Eurovision Song Contest 2015: Deutschland null Punkte
Schweden hat mit diesem Sieg der ESC-Community den Dienst erwiesen, im kommenden Jahr nicht nach Sankt Petersburg oder Sotschi zu müssen.
WIEN taz | Sie war ersichtlich traurig, aber hätte sie ihren Gemütszustand anders beschrieben, wäre sie obendrein noch der Lüge bezichtigt worden. Ann Sophie, junge Hamburgerin, hatte beim 60. Eurovision Song Contest ihren Titel „Black Smoke“ vorgetragen. Mit guter Stimme, perfekter Show – aber irgendwie sprang offenbar kein Funke über. Mit null Punkten fand sie sich schließlich um ein Uhr in der Nacht zum Sonntag auf dem vorletzten Platz wieder.
Ein solch schlechtes Ergebnis hatte es für eine deutsche ESC-Performance zuletzt 2005 in Kiew gegeben; damals spulte die inzwischen in der Versenkung verschwundene Badenerin Gracia ihren Titel „Run & Hide“ ab – und fuhr düpiert nach Hause. Null Punkte für einen deutschen Act gab es letztmals 1965 für die Sängerin Ulla Wiesner und ihren Titel „Paradies, wo bist Du?“.
Von der ARD und ihrem TV-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber hört man in ersten Stellungnahmen die Bekundung, Ann Sophie nicht fallen zu lassen. Und die Sängerin gab zu verstehen, sie werde weiter als Künstlerin arbeiten wollen. Fragt sich nur: Wie lange wird sie brauchen, die Bürde eines Null-Punkte-Ergebnisses in der künstlerischen Vita verblassen zu lassen?
Vielleicht hatte Ann Sophie schon am Ende der Vorentscheidung von Hannover im März international verloren. Der Umstand, dass sie das Ticket nach Wien nur als zweite Siegerin hinter Andreas Kümmert erhielt, blieb in Wien nicht außen vor. Kein Kommentator ließ unerwähnt, dass sie mit „Black Smoke“ nicht das deutsche Publikum in einem Sinne wie Lena oder Roman Lob hinter sich hat.
Gute Einschaltquoten
Die ARD war, was die Anteilnahme des Publikums anbetrifft, trotzdem zufrieden. 8,11 Millionen Menschen guckten die Show aus Wien – das entspricht einem Marktanteil von 34 Prozent. Das war wesentlich mehr als beim deutschen Vorentscheid im März aus Hannover – und natürlich vier Mal so viel Gunst wie Pro7 sie mit dem von Stefan Raab erfundenen „Bundesvision Song Contest“ erzielt. Der ESC bleibt für die ARD die erfolgreichste Popshow in ihrem Sendeangebot. Kein Vergleich jedoch mit Ländern wie Schweden, Malta, Griechenland, Israel und auch Belgien: Die TV-Sender freuen sich über auf Marktanteile von bis zu 90 Prozent.
Die Show selbst war so lang wie kein ESC zuvor: Fast vier Stunden dauerte die Liveübertragung aus der Wiener Stadthalle. Was das Sportliche anbetrifft, das Singen um Plätze und Punkte, entschied der Schwede Måns Zelmerlöw für sich.
Seine Hauptkonkurrentin: Polina Gagarina aus Russland. Sie gab wirklich alles. Sie war nervös. Sie wusste wohl, dass sie zu den Favoritinnen dieses ESC zählt. Ihre Performance von „A Million Voices“ trug Polina Gagarin zu vielen Zwölf-Punkte-Wertungen, aber nicht so vielen wie bei dem Schweden. Polina Gagarina hingegen bekam nichts aus Vilnius und San Marino – und in Moskau wird als unangenehme Überraschung registriert werden, dass Litauen als Teil der Sowjetunion sich der honigsüßen Friedenshymne nicht gewogen gegenüber zeigte.
Verzweifelter Friedensappell aus Russland
Was unterschied den Schweden schließlich von seiner Rivalin? Er erhielt aus jedem Land mindestens vier Punkte. Die meisten erhielt er jedoch nicht aus Deutschland, wo Polina Gagarina die zwölf Punkte einfuhr. Deutschland, das Land, das als alte Bundesrepublik sich über das Lied „Ein bisschen Frieden“ als eines der Pflugscharen, nicht Schwerter bekannte, mochte offenbar den verzweifelten Friedensappell der Russin mehr als jedes andere Lied. Und möglicherweise war Deutschland der Russin gegenüber auch empfindsam, weil man dem Friedenshymnus aus Moskau traut.
Schweden hat mit diesem Sieg der ESC-Community den Dienst erwiesen, im kommenden Jahr nicht nach Sankt Petersburg oder Sotschi zu müssen. Måns Zelmerlöv hat aus jedem Land mindestens vier Punkte erhalten, zwölf Mal zwölf Punkte, elf Mal zehn und acht Punkte sieben Mal. Schweden ist inzwischen das Land, das in der ewigen ESC-Tabelle auf Platz zwei rückte. Måns Zelmerlöv muss sich als ein Sieger der Herzen erst noch erweisen. Die Erbschaft der Conchita Wurst wird schwer auf ihm lasten.
Der Rest war eine überwiegend wunderbare, kitschige, pompöse, erhebende und erhabene TV-Show. Conchita Wurst zelebrierte ihre Interviews im Green Room, wo die Künstler und Künstlerinnen sich vor und nach ihren Performances aufhalten, bezaubernd. Sie sang und sie gab Interviews. Sie war auf der Höhe des Abends. Es gab tonnenweise Glitter und Licht, viel Pyro, Windmaschineneinsätze und Kamerafahrten aus allen Winkeln. Erstmals hatte auch der chinesische Staatssender sich zugeschaltet.
Überraschende Ergebnisse jenseits der Spitze gab es ebenso (Details: eurovision.de und eurovision.tv): Italien wurde Dritter, Vierter Belgien, Fünfter Australien, Sechster Lettland, Siebter Estland, Achter Norwegen, Neunter Israel, Zehnter Serbien. Ungefähr diese Acts wurde auch entsprechend dem Endresultat vorne erwartet. Auffälliger als die Nachbarschaftswertungen war, dass sie manchmal ausblieben: Wie erwähnt buchte Litauen nichts auf das russische Konto. Aber: Nervend war diesmal, dass durch algorithmische Systeme in den sozialen Medien die Platzierungen des Abends weitgehend präzise prognostiziert wurden. Schweden etwa ist seit zwei Monaten konstant auf dem ersten oder zweiten Platz in allen einschlägigen Weissagungscharts.
Die ARD wird sich für das kommende Jahr einen anderen Modus für den Vorentscheidung zurechtlegen. Es wäre günstig, würde dieser sich an den Gepflogenheiten und medialen Möglichkeiten des Internets stärker orientierten – und außerdem viel mehr Stile zur Konkurrenz bringen als dieses Jahr in Hannover. In der Erbschaft von Lena ließe sich sagen: mehr Risiko zum Neuen, und sei es jenen aus den alternativen Szenen. Der ESC von Wien beweist, dass man mit anspruchsvollen Nummern punkten kann – Lettlands Trance-Act oder die belgische Dance-Elektro-Geschichte sind moderner als vieles, was in deutschen Vorentscheiden je angeboten wurde.
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