Experte über reproduktive Rechte: „Eine progressive Richtung“

Schwangerschaftsabbrüche drohen schwieriger zu werden, wenn rechte Parteien bei der EU-Wahl zulegen, sagt Neil Datta. Warum er trotzdem viel Gutes sieht.

Demonstration von Frauen, eine Frau hält ein Megafon in der Hand und lacht

Sorgte im Mai für Protest in Madrid: Spaniens rechtspopulistische Vox lud andere rechte Kräfte aus Europa ein Foto: Antoine Demaison/reuters

taz: Herr Datta, Umfragen zufolge werden Konservative und extreme Rechte bei der Europawahl zulegen. Wäre das eine Bedrohung für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Europa?

Neil Datta: Definitiv, das wird eine Herausforderung. Schon in den vergangenen fünf Jahren waren die Konservativen und extremen Rechten Quell neuer Ideen zur Aushöhlung von Abtreibungsrechten. Nach der Wahl wird das weitergehen.

Können Sie Beispiele nennen?

Unmittelbar nachdem 2022 in den USA das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aufgehoben wurde, hat die rechtskonservative Fraktion EKR einen Workshop im EU-Parlament veranstaltet. Es ging darum, wie das leuchtende Beispiel der USA nach Europa gebracht werden könnte. Organisiert wurde die Veranstaltung von einer Abgeordneten der spanischen rechtspopulistischen Vox. Diese Partei hat zudem die meisten Änderungsanträge gegen den sogenannten Matić-Report eingebracht. Dieser Report des Parlaments von 2021 hatte die europäischen Mitgliedsstaaten aufgefordert, Abbrüche zu legalisieren. Die Vox-Anträge zielten nun darauf, diesen progressiven Ansatz zu konterkarieren.

Welche Macht haben Anträge wie diese?

Das Europäische Parlament hat keinen direkten Einfluss auf Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. Aber es kann zum Beispiel versuchen, Angriffe auf die Finanzierung von Organisationen zu starten, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzen. Das hat etwa das niederländische rechtspopulistische Forum für Demokratie mit der dortigen Organisation für Familienplanung versucht.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die rechte Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, verstehen sich prächtig. Kann das die Situation weiter verschlechtern?

Sicher. Meloni selbst würde kaum gegen Abtreibung aktiv werden. Aber all ihre Leute in der EKR würden Initiativen einleiten. Sollte das Bündnis mit von der Leyens EVP tatsächlich zustande kommen, würden sich dessen Mitglieder dem anschließen müssen. Das könnten manche EVP-Mitglieder sehr praktisch finden. Dort sind einige gegen Abbrüche, die gesamte deutsche CSU zum Beispiel. Die wissen, dass sie nichts gewinnen, wenn sie sich offen gegen Abbrüche stellen. Aber wenn sie auf diese Weise mitgenommen werden, können sie glaubhaft leugnen, dass das von ihnen kommt.

Glauben Sie, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch wird offen attackiert werden?

Ich glaube nicht, dass der Angriff groß und dramatisch daherkommen wird. Ein EU-weites Abtreibungsverbot wird nicht auf der Agenda stehen. Ich kann mir eher vorstellen, dass es um viele kleine Maßnahmen geht, in den nächsten fünf Jahren das Recht auf Abtreibung auszuhöhlen. Alles zusammen könnte den progressiven und gesundheitspolitisch orientierten Sektor schwächen. So könnte der Zugang zu Abtreibung in vielen Ländern de facto schwieriger werden, ohne dass sich der rechtliche Rahmen geändert hätte.

Sie haben den Matić -Report erwähnt. Zudem haben vor zwei Monaten mehr als 330 Mitglieder des Parlaments dafür gestimmt, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Grundrechtecharta zu verankern. Weder der Report noch die Abstimmung sind bindend.

So ist einfach das Verfahren. Das Parlament hat damit seine Position deutlich gemacht. Jetzt kommen die Wahlen, das neue Parlament, die neue Kommission – und dann wird darüber debattiert werden, die Verträge für neue zwischenstaatliche Verhandlungen zu öffnen.

Das passiert automatisch?

Ja, das ist schlicht der nächste Schritt des Verfahrens. Das Thema wird aufgegriffen und diskutiert werden müssen. Wie genau, hängt von den Mitgliedstaaten ab. Aber zumindest ist der erste Schritt von etwas gemacht, das am Ende in eine gute Richtung führen kann. Wenn wir in der Geschichte der Europäischen Union zurückschauen, ist das vielleicht vergleichbar mit dem ersten Schritt auf dem Weg zum Euro. Es gab viele Diskussionen, es hat lange gedauert, aber jetzt benutzen wir ihn alle ganz selbstverständlich. Das ist gut.

Auf der einen Seite gibt es einen fortschreitenden Prozess – auf der anderen Seite werden die Rechten im Parlament wohl zulegen. Wie geht das zusammen?

Das kann ich noch nicht sagen. Möglich, dass es einige parallele Prozesse zwischen Mitgliedstaaten und Parlament geben wird. Immerhin waren die vergangenen fünf Jahre die erfolgreichsten für sexuelle und reproduktive Gesundheit in der Geschichte des Parlaments. Da geht es nicht nur um den Matić-Report, sondern auch um all die Stimmen, die Polen und Ungarn wegen der Verletzung des Rechts auf Abtreibung und der Rechte von LGBTI verurteilt haben.

Die Istanbulkonvention, das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, wurde ratifiziert. Es gibt mehr Signale denn je, dass wir in eine progressive Richtung gehen. Manche Lobbyorganisationen, die gegen sexuelle und reproduktive Gesundheit mobil machen, haben Brüssel sogar verlassen, weil sie finden, dass die EU in der Hand der feministischen LGBTI-Lobby ist. Als NGOs haben sie gewissermaßen aufgegeben. Aber der Weg, zurückzukommen, liegt für ihre Leute nun direkt in den Parteien.

Sie meinen, es braucht die Lobbyorganisationen nicht mehr, weil die rechten Parteien direkten Einfluss haben?

Genau. Die sind nun das Einfallstor. Die Themen und Ideen sind gesetzt. Um gegen Schwangerschaftsabbruch mobil zu machen, sind jetzt die Parteien am Zug, vor allem die konservativen und die extreme Rechte.

Aus dem Englischen von Patricia Hecht

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.