Evolution bei Giraffen: Flott und Fleckenlos
Der Mensch liebt alles, was anders ist – solange es nicht seine eigene Normalität stört. In Namibia wurde eine fleckenlose Giraffe gesichtet.
Wir sind alle Individuen!, ruft die begeisterte Menschenmenge in vollendeter Gleichschaltung im Kultfilm „Das Leben des Brian“. Die absurde Szene bringt den menschlichen Wunsch nach Einzigartigkeit bei gleichzeitigem Herdentrieb auf den Punkt. Jeder Modetrend funktioniert nach demselben Prinzip. Eine ganze Branche lebt davon, Individualität zu versprechen und Konformität zu schaffen.
Ein wirklich ziemlich einzigartiges Individuum wurde nun aber in Namibia gesichtet: eine fleckenlose Giraffe. Die höchsten Tiere der Welt haben üblicherweise eine ausgeprägte Flecken- bis Netzzeichnung von hell- bis dunkelbraun. Das namibische Giraffenjunge dagegen ist einfarbig beige.
Bei einer Kuh würde man nach interessanter gemusterten Exemplaren Ausschau halten, bei den normalerweise viel attraktiver gezeichneten Giraffen hingegen macht gerade das trist einfarbige Tier weltweit Schlagzeilen. Der Mensch liebt alles, was anders ist – solange es nicht als Nachbar seine eigene Normalität stört.
Nie zuvor wurde eine freilebende fleckenlose Giraffe bekannt. Erst drei Mal wurden solche Tiere in Zoos vermerkt, zuletzt vor einem Monat im Brights Zoo in Tennessee.
Es gibt weniger Giraffen als Oldenburger
Ironischerweise lässt das auffällige Jungtier das wichtigste individuelle Merkmal aller Giraffen vermissen, denn die Zeichnung ist einzigartig wie ein menschlicher Fingerabdruck. Mit ihrer Hilfe sind präzise Populationsschätzungen möglich. Deren Ergebnisse allerdings deprimieren – Giraffen gehören zu den stark gefährdeten Arten. Die Giraffe Conservation Foundation, die sich ihrem Schutz widmet, merkt fast beleidigt an, dass auf jede heute noch lebende Giraffe vier Afrikanische Elefanten kommen, die viel eher als bedroht wahrgenommen werden.
Ganze 117.000 Giraffen leben noch in Afrika, die Gesamtpopulation eines der bekanntesten Tiere der Welt liegt also sogar weit unter der Einwohnerzahl von Oldenburg, und das ist so traurig, wie es klingt. Sogar noch trauriger, denn jüngere Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass sich diese Tiere auf vier Arten und weitere davon abzugrenzende Unterarten verteilen, von denen jede einzelne demnach gleich um ein Vielfaches gefährdeter ist. Das fleckenlose Tier aus Namibia ist übrigens eine Angola-Giraffe, die im Südwesten Afrikas verbreitet ist.
Warum es keine Flecken hat, weiß man nicht. Solche Zeichnungsanomalien kommen allerdings bei vielen Tierarten immer mal wieder vor.
Schlecht für Individuum, gut für Population
Wahre Individualität zeigt sich ohnehin in der genetischen Vielfalt innerhalb einer Art und führt immer wieder zu Ausnahmeexemplaren. In den meisten Fällen ist das für das betroffene Tier eher nachteilig. Giraffen haben ihre Fleckung ja nicht, um Menschen zu gefallen, sondern weil die Musterung in der Savanne konturauflösend wirkt und so als Tarnung dient.
Die zeichnungslose Giraffe fällt dagegen auf wie ein bunter Hund. Sie hätte unter natürlichen Umständen kaum Überlebenschancen. Zu stark ausgeprägte Individualität ist also schlecht für das Individuum – aber gut für die Population. Denn genau diese Variabilität ist das Überlebensrezept der Evolution.
Ändern sich die Umweltbedingungen, sind eines Tages vielleicht genau diejenigen mit randständigen Eigenschaften im Vorteil. Um einen anderen großen Klassiker anzuführen: Es waren in „Per Anhalter durch die Galaxis“ die zuvor verspotteten und ins All verjagten Telefonhörerdesinfizierer, die das Aussterben ihres Volkes auf ihrem Heimatplaneten hätten verhindern können. Man weiß eben nie, wofür bestimmte Eigenschaften in der Zukunft gut sind. Auch das gehört zum Zauber der Vielfalt.
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