piwik no script img

Eurovision Song Contest in KiewDie Sängerin mit Handicap

Russland nimmt doch am ESC teil, mit einer Sängerin, die im Rollstuhl sitzt und seit 2015 mehrfach auf der Krim weilte. Das ist heikel für die Ukraine.

Auch Samoilowa beklagt, dass viele Zuschauer sie wegen des Handicaps nicht auf der Bühne sehen wollten Foto: imago/Itar-Tass

MOSKAU taz | Die Entscheidung fiel in letzter Minute. Am Sonntagabend teilte Russland mit, es werde nun doch am Eurovision Songcontest im Mai in der Ukraine teilnehmen. Die 27-jährige Sängerin Julia Samoilowa soll das Land mit dem englischsprachigen Titel „The flame is burning“ in Kiew vertreten. Die Künstlerin ist in Russland nicht unbekannt. 2014 trat sie bei der Eröffnung der Paralympics in Sotschi auf. Seit ihrer Kindheit sitzt die querschnittsgelähmte Sängerin im Rollstuhl.

Probleme macht ihr seit der Nominierung aber ein anderes Handicap. Samoilowa hat mehrfach die seit 2015 von Russland annektierte Halbinsel Krim besucht. Die ukrainischen Behörden hatte sie darüber nicht informiert – und somit gegen Kiewer Gesetze verstoßen. Mehr als 140 russische Künstler dürfen seit dem Krieg in der Ost­ukraine nicht mehr die Ukraine besuchen. Wenn Samoilowa bei ihren Auftritten nichts zur Rechtmäßigkeit der Annexion gesagt habe, könne sie einreisen, hieß es zwar im Kiewer Innenministerium. Die endgültige Entscheidung steht aus.

Die Krim erhitzte schon beim letzten ESC die Gemüter. In Russland ist der Glaube weit verbreitet, dass die Ukraine 2016 nur wegen einer gegen Moskau gerichteten Verschwörung gewinnen konnte. Für die Ukraine sang die Krimtatarin „Dschamala“ das Lied „1944“. In jenem Jahr waren die Krimtataren von Moskau deportiert und nach Zentralasien zwangsumgesiedelt worden. Hunderttausende kamen ums Leben.

Mit der Nominierung einer behinderten Künstlerin präsentiert sich Moskau als humane und offene Gesellschaft. Noch entspricht dies aber nicht der Wirklichkeit. Bislang hat die Gesellschaft die Behinderten versteckt, war der Tenor in den sozialen Medien. Auch Samoilowa beklagte, dass viele Zuschauer sie wegen des Handicaps nicht auf der Bühne sehen wollten. Freude passe nicht zur Behinderung.

Böse Zungen vermuten, mit der Ernennung konnte Moskau nichts falsch machen. Wird der Sängerin die Einreise verweigert, fällt das auf Kiew zurück. Begegnet das Publikum ihr mit Vorbehalten, ließe sich auch das als inhuman und rückständig auslegen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Die Bildunterschrift lässt mich vermuten, dass "viele Zuschauer" keine Minimalist*innen sind. Zu einer perfekten Show gehört für sie offenbar nicht nur ein perfekter Gesang, sondern auch ein perfekter, nun ja: Auftritt. Vorzugsweise mit fetziger Tanzeinlage. Mitleid läuft außer Konkurrenz.

     

    Wäre die ukrainische Führung ein wenig gelassener, könnte sie nun drauf wetten, dass ESC-Zuschauer auch Menschen sind – die als solche Privilegien (hier: den Genuss einer perfekten Show) nur ungern wieder hergebe, wenn sie sie erst mal haben.

     

    Vermutlich ist sie dafür zu affektgeladen. Das weiß Herr Putin auch. Er "liest" in seinen Gegnern wie in seinen Fans. Mit Pragmatismus scheint er kein Problem zu haben, wenn er damit sein Ziel erreicht. Dogmatiker darf man als (Ex-)KGB-Mann vermutlich auch nicht sein. Man fällt sonst zu sehr auf.

     

    Apropos Privilegien: Wenn die Machthaber nach Kiew nur solche Leute einreisen lassen, die nie etwas aus ihrer Sicht Anstößiges über die Krim gesagt haben, dann qualifiziert das die Nation, die sie gewählt hat, nicht unbedingt für einen EU-Beitritt oder die NATO-Osterweiterung.

     

    Wobei. Vielleicht doch. In Europa gehen Spitzenpolitiker, die sich von der aktuell rechtsdrehenden Populismuswelle an die Spitze spülen lassen wollen, ja derzeit auch recht lax um mit der Meinungsfreiheit anderer. Im Westen war der Pragmatismus noch vor 30 Jahren Mode. Heute ist da gerade wieder Dogma angesagt. Im Osten geht die Sonne auf? Je nun. Die Welt scheint rund zu sein.

     

    Übrigens: Wenn "1944" nicht gewonnen hat damals, muss das nicht die Folge einer russischen Verschwörung sein. Es kann auch daran liegen, dass ESC-Zuschauer Spießer sind, die nicht nur keine Behinderten sehen wollen auf der Bühne, sondern überhaupt nicht daran erinnert werden möchten, dass ihre Welt nicht heil ist. Wer nicht schunkelt, muss ja deswegen nicht Realist sein oder progressiv.

     

    Wer siegen lernen will, der sollte wohl derzeit auf Putin schauen. Was für ein Mist!

  • "Die ukrainischen Behörden hatte sie darüber nicht informiert..."

     

    Warum auch?

     

    "In jenem Jahr waren die Krimtataren von Moskau deportiert und nach Zentralasien zwangsumgesiedelt worden."

     

    Städte deportieren keine Menschen. Es handelte sich um ein Verbrechen der damaligen sowjetischen Führung. Deren Zusammensetzung ist bekannt.