung?
Das Thema Armut ist öffentlicher geworden auch durch den Hashtag „Ich bin armutsbetroffen“. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Stigmatisierung abgenommen hat. Vielleicht trauen sich die Menschen lediglich nicht mehr, Armut öffentlich abzuwerten.
Welche Aktionen plant denn Ihr Bündnis, und was erhoffen Sie sich von dem Aktionskongress „Armut? Abschaffen!“?
Die Gruppe der Altersarmen muss mehr gesehen werden. Derzeit ist die Kindergrundsicherung das große Thema. Dabei darf die Gruppe der älteren von Armut Betroffenen nicht vergessen werden. Wir machen auf Beratungsangebote aufmerksam und wollen Fachkräfte mit Armutsbetroffenen vernetzen. Wir sind Mitglied im Paritätischen Gesamtverband und teilen auch die Haltung, dass die Grundsicherung erhöht werden müsste.
Letztlich geht es doch um Teilhabe, sich zum Beispiel leisten zu können, auch mal beim Bäcker einen Kaffee zu trinken, sich Busfahrten leisten zu können, wenn man irgendwo mal etwas Besonderes einkaufen will oder in den Wald fahren will, solche Sachen.
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