Evangelischer Kirchentag in Dortmund: Liebe auf den zweiten Blick
Dortmund hat Probleme. Viele Arbeitslose, 30 Jahre Strukturwandel. Aber: Dortmund hat auch diesen rauen, liebenswerten Charme.
Ausermittelt sind beide Fälle längst nicht. Bei der Massenschlägerei ist von „Auseinandersetzungen im Drogendealermilieu“ die Rede. Polizeipräsident Gregor Lange erlaubt seinen Beamt*innen in der Nordstadt, wo drei von vier Menschen einen Migrationshintergrund haben, jetzt die „strategische Fahndung“. Damit kann die Polizei mit anlasslosen Kontrollen auch ohne konkrete Hinweise gegen alle vorgehen, die irgendwie verdächtig wirken. „Auf die Dortmunder Polizei können sich die Menschen verlassen“, verspricht Lange – und warnt vor rechten Hetzern.
Denn auf Schießerei und Schlägerei sind längst typische Reflexe gefolgt: Die „Einwanderungspolitik“ sei „völlig aus dem Ruder gelaufen“, ist etwa in den Online-Kommentaren der Westfalenpost zu lesen. „Wenn abgeschoben werden kann und muss, dann auch sofort“, heißt es dort auch. Ruhr Nachrichten und Westdeutsche Allgemeine haben ihre Kommentarfunktion bei dem Thema ganz abgeschaltet.
Die Sorge zeigt, wie aktuell, wichtig und mutig die Entscheidung des Kirchentagspräsidiums rund um den Starjournalisten Hans Leyendecker war, das evangelische Großevent mit dem roten Faden „Migration, Integration, Anerkennung“ zu durchziehen: Die Hauptveranstaltungen spielen nicht im reichen Dortmunder Süden, sondern rund um den Stadtkern in Nähe der Reinoldikirche, in den Westfalenhallen, im Stadion des BVB – und eben in der Nordstadt zwischen dem Kulturzentrum Depot, dem Fredenbaumpark und dem Dietrich-Keuning-Haus.
Erstaunlicher Wandel
Das Motto des Kirchentags – „Was für ein Vertrauen“ – passe bestens zu Dortmund, findet Leyendecker. Der 70-Jährige, zuletzt Leiter des Investigativressorts der Süddeutschen Zeitung, hat seine Karriere bei der Westfälischen Rundschau begonnen und acht Jahre in der Stadt gelebt.
Die Metropole des östlichen Ruhrgebiets hat in den vergangenen 30 Jahren einen erstaunlichen Wandel hingelegt. Die Schwerindustrie, die Dortmund groß gemacht hat, ist verschwunden – mit „Minister Stein“ hat die letzte Zeche schon 1987 dichtgemacht. Und vom einst größten Brauereistandort Europas ist nur noch die „Dortmunder Actien-Brauerei“ übrig.
Kirchentage unter evangelischen ChristInnen heißt: Ernst zu nehmen, was dort verhandelt, erörtert, begrübelt und was direkt zur Sprache gebracht wird.
In Dortmund stehen Themen wie Migration, Feminismus, Klima und Umwelt im Mittelpunkt. Typische taz-Themen also.
Deshalb begleiten wir den Kirchentag auch: vor Ort und mit vier täglichen Sonderseiten in der Zeitung. Die taz Panter Stiftung hat dafür 9 junge JournalistInnen ins Ruhrgebiet geschickt.
Am deutlichsten wird der „Strukturwandel“ im Stadtteil Hörde. Hier leuchtete auf dem 2001 stillgelegten Phoenix-Stahlwerk jahrzehntelang die „Hörder Fackel“ – ein 98 Meter hoher Kamin, auf dem die Konvertergase der Hochöfen mit meterhohen Flammen kontrolliert abgebrannt wurden. Jetzt stehen am künstlich angelegten Phoenixsee etwa 2.000 neue Häuser und Wohnungen.
Wo früher malocht wurde, leben heute die Gewinner*innen des Wandels hin zum Informations- und Dienstleistungssektor. „Dortmund ist eine Wissenschaftsstadt – eine Stadt, in der längst nicht mehr die Schlote, sondern die Köpfe rauchen“, erklärt SPD-Oberbürgermeister Ullrich Sierau deshalb stolz.
Eine der jüngsten Intendant*innen
Symbole für den Umbau der Stadt sind auch die vielen neuen Gebäude in der Innenstadt wie das 2002 eröffnete Konzerthaus – mitten im aufgehübschten Brückstraßenviertel, früher als halbseidener Treffpunkt der Käufer von Cannabis und anderem Stoff bekannt. Am Schauspiel Dortmund hat Kai Voges das Theater verstärkt gesellschaftsrelevanten Themen geöffnet. Ihm folgt im Sommer 2020 Julia Wissert als eine der jüngsten Intendant*innen Deutschlands. Mit struktureller Diskriminierung am Theater hat sie sich als Person of Color schon in ihrer Diplomarbeit auseinandergesetzt.
Knapp einen Kilometer von Wisserts künftigem Arbeitsplatz liegt der von der Bahn noch immer nicht renovierte Hauptbahnhof, den Ex-Oberbürgermeister Günter Samtlebe schon vor Jahrzehnten als „Pommesbude mit Gleisanschluss“ beschrieben hat. Und hinter dem Bahndamm beginnt der Norden: Zwischen 1960 und 1995 verschwanden rund 100.000 oft gut bezahlte Arbeitsplätze gerade für Nichtakademiker*innen.
Vielen fehlen formale Bildungsabschlüsse. Seit mehr als 100 Jahren ist das Viertel erste Anlaufstation für alle, die im östlichen Revier auf ein besseres Leben hoffen: Schon im Kaiserreich kamen mit der Industrialisierung Menschen aus dem Gebiet des heutigen Polen, aus Bayern und Österreich-Ungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Italiener, Griechen und Türken, im vergangenen Jahrzehnt neben Geflüchteten viele aus Bulgarien und Rumänien.
Heute sind in ganz Dortmund 10 Prozent arbeitslos, in der Nordstadt sind es 17. Und selbst diejenigen, die einen Job ergattern, bekommen oft miese Löhne: Während im südlichsten Stadtteil, Syburg, nur 3,6 Prozent der Einwohner*innen von Transferleistungen leben, sind rund um den Nordmarkt mehr als 40 Prozent in irgendeiner Form auf staatliche Unterstützung angewiesen, heißt es im „Bericht zur sozialen Lage“ der Stadtverwaltung von 2018.
Nirgendwo ist Dortmund lockerer als in der Nordstadt
Geprägt haben die Migrant*innen ein Quartier mit ganz eigenem rauen Charme. Neben vielen Dönerläden und Asia Shops beherbergt die Nordstadt auch Kultkneipen wie das „subrosa“ und das „Sissikingkong“. Nirgendwo ist Dortmund lockerer, nirgendwo sonst haben die auf Ruhrhochdeutsch einfach „Bude“ genannten Kioske länger auf. In der Nordstadt leben deshalb viele Studierende.
Auch für manche Akademiker*innen ist die Nordstadt eine Liebe zumindest auf den zweiten Blick: Sie haben nach dem Einstieg in den Job einfach keine Lust gehabt auf das gentrifizierte Kreuzviertel mit seinen vielen Restaurants mit gebeiztem Lachs, Chutneys und Risottos auf der Speisekarte.
Deutschlands Rechtsextreme haben dagegen immer wieder versucht, Dortmund zur Chiffre für gescheiterte Integration zu machen. Der soziale Gegensatz zwischen Arm und Reich sollte in Form eines „nationalen Sozialismus“ ethnisch aufgeladen werden. Doch diese Strategie scheint grandios gescheitert: Trotz „europaweiter Mobilisierung“ kamen zum vorerst letzten Neonazi-Aufmarsch Ende Mai im Stadtteil Hörde exakt 184 Faschist*innen.
Deren Ikone, der „SS-Siggi“ genannte Siegfried Borchardt, ist aus seiner Nordstadt-Wohnung an der Mallinckrodtstraße, wo der Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık 2006 von den Terroristen des NSU erschossen wurde, nach Dorstfeld geflüchtet. Dort haben etwa 30 Rechtsextreme mit Unterstützung eines mehr als 80 Jahre alten Vermieters einen Straßenzug als ihr Revier markiert.
Mehr als 2,6 Milliarden Euro Schulden
Für Dortmund kann der Kirchentag, wo bei über 100 Veranstaltungen um die Themen Migration, Flucht, Asyl und Integration gerungen werden soll, zum Geschenk werden. Unumstritten war er im Rathaus nicht: Neben den Rechten stimmten auch Linke und Piraten dagegen. Trotz Imagegewinn und mehr als 25 Millionen Euro, die das Event außerplanmäßig in die Stadt spülen soll, sei der kommunale Zuschuss von 2,7 Millionen zu hoch, argumentierten sie – Dortmund hat mehr als 2,6 Milliarden Euro Schulden.
Andererseits: Über Jahre werden nie wieder so viele Spitzenpolitiker*innen die Stadt besuchen wie in dieser Woche. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine drei Vorgänger werden ebenso in Dortmund sein wie Kanzlerin Angela Merkel, Außenminister Heiko Maas, Entwicklungsminister Gerd Müller und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.
Für alle Engagierten vor Ort ist das die Chance, noch einmal klarzumachen, was gerade den Geflüchteten und Zuwanderer*innen aus Südosteuropa, darunter viele Sinti und Roma, auch im traditionellen Schmelztiegel Ruhrgebiet fehlt: Qualifikationen, Deutschkenntnisse, bezahlbare nicht verwahrloste Wohnungen, Schutz vor Ausbeutung jeder Art – und natürlich oft auch eine Bleibeperspektive und damit selbst das Recht auf einen Integrationskurs, für den ein förmlicher Aufenthaltstitel nötig ist.
Selbstverständlich ist das Aufgabe des ganzen Staates – überfordert ist jede Stadt wie Dortmund, in die in den vergangenen zehn Jahren mehr als 30.000 Menschen ohne deutschen Pass gezogen sind. „Die bisherige Unterstützung seitens des Landes und insbesondere des Bundes“, heißt es im Dortmunder Bericht zur sozialen Lage deshalb desillusioniert, „reicht bei weitem nicht aus.“
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