Europas Kulturhauptstadt 2023: Erinnerung beleuchten
Timişoara (auch: Temeswar) ist Europas Kulturhauptstadt 2023. In der mehrsprachigen rumänischen Stadt begann die Revolution von 1989.
Die Lichtinstallation ist Teil des Museums Memorial. Seit 1995 erinnert es an die Rumänische Revolution, die hier begann. Der Preis der Proteste war hoch, allein in Timişoara kamen rund 100 Menschen ums Leben. Im Nebenraum, der einer orthodoxen Kapelle nachempfunden ist, stehen ihre Namen samt Alter an der Wand. Viele wurden keine 30, das jüngste Opfer wurde nicht einmal 2 Jahre alt.
Mehr noch als ein Ort der Trauer ist es ein Ort der Scham. Draußen bröckelt der Putz, drinnen sind die Treppenstufen ausgetreten. Wer sich in der Stadt umhört, bekommt den Unmut über den schlechten Zustand zu hören. Das Museum verhöhne die Opfer und würde ihres Gedenkens nicht gerecht, heißt es. Doch als Geburtsort der Revolution präsentiert sich Timişoara auch andernorts kaum. Mit dem „Memorial“ ist es wie mit der Erinnerung an die Revolution – beide scheinen schlecht gealtert.
Stadt unter Strom
Die Kulturhauptstadt Europas wirbt 2023 vor allem mit Konzerten, Ausstellungen und Theateraufführungen. Vor der Oper, von dessen Balkon die Menschen 1989 ihre Parolen riefen, steht ein vertikaler Garten. Im Jahr 2023 soll alles in neuem Glanz erstrahlen, passend zu dem offiziellen Slogan: „Shine your light“ – „Lass dein Licht leuchten“. So wie es die Stadt einst vor allen anderen europäischen Städten tat. Ab 1884 erhellten hier erstmals elektrische Straßenlaternen die Bürgersteige. Da hatte es etwas geradezu Ironisches, als im vergangenen Februar zur Eröffnungsfeier der Strom ausfiel und die Gäste nur per Handytaschenlampe aus der Oper herausfanden.
Timişoara war schon vor zwei Jahren als Kulturhauptstadt vorgesehen. Dann kam die Coronapandemie und alles wurde verschoben. Was allerdings nicht dazu führte, dass alles pünktlich fertig geworden wäre. Es passt so gar nicht zum Selbstbild der Stadt, die sich rühmt, dass sie in der Vergangenheit anderen oft voraus war.
Temeswarer Talente
Nachdem die Habsburger das verwüstete und verwaiste Banat im 18. Jahrhundert von den Osmanen zurückerobert hatten, lockten sie Kolonisten an. In mehreren Wellen kamen vor allem Menschen aus dem süddeutschen Sprachraum. Da der Ausdruck „Schwabe“ damals ein gängiger Begriff für alle Deutschen war, hießen die Neuen bald „Banater Schwaben“. Während sie das sumpfige Umland besiedelten, gingen Beamte und Offiziere aus Wien mit ihren Familien in die Stadt, was ihr den Beinamen „Klein-Wien“ einbrachte.
Zwei Jahrhunderte lang war Temeswar – wie die Stadt auf Deutsch heißt – Teil des Habsburgerreiches. Dessen Jugendstilbauten prägen sie bis heute. Im Jahr 1718 entstand hier die erste Brauerei, 1869 die erste Straßenbahn auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens. Neben Deutsch sprachen die Menschen hier auch Jiddisch, Romani, Rumänisch, Ungarisch, Serbisch oder Bulgarisch und feierten zweimal im Jahr Ostern.
Von den Nachkommen der Zugewanderten zogen viele hinaus in die Welt, wie Ferenc Illy. Der 1892 geborene Sohn einer Banater Schwäbin und eines Ungarn gründete in den Dreißigerjahren in Triest das Kaffeeunternehmen „illycaffè“. Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009, und Stefan Hell, Chemie-Nobelpreisträger 2014, besuchten das renommierte Nikolaus-Lenau-Lyzeum. Und Johnny Weissmüller, der mehrfache Schwimmolympiasieger und wohl berühmteste Tarzandarsteller der Filmgeschichte, übte 1904 hier seine ersten Schreie.
Banater Badener
„Hier hat Europa gelebt und geatmet, lange bevor es die Europäische Union gab“, sagt Dominic Fritz. Mit 19 kam er aus dem Südschwarzwald hierher, um in einem Kinderheim sein Freiwilliges Soziales Jahr zu verbringen. Mit 40 sitzt er heute im Rathaus, als Bürgermeister. Dazwischen machte er Lokalpolitik für die Grünen in Frankfurt am Main und schrieb Reden für den Bundespräsidenten a. D. Horst Köhler. Als 2017 in ganz Rumänien die „Antikorruptions-Proteste“ begannen, war Fritz in Timişoara dabei. Damals habe er einen Kandidaten gesucht, der gegen den amtierenden Bürgermeister antreten wollte, sagt er. Er fand niemanden, also stellte er sich selbst zur Wahl. Das europäische Recht, das es EU-Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, an ihrem Wohnort bei Kommunal- und Europawahlen anzutreten, machte es möglich. Sein Gegner versuchte zunächst, ihn zu ignorieren und dann als „fremden Abenteurer“ abzutun. Ohne Erfolg. Im Jahr 2020 wurde Fritz mit „fast absoluter Mehrheit“ gewählt, wie er grinsend erzählt.
Das Banat ist eine der wohlhabendsten Regionen Rumäniens, Timişoara hat „fast null Arbeitslosigkeit“, sagt Fritz. Derzeit ist die Stadt im Umbruch: 60 Kilometer Kanalnetz werden saniert, 90 Straßen wurden aufgerissen. All das werde nicht im Laufe dieses Jahres erledigt sein. Auch die übrigen Baustellen nicht. Dabei geht es, wie vor 300 Jahren, ums Trockenlegen: Wie die Kolonisten einst die umliegenden Sümpfe entwässerten, so will Fritz heute den Pfuhl aus Filz und Betrug trockenlegen. „Ich kämpfe mit zwei Händen, die mir auf dem Rücken zusammengebunden sind“, sagt er. Für die Kommunalwahlen im kommenden Jahr gibt Fritz sich dennoch zuversichtlich.
Verblassende Erinnerung
Die Tatsache, dass ein kaum bekannter Deutscher wie er Bürgermeister werden konnte, gilt manchem schon als Beweis dafür, welche Bedeutung Europa hier hat. Doch Timişoara ist heute vor allem eine rumänische Stadt. Von den Banater Schwaben leben nur noch rund 15.000 in der Region. Die Polyfonie Kakaniens erklingt nur noch selten. Oder um es mit Dan-Adrian Cărămidariu zu sagen: „Das Banat ist eine Erinnerung.“
Im Jahr 1989 sei die multikulturelle Prägung noch spürbar und eine Ursache dafür gewesen, dass die Revolution hier ihren Anfang nahm, sagt der 40-jährige Journalist. „Temeswar hat es nicht geschafft, sich als Stadt der Revolution zu positionieren.“ Hinzu kämen Kumpanei, Korruption und dass sich die Stadt nicht weiterentwickele. Auch Fritz habe das nicht beheben können. Für die Zukunft sieht Cărămidariu schwarz: „Wäre ich heute jung, würde ich auswandern“.
Laut dem Kulturhauptstadt-Komitee, das erst im vergangenen Jahr ausgetauscht worden ist, weil zuvor kaum etwas voranging, soll im Jahr 2023 etwas Bleibendes entstehen. Mehr noch als Gäste aus dem Ausland anzulocken, soll der Titel Kulturhauptstadt nach innen wirken: „Die Leute sollen wieder an die Stadt glauben“, sagt Komiteemitglied Vlad Tăuşance. „Sie sollen erkennen, dass es sich lohnt, hier zu leben und Kinder großzuziehen.“ Damit die Stadt weiter leuchtet und nicht alle Erinnerung im Dunkel verschwindet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste