Ex-Ultraorthodoxer über das Judentum: „Keine Angst, darauf kommt es an“
Akiva Weingarten ist aus dem ultraorthodoxen jüdischen Leben ausgestiegen. Wie kam es zum Bruch? Ein Gespräch darüber – und seinen Blick auf Religiöses.
taz: Herr Weingarten, Sie sind ein Aussteiger aus der Welt der Ultraorthodoxie. Gab es einen Moment, an dem Sie Ihre Dissidenz erstmals spürten?
Akiva Weingarten: Keinen genauen Moment, keine Sekunde der Erleuchtung oder einen Punkt, an dem ich gesagt habe: Es reicht mir. Es war ein längerer Prozess, währenddessen ich recherchiert, gelesen, nachgefragt und mich mit anderen Theologien beschäftigt habe. Islam, Christentum, Buddhismus, Hinduismus.
Die Räume Ihrer Besht Yeshiva, eine Toraschule, sind in einem Gebäude der evangelischen Kirche. Warum?
Es ist vielleicht eine Art von Asyl. Wir sind als ultraorthodoxe Juden Leute, die nach Deutschland gekommen sind, um eine bessere Zukunft zu finden.
Und die liegt hier in diesem Häuschen?
Wir haben einen engen Kontakt zur evangelischen Gemeinde, aber diese Wohnung hier mieten wir.
Sie hätten doch auch in der Jüdischen Gemeinde Dresdens Unterschlupf finden können.
Es gibt in Dresden drei jüdische Gemeinden. Eine orthodoxe, eine eher konservative Gemeinde – und es gibt unsere, welche eher eine liberale Gemeinde ist.
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Worin liegen die Unterschiede zwischen diesen Gemeinden?
Es gibt ältere, unflexiblere Gemeinden, die nicht bereit sind, den Weg der Vielfältigkeit zu gehen. Das passiert manchmal, so auch in Dresden.
Wie drückt sich diese Vielfalt aus?
Bei uns sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Sie sind gemeinsam beim Gottesdienst, bei anderen Gemeinden nicht. Wir sind offen für alle, die kommen wollen. Bei unseren Gottesdiensten können auch Nichtjuden vorbeikommen und schauen, wie es bei uns ist. Außerdem versuchen wir sehr aktiv, mit anderen religiösen Einrichtungen Projekte zu machen. Mit Muslimen und Christen.
Ultraorthodoxe Juden, die abtrünnig sind, finden bei Ihnen Asyl.
Das trifft es nicht genau. Die Leute, die zu uns kommen, sind schon ausgestiegen. Wir haben nicht die professionelle Struktur, um ultraorthodoxen Aussteigern in der ersten Phase konkrete Hilfe anzubieten. Bei uns sind die Ausgestiegenen, die nach all den Jahren in Isolation zu ihrer jüdischen Identität zurückfinden können, sie leben wollen.
Der Mann
Geboren am 23. Dezember 1984 in Monsey, US-Bundesstaat New York, als ältestes von elf Kindern in einer jüdisch-chassidischen Familie. Elternsprache: Jiddisch. Mit 18 ging er für zehn Jahre nach Israel, lebte in Bnei Berak, einer überwiegend von Ultraorthodoxen bewohnten Stadt. Vater einiger Kinder.
Der Beruf
Rabbiner, seit 2019 der Baseler Migwan-Gemeinde wie auch der Jüdischen Kultusgemeinde Dresden. Er ist der einzige Rabbiner, der sich als liberal-chassidisch versteht – in seiner Gemeinde sind Frauen gleichberechtigt.
Das Buch
„Ultraorthodox. Mein Weg“, Gütersloh 2022, 256 Seiten, 20 Euro.
Was bedeutet „zurückfinden zur jüdischen Identität“?
Viele Aussteiger haben ein Gefühl des Traumas. Und wenn wir vom Judentum, als Ultraorthodoxe, generell traumatisiert worden sind, dann sehen wir das gesamte Judentum in so einer Riesenbox und sagen: Damit möchten wir erst mal überhaupt nichts zu tun haben. Wir kannten ja nicht andere Arten von Judentum. Wussten nicht, wie Judentum aussehen kann außerhalb der orthodoxen Welt.
Trauma ist ja ein weiter Begriff – können Sie da vielleicht etwas konkreter werden?
Dieser Ausstieg ist eine Art von Befreiung und zugleich ein Schock. Jetzt kann ich alleine entscheiden, wie ich mich anziehe, was ich esse, mit wem ich schlafe, wie ich denke und wie ich meine Gedanken äußere.
Das kann man sich in einer westlichen Gesellschaft nur schwer vorstellen – weil man diese Freiheiten so gewohnt ist.
In Israel ist alles relativ demokratisch, aber für Menschen wie mich scheint es nicht möglich zu sein, in einer demokratischen Welt zu leben. Mein Sohn zum Beispiel wurde von seiner Schule rausgeschmissen, als er fünf, sechs Jahre alt war, weil ich etwas im Internet geschrieben und einen Rabbiner kritisiert hatte. Oder wenn der Vater oder, Gott behüte, die Mutter sich anders anzieht: Dann sind die Kinder raus aus der Schule.
Kein schöner Zustand für die Kinder.
Die wiederum auf ihre Eltern aufpassen müssen, dass sie den rechten Weg nicht verlassen. Alles wird streng geregelt, Kinder würden sich hüten, woanders zu erzählen, wenn die Eltern den vorgegebenen religiösen Weg verletzen, etwa indem sie ein Smartphone ohne koscheren Filter kaufen.
Was ist denn ein „koscherer Filter“?
Man installiert eine gewisse Software. Ursprünglich war sie dazu gedacht, Pornografie und Gewaltszenen zu blockieren, aber in der Realität ist alles blockiert. Alles, was wir lesen konnten, war kontrolliert, von Rabbinern. Jiddische Medien bedeutet: Es gibt keinen Computer, es gibt kein Google. Alles ist gesperrt. Wenn ich meiner Mutter einen Youtube-Link schicke, kann sie den nicht öffnen.
Sie erwähnten anfangs, Sie hätten dennoch recherchiert.
Immer in Grenzen. Ich empfand, dass zu viel Information vor uns versteckt war. Ich wollte auch allein denken, nicht nur Gefiltertes bekommen. Wir haben ja auch nicht die ganze Bibel gelesen, sondern nur passende Stellen. Später, als ich wirklich die Bibel studierte, wusste ich, warum.
Nun?
Es gibt zu viele Geschichten in der Bibel, die zu kompliziert sind, um sie einfach zu erklären. Das ist wie bei Christen: Katholiken, Evangelische, Reformierte … In allen Religionen ist das der Fall: Es gibt Streit um Interpretationen, um richtige Lesarten.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus diesem neuen Blick auf Religiöses?
Vor allem habe ich mich gefragt: Warum ist meine Religion so besonders? Heute habe ich eine Antwort für mich. Das Judentum ist nicht besonders, es ist für mich besonders. Das ist einfach meine Religion, meine Tradition. Viele Leute bei uns würden sich auch nicht als religiös bezeichnen, auch wenn sie eine starke jüdische Identität haben. Judentum ist nicht nur eine Religion, Judentum ist auch eine Kultur, eine Tradition, eine Geschichte.
Und wenn man jüdisch geboren wurde, bleibt man es?
Auch wenn du konvertierst zu einer anderen Religion, bleibst du immer noch jüdisch. Aber die Frage ist: Wie möchte ich meine jüdische Identität überhaupt leben?
Was Sie über die Ultraorthodoxen nicht nur in Israel erzählen, kennen wir Unkundigen aus Serien wie „Unorthodox“, vor allem aber aus der famosen israelischen Serie „Shtisel“, an deren Drehbuch und Skript Sie mitgearbeitet haben.
Der große Unterschied zwischen „Unorthodox“ und „Shtisel“ ist: Die eine Serie ist fokussiert auf die negativen Seiten der ultraorthodoxen Welt, sie ist sehr klischeehaft gemacht. „Shtisel“ hingegen hat eine sehr menschliche Ebene, auf der es um Schwierigkeiten, Freude und Probleme, Liebe und Streit geht.
Sie haben aller Neugier als Jugendlicher zum Trotz schon sehr früh geheiratet, sind Vater geworden. Das wollten Sie? Hätten Sie Ihren Ausstieg nicht auch früher erklären können?
„Wollte“ ist vielleicht ein allzu starkes Wort. Das ist einfach erwartet worden, es war so selbstverständlich wie Atmen oder Essen. Alles, was man macht, ab 13, 14, ist, eine gute Ehefrau zu finden. Viele junge Schüler sind in diesen Jahren, wie sagt man: streberig? Nein.
Ehrgeizig?
Weil sie eine gute Frau finden wollen. Und wenn sie gut studieren, dann finden sie eine gute Frau. Wenn nicht, nicht.
Ist Ihre Frau von Ihren Eltern ausgesucht worden oder hatten Sie da was mitzureden?
Mitzureden schon, aber die Eltern treffen, über eine Vermittlerin, die Wahl.
Hätte man diese Tatsache nicht hinterfragen können?
Wie kann man Frauen kennenlernen, wenn man ab fünf Jahren in getrennten Schulen ist? Es gibt überhaupt keine Berührungspunkte mit Frauen. Ich kann nicht auf der Straße eine Frau sehen und sagen: „Hey, du gefällst mir, kann ich dich kennenlernen?“
Das geht gar nicht?
Überhaupt nicht. Ich soll auch mit Frauen auf der Straße überhaupt nicht reden oder sie anschauen.
Trägt das nicht wahnsinnig zur Sensationalisierung der erotischen Gefühle in der Pubertät bei?
Natürlich. Die einzige Möglichkeit, die man damals hatte, wenn man eine Schülerin, einen Schwarm sah: mit anderen Männern etwas ausprobieren. Und so ist es oft.
Als eine Art Ersatz?
Ja, klar.
Aber es gibt ja auch schwule Männer bei den Ultraorthodoxen, oder?
Es gibt alles.
Für die das dann kein Ersatz ist.
Das ist verboten, aber das ist wie im Gefängnis. Dort haben Männer mit Männern Sex, auch wenn sie nicht schwul sind. Dass Schwulsein eine Möglichkeit sein kann, gibt es nicht, kann nicht einmal gedacht werden.
Gibt es denn Begehren, Liebe?
Liebe als Begriff, wenigstens zwischen Mann und Frau, gibt es nicht. Ich heiratete nicht, weil ich meine Frau liebte, sondern weil wir gemeinsam ein Projekt machen wollten, eher geschäftlicher Art. Mit Kindern und einem jüdischen Haus. Völlig klar war, dass es weitergeht, solange wir uns nicht streiten.
Wie kam es zum Bruch mit Ihrem vorherigen Leben? War das so wie beim Coming-out Homosexueller, wenn man das Gefühl hat, alles ändert sich in einem, als durchschritte man eine Wand in ein ganz Anderes?
Ja, absolut. Es ist sehr ähnlich. Im Englischen gibt es den Begriff „In the closet“ …
… im Schrank, noch eingesperrt.
Viele Leute leben in dieser Closet-Phase mehrere Jahre. Manche Leute, die eine wirklich religiöse Arbeit haben, würden ihre Arbeit, Frauen, Kinder sofort verlieren. Das wissen sie – und kommen nie „out of the closet“, auch wenn sie leiden.
Warum? Sind sie schwach oder bequem, fehlt es ihnen an Ausstiegsmöglichkeiten?
Sie haben überhaupt keine andere Möglichkeit. Was soll ein 50-Jähriger oder eine 40-Jährige tun, etwa in Berlin, ohne Fremdsprachenkenntnisse, ohne Möglichkeit, irgendwo etwas zu verdienen? Und wenn er, geht es um einen Mann, gleich im ersten Moment Unterhalt für seine Frau und Kinder zahlen muss, ohne Einkommen …
In Deutschland muss keiner Unterhalt bezahlen, wenn er unter der offiziellen Armutsgrenze lebt.
In Israel ist das nicht so. Wenn man nicht bezahlen kann, geht man ins Gefängnis. Egal, wie viel man verdient. Die zwei Möglichkeiten, die man hat, lauten daher: entweder weiter zu leben wie bisher oder ins Gefängnis zu gehen. Das heißt, er ist schon in einem Gefängnis, aber in einem, in dem er sich noch frei bewegen kann. Und wenn er das aufgibt, dann ist er in einem richtigen Gefängnis.
Wie war das bei Ihnen?
Die Beschreibung als Coming-out ist richtig. Ich wusste, dass ich einen Reset machen muss. Alles war sehr hart, sehr kompliziert, sehr schmerzhaft. Ich habe meine gesamten Kindheitsjahre verloren. Ich musste buchstäblich alles neu lernen. Aber bestimmte Erfahrungen kann ich nicht nachholen.
Wie ist der Kontakt zu Ihren Eltern heute?
Sehr gut. Meine Eltern haben mein Buch gelesen. Sie waren nicht mit allem zufrieden, aber sie haben ihr Okay gegeben, das zu veröffentlichen.
Sie werden von ihnen weiter geliebt?
Natürlich. Ich hatte Glück mit meinen Eltern. Denn oft kommt es zum vollkommenen Bruch.
Und zu Ihren Kindern bleibt die Verbindung ohnehin, so schreiben Sie.
Genau, ich bleibe ihr Vater, und das wissen sie.
Und zu Ihrer Frau – Ihrer Ex-Frau?
Nein.
Weil es sie zu stark gekränkt oder auch verletzt hat, dass Sie sie verlassen haben?
Vielleicht, aber der eigentliche Grund ist ein anderer: Weil Rabbiner es ihr verboten haben. Dass wir keinen Kontakt mehr haben, hat nichts mit Religion zu tun und nichts mit unserer persönlichen Beziehung. Wir könnten weiterhin sehr gute Freunde bleiben.
Hätten Sie gut gefunden, wenn Ihre damalige Frau mit Ihnen zusammen ausgestiegen wäre?
Ich habe das meiner Frau angeboten. Dass sie gerne nach Deutschland mitkommen kann, ich ihr aber nicht versprechen kann, dass wir ein orthodoxes Leben wie in Israel führen würden.
Warum ist Dresden der Ort Ihres neuen Lebens geworden?
Völliger Zufall.
Es gibt keinen Zufall, Gott fädelt bekanntlich alles ein – aber ins Land der Shoah?
Es hätte auch andere Länder gegeben, Italien oder Rumänien, doch dann habe ich gedacht: Wo ist es ziemlich günstig, und welche Sprache muss ich dort lernen? Und weil meine erste Sprache Jiddisch war, also recht nah am Deutschen, war Deutschland eine einfache Wahl.
In einer Ihrer Predigten meinten Sie kürzlich, noch nie Antisemitismus erlebt zu haben.
Richtig. Zumindest wenn ich eine Kippa getragen habe. Wobei ich natürlich weiß, dass es Antisemitismus gibt.
Können Sie Ihre These erläutern?
Die Judenhasser sind, wie man auf Englisch sagt, bullies. Was wollen Bullies, wen wollen sie stören? Die Kinder, die Angst haben in der Schule. Und wenn sie sehen, dass jemand nicht vor ihnen Angst hat, lassen sie eher von einem ab. Ich merke das immer in Deutschland. Wenn ich in ein Restaurant reingehe, auch auf der Straße hier in Dresden. Alle gucken mich an. Immer, überall.
Sie tragen eine Kippa.
Und natürlich wünsche ich mir, als Jude auf die Straße zu gehen und dass es zur Normalität gehört, dass niemand guckt. Aber so ist es nicht, die meisten gucken mich an, als Jude erkennbar. Doch es gibt mehrere Arten von Blicken. Es gibt dieses „Hm, interessant“. Nicht positiv, nicht negativ, einfach interessant. Und dann gibt es diesen negativen Blick von „Puhhh, was macht der hier?“. Die sagen nichts, aber man kann das schon merken, dass sie unzufrieden sind. Und dann gibt es diesen positiven Blick von „Oooh, es gibt euch noch“ (lacht).
Aber alles, weil es nicht zur Normalität gehört.
Weil es nicht genug Juden gibt. Und weil es nicht genug Juden gibt, die eine Kippa tragen. Es gibt viele Punkte, die berührt werden, wenn ich auf der Straße in Deutschland mit einer Kippa rumlaufe.
Hat sich etwas geändert?
Fast kurios finde ich, wenn mich Leute über Antisemitismus fragen. Aber wenn eine Frau vergewaltigt wird, fragt richtigerweise niemand, was sie über sexuelle Gewalt an sich denkt. Ich finde, man sollte nicht Juden fragen, was sie über Antisemitismus denken, sondern nichtjüdische Deutsche. Wir als Juden haben zu dieser Diskussion nichts zu sagen (lacht).
Wie finden Ihre Eltern, dass Sie in Deutschland sind?
Merkwürdig. Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich nach Deutschland gehen möchte, sagte sie mir: „Von der ganzen Welt hast du dir Berlin ausgesucht.“ Es war für sie nicht einfach. Meine beiden Großeltern waren im KZ. Deutschland war generell und ist immer noch heute bei den ultraorthodoxen Juden die ultimative Bösartigkeit.
Würden Sie sagen: „Ich bin ein stolzer Jude und möchte für meine Umwelt als souveräner Mensch erkennbar sein“? Und könnten Sie diesen Satz auch anderen Minderheiten empfehlen?
Keine Angst zu haben, darauf kommt es an. Es wird weniger passieren, wenn wir stolz sind. Wenn wir keine Angst zeigen. Weil: Die Leute, die uns attackieren, das sind keine starken Menschen. Und wenn ich dastehe und ihnen nicht ausweiche, dann kriegen sie nicht das, was sie wollen. Dann ist es eigentlich wie so ein Ballon mit heißer Luft: Er wird schlaff werden.
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