Ethnologe Marin Trenk über Esskultur: „Als mir klar wurde, was ich aß …“
Fünf-Penis-Suppe, vergammelte Fischsoße, Ziegenauge? Kann man alles essen. Ein Gespräch über religiöse Speisetabus und den faschistoiden Sonntagsbraten.
Der kulinarische Ethnologe Marin Trenk schlägt als Interviewort das „Döpfner’s im Maingau“ vor, ein Frankfurter Restaurant mit einer vergleichweise verwegenen Speisekarte. Schon auf dem Weg dorthin studiert Trenk unentwegt die aushängenden Angebote anderer Lokale. Die Macht der Gewohnheit. Im „Döpfner’s“ begeistern ihn besonders die Ochsenbäckchen („die gibt es Gott sei Dank wieder zu kaufen“) auf Steckrüben („ein völlig unterschätztes Gemüse“).
taz: Fremdes Essen zu kosten ist Ihr Job. Haben Sie auch schon mal dankend abgelehnt?
Marin Trenk: Es ist schon mal vorgekommen. Einmal bekam ich angebrütete Enteneier serviert, eine lokale Spezialität in Thailand. Man lässt die Enten brüten und einen Tag vor dem Schlüpfen werden die Eier gekocht. Man hat also, wenn man das Ei aufschlägt, ein voll entwickeltes Entenküken auf dem Teller. Ich war darauf nicht vorbereitet – und sehr irritiert. Das hat bei mir eine massive Ekelreaktion ausgelöst.
Dennoch ist thailändische Küche Ihr liebstes Forschungsgebiet geworden. Was fasziniert Sie so?
Ich habe wirklich viele Länder und Küchen kennengelernt, aber nicht so eine unglaubliche Vielfalt, so einen Facettenreichtum wie in Thailand. Die Thais haben eine der essfixiertesten Kulturen der Welt. Ich bin heute noch begeistert, wenn ich daran denke, wie ich zum ersten Mal auf Laos – das kulinarisch zu Thailand gehört – einen Papayasalat gegessen habe.
Hört sich jetzt nicht so ungewöhnlich an.
Doch! Sehr bemerkenswert! Diese Version ist außerordentlich radikal im Geschmack. Der Salat wird dort mit einer fermentierten Fischsoße zubereitet, die „Padek“ heißt – vergammelter Fisch. Man nimmt Fische, salzt sie ausgiebig und lässt sie in Fässern mehrere Monate in der Sonne stehen. Da geht die Post ab. Sie stinkt barbarisch. Aber in kleinen Mengen ist diese Soße der Wahnsinn, hat einen unglaublich wuchtigen, erdigen Geschmack. Am Papayasalat wird ein Prinzip der laotischen Küche deutlich: immer noch eine Geschmacksnote draufsetzen. Zunächst kommt die Fischsoße auf die geschredderte Papaya. Ist schon extrem. Man gibt auch noch scharfen Chili mit rein. Reicht aber noch nicht. Man legt noch eine fermentierte Krabbe, die wie ein kleiner Skorpion aussieht, dazu. Das sattelt noch einen drauf. Und abschließend noch eine kleine Frucht, die wir als haitische Pflaume kennen, und die unglaublich bitter und gleichzeitig sauer ist. Die gibt noch einen zusätzlichen Kick.
Schmeckt das nur mutigen Essern wie Ihnen oder auch normal veranlagten und daher geschmacklich eher beschränkten Mitteleuropäern?
Es ist wie bei komplexem Käse, man muss sich an den Geschmack erst gewöhnen. Es ist ein Lernprozess. Aber als erfahrener Esser merkt man gleich: Das ist ein Geschmackswunder.
Wie weit werden die Grenzen des Essbaren bei den Thais denn ausgedehnt?
Zuweilen sehr weit. Es werden zum Beispiel auch Ratten gegessen, aber nur die aus den Reisfeldern, nicht die Kanalratten. Das ist eine ganz andere Art von Ratte.
Wie beruhigend.
Der Essensforscher Marin Trenk ist 1953 in Crvenka im ehemaligen Jugoslawien geboren und wollte schon als Jugendlicher Ethnologe werden. Er ist Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Bekannt wurde Trenk als Autor des Buchs „Döner Hawaii – unser globalisiertes Essen“ (Klett-Cotta 2015).
Die kulinarische Ethnologie ist ein Forschungsgebiet innerhalb des Studienfachs Ethnologie (vulgo: Völkerkunde). Die kulinarische Ethnologie beschäftigt sich mit der Frage, warum wir essen, was wir essen – und damit, was dieses Verhalten über das Selbstverständnis einer Kultur aussagt beziehungsweise wie diese sich verändert.
Das Problem ist nur, dass die sich eben doch sehr ähnlich sehen. Der nackte Ringelschwanz – das ist schon eine richtige Provokation in einer Suppe. Ich habe es einmal gegessen, ohne es zu wissen – bis ich den Schwanz auf dem Löffel hatte. Normalerweise unterhalte ich mich mit den Leuten vorher immer übers Essen. Aber in dem Fall nicht, das war mein Fehler. Es war in einem kleinen Dorfladen. Der Krämer hatte nie sehr viel zu tun und kochte nebenher gern. Wenn ich mein Bier kaufte, wurde mir also meistens auch etwas zu essen angeboten. Ich fand das Gericht mit der Ratte ansonsten ganz toll, es war mit vielen bitteren Kräutern zubereitet, intensiv im Geschmack. Wir waren ins Gespräch vertieft und ich hatte vergessen zu fragen, was genau er gekocht hatte. Als mir klar wurde, was ich aß, war es wirklich ein Schock. Ratte ist in unserer Kultur einfach ein Kerntabu.
Wurden in Europa nie Ratten gegessen?
Nur in allerschlimmster Not, etwa zur Zeit der Religionskriege. Oder auf Schiffspassagen, wo die Nahrung ausgegangen ist. Aber das ist alles völlig jenseits der normalen Alltagskultur.
Haben Sie den Rattenschwanz beiseitegelegt und weitergegessen?
Nee, Ratte war für mich so aufgeladen, ich konnte nicht weiteressen und brauchte noch ganz viel Bier an dem Abend. Mir ist bestimmt für 24 Stunden der Appetit vergangen. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu säubern, und das ging nur mit literweise Bier. Es ist das eine, als Ethnologe über Speisetabus zu reflektieren, und das andere, es selbst zu erleben.
Die Speisetabus sind also kulturell tief verankert?
Sehr tief. Einmal war ich bei den Ibo in Nigeria mit einem Ziegenauge in der Soße konfrontiert. Das fand ich nicht begeisternd, aber es ging. Ich hatte es schon in der Hand und habe es dann auch gegessen. Alles andere wäre sehr grob gewesen. Auch in der europäischen Tradition wurden beispielsweise Kalbsaugen gegessen. Augen oder auch Innereien sind etwas Seltenes, aber sie sind kein Tabu.
Gehören Insekten auch zu verbreiteten Speisetabus?
Nein, im Gegenteil. Es gibt nur wenige Kulturen auf der Welt, die keine Insekten essen. Die Ablehnung scheint mir eher typisch für den heutigen Westen zu sein. Allerdings auch relativ neu: Die alten Römer haben eine ganze Reihe von Insekten gegessen, und die alten Griechen ebenso. Geschmort, mit Honig überzogen. Gerne werden auch die ungeschlüpften Larven von Bienen gegessen. Witchetty Grubs, bis zu sieben Zentimeter große Holzbohrermaden, werden auch roh verspeist, zum Beispiel von den australischen Aborigines. In vielen Gegenden Afrika isst man unheimlich gern gegrillte Termiten und Heuschrecken, wo immer man ihrer habhaft werden kann. Die Laoten, die ja immer noch eins draufsetzen, essen mit großer Begeisterung die Larven der roten Ameise: in Currys und Salaten etwa. Das sind so kleine weiße Dinger, die, wenn man darauf beißt, zerplatzen. Schmecken säuerlich. Ist in kleinen Mengen ein tolles Geschmackserlebnis, eine Art von Kaviar.
Entwicklungspolitiker, die darauf setzen, dass mit mehr Insekten auf dem Speiseplan der Hunger besiegt werden könnte, haben demnach durchaus Chancen?
Ja, in den meisten Kulturen rennt man damit offene Türen ein.
Welche Funktion haben Speisetabus eigentlich?
Die ausgeprägtesten Speisetabus sind in der jüdischen Kultur zu finden. Alles was aus dem Wasser kommt und keine Schuppen hat, ist nicht erlaubt, wie etwa Shrimps und Hummer. Wiederkäuer mit gespaltenem Huf sind immer koscher, andere Tiere aber eben nicht. Auch Milch und Fleisch werden nicht gemischt. Der Katalog dessen, was nicht als koscher gilt, ist sehr umfangreich. Warum es Speisetabus gibt, darüber gibt es in der Forschung keinen Konsens. Einige glauben, dass die Gemeinsamkeit der tabuisierten Speisen darin liegt, dass sie von der Norm abweichen. Aber wenn man einen Schritt zurücktritt, macht man als Ethnologe eine interessante Beobachtung: Es gibt nichts, was nicht in einem Teil der Welt tabuisiert ist, in einem anderen aber gern gegessen wird. Die Schlussfolgerung daraus lautet: Tabus sind willkürlich. Sie haben nichts mit der Speise an sich zu tun, sondern sie erfüllen eine Funktion: Abgrenzung. Schon Max Weber hat gesagt, dass die alten Hebräer vermutlich nur deshalb als Volk überlebt haben, weil sie ihre Distinktion erhalten haben.
Also letztlich sind Speisetabus eine kulturelle Überlebensstrategie?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Genau. Deshalb hat das Christentum mit seinem universellen Anspruch die Speisetabus auch abgelegt. Und auch der Islam hat es auf ein Tier, das Schwein, beschränkt. Die Tabus sollen die Menschen im Alltag daran erinnern, wer sie sind. Gleichzeitig wird der Kontakt mit anderen Kulturen und Religionen radikal eingeschränkt. Mehr als ein Glas Wasser kann man einem ultraorthodoxen Juden nicht anbieten. Mit Essen kann man sich wundervoll von anderen unterscheiden. Deshalb ist es als Abgrenzungsmerkmal so beliebt.
Existieren auch universelle Speisetabus?
Ja, das eine ist Menschenfleisch …
Was ist denn mit den Kannibalen?
Auch bei Kannibalen gehört Menschenfleisch nicht zur Allagsesskultur. Es stellt sich keiner hin und sagt: Was esse ich denn heute Mittag mal? Ein Huhn oder lieber meinen Nachbarn? Wo Menschenfleisch gegessen wird, geschieht dies immer in einem rituellen, mit Bedeutung aufgeladenen Kontext – zum Beispiel, um sich die Kräfte des Feindes anzueignen oder um die verstorbenen Verwandten in sich weiterleben zu lassen. Aus der Archäologie wissen wir, dass das schon immer gemacht wurde. In jüngerer Geschichte hatten wir es in größerem Ausmaß im Krieg um Kambodscha. Dort gab es Einheiten, die Menschenfleisch erst aus einer Notlage heraus gegessen haben, es später aber auch gezielt eingesetzt haben, um Terror zu verbreiten. Wenn die kamen, rannten alle weg. Aber abgesehen von dieser rituellen Verspeisung scheint Menschenfleisch tatsächlich nach allem, was wir bisher wissen, ein universelles Tabu zu sein.
Sind Geschlechtsteile nicht auch eher tabu?
Nein, die werden vielerorts gegessen. In China gibt es beispielsweise die berühmte Fünf-Penis-Suppe.
Klingt verlockend. Schon mal gegessen?
Für mich sind Hoden zwar kein Problem. Die schmecken in Scheiben geschnitten fast wie Pilze. Aber Penis ist nicht so mein Ding. Oft werden für Geschlechtsteile selbst in den essbegeistertsten Kulturen Umschreibungen benutzt. In thailändischen Kulturen heißt es dann „das besondere Ding“. Auch die essverliebten Franzosen nennen Hoden auf der Speisekarte „weiße Nieren“. Solche Tarnnamen klingen appetitlicher.
Außer Menschenfleisch sind also keine universellen Speisetabus bekannt?
Ausscheidungen vielleicht noch. Obwohl halbverdaute Darminhalte in vielen Kulturen durchaus gegessen und sogar als Delikatesse angesehen werden.
Wer findet so etwas denn lecker?
Bei uns ist das natürlich ein No-Go. Aber die Inuit, die sogenannten Eskimos, essen gerne den halbverdauten Dickdarm eines Seehundes. Die Thais essen so was auch.
Wurden Ihnen bei Ihren Forschungen auch schon mal Verdauungsprozesse angeboten?
Ich war mal in Kenia bei den Kisi in einem kleinen Dorf zu einem Abschiedsessen eingeladen. Es wurde ein Schaf geschlachtet und es dauerte unendlich lange, bis besprochen war, wem welches Teil dieses Tieres zustand und wie es zubereitet werden sollte. Ich wurde immer hungriger. Es war schon tiefe Nacht, als es endlich was gab. Ich griff bei etwas Gegrilltem zu, wusste aber nicht genau, was es war. Ich drücke drauf und es fällt links und rechts so ein Köttel raus. Man hat sich gewundert, dass ich das nicht essen wollte.
Die afrikanische Küche schätzen Sie nicht so?
Das stimmt gar nicht. Es kommt darauf an, um welche es geht. In manchen Regionen wird überhaupt nicht gewürzt. Ich war zum Beispiel mal bei den Luo am Victoriasee in Kenia, wo man das Würzen als völlig überflüssig ansieht.
Ist das selten?
Nein, es gibt viele Kulturen, die gar nicht würzen, auch die Inuit tun das nicht. Die lassen höchstens mal eine Speise vergammeln – Fermentierung ist eine geschmackssteigernde Konservierungstechnik. Afrika ist zweigeteilt. An der westafrikanischen Küste isst man sehr gerne sehr scharf. Das finde ich wunderbar. Sehr wuchtig, mit viel Geschmack. Aber bei den kenianischen Luo oder auch in einigen Gegenden von Mali wird kaum gewürzt.
Bedroht die Globalisierung der Küche die regionalen Küchen Europas?
Kommt darauf an. In vielen Teilen Deutschlands hat man sich aus der regionalen Küche zurückgezogen. Das ist ein Unterschied zur Schweiz, wo man an den eigenen Essgewohnheiten festhält und sie mit Internationalem ergänzt. Die meisten Deutschen haben sich dagegen vom Sauerbraten und der eigenen Esstradition weitgehend abgewandt.
Ist das deutsche Essen den jüngeren Deutschen ähnlich peinlich wie die deutsche Geschichte?
Es gibt diesen kulturellen Bruch der 60er Jahre: Sich von der Generation der Eltern abzuwenden bedeutete auch, sich von deren Essgewohnheiten fernzuhalten. Sie wurde als deutschnational und damit ungut betrachtet. Der Sonntagsbraten ist in diesem Kontext fast schon faschistoid. Emanzipation, das waren trockene italienische Weine und Pasta statt „Liebfrauenmilch“ und Kartoffeln. Es ist Ausdruck des gebrochenen Verhältnisses zum eigenen Land und der eigenen Tradition. Das erklärt vielleicht auch unsere überraschende Neophilie nach 1945. Die gibt es in dieser Dimension woanders nicht.
Hat sich auch das Verhältnis zum Fleisch grundsätzlich geändert?
Fleisch wird gegessen, aber es darf nicht wie ein Tier aussehen. An den Fleischtheken sind nur noch Teile zu sehen. Und wenn schon ein ganzes Huhn, dann aber ohne Kopf und Füße. Es ist eine Entfremdung vom Entstehungsprozess, ein Trend, der aus den USA kommt. Das Fleisch soll auch nicht zu fleischig schmecken. Deshalb ist die erfolgreichste Fleischsorte bei uns Hühner- und Putenbrust, die so gut wie keinen Eigengeschmack haben. Wir wollen nicht mehr daran erinnert werden, dass wir Tiere essen. Neulich habe ich ein Kotelett von einem Wollschwein gegessen, eine archaische Schweinesorte. Ich war selbst überrascht, wie intensiv der Geschmack war. Jemand, der normales Schwein gewohnt ist, würde einen Schock bekommen, denn Tiergeschmack wird nicht wertgeschätzt. Man fürchtet sich vor der Tierhaftigkeit. Wenn man so weit ist, dann kann man eigentlich auch vegetarisch essen. Dieser Umgang mit Fleisch ist für mich eine starke Verarmung der Küche.
Was ist denn Ihre Lieblingsspeise?
Das hat mit Kindheitserinnerungen zu tun – Comfort Food. Ich habe eine große Leidenschaft für Kürbisstrudel, eine Esstradition aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus dem meine Familie stammt. Das gibt es sonst als süßen Strudel nirgendwo. Schmeckt ganz wunderbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr