Essay zum Karneval: Einfach, narrisch
„Die Sau rauszulassen“ ist eigentlich eine gute Sache. Der Karneval aber gleicht einer Auflehnung, die man sich vom Kassenwart genehmigen lässt.
A ls mich die Tomate im Gesicht getroffen hat, habe ich Karneval verstanden. Erst sah ich buchstäblich rot, weil es wirklich fürchterlich klatschte und mir die Soße in den Ausschnitt meines Hemdes tropfte. Weil ich aber nicht sehen konnte, wer die Tomate geworfen hatte, griff ich mir selbst welche und begann nun meinerseits, sie beherzt auf Fremde zu schleudern.
Die Tomaten flogen sowieso nur so hin und her an diesem Nachmittag, sie zerplatzten an Hauswänden und Windschutzscheiben und – Hurra! – an den Körpern anderer Leute. So verwandelte sich meine ursprüngliche Empörung über den Regelbruch in einen ausgelassenen Rausch.
Bald war die ganze Straße rot und glitschig von glänzendem Tomatenmatsch und blutbadmäßig eingefärbten Menschen, die ganze Welt versank im Taumel eines erotischen Scheingemetzels.
In Buñol war das, bei Valencia, wo einmal jährlich die Ernte der Tomaten zum Anlass genommen wird, in freudiger Vernichtung aller Überschüsse eine öffentliche Ausgelassenheit zu inszenieren. Diese „Tomatina“ ist vergleichsweise jung. Feste anderswo auf der Welt werden bisweilen seit Jahrtausenden gefeiert. Manchmal ändern sie mit der Zeit nur den – ohnehin vorgeschobenen und meist religiösen – Anlass und den Namen.
Im Kern aber drückt sich in ihnen das menschliche Grundbedürfnis aus, für ein Weilchen gemeinschaftlich „die Sau rauszulassen“ und das gesellschaftliche Gefüge auszuhebeln.
König von Lugasch
Hierzulande ist – sieht man einmal vom Oktoberfest, dem Cannstatter Wasen und vergleichbaren Massenbesäufnissen „im ländlichen Raum“ ab – eine solche Saturnalie der Karneval.
Das Prinzip hat sich nicht geändert, seit es mit den ersten Hochkulturen in Mesopotamien entstanden ist. Laut einer 5.000 Jahre alten und heute im Louvre aufbewahrten altbabylonischen Keilschrift verfügte erstmals der sumerische König von Lugasch, dass „kein Getreide […] an diesen Tagen gemahlen“ werde, „die Sklavin […] der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite“ zu stehen habe, kurz, für Begriffsstutzige: „Die Mächtige und der Niedere sind gleich geachtet“.
Karneval oder Fasching bewahren im Grunde das Erbe dieses Brauchtums, wenngleich angepasst an kirchliche Feier- beziehungsweise Fastentage. In typisch katholischer Tradition, den Geboten des Allmächtigen noch einen kleinen Vorteil abzugewinnen, konnte man sich vor den mageren Tagen noch einmal schön den Bauch vollschlagen.
Später ermöglichte es die Fastnacht, sich in Köln straffrei über die Preußen oder in Mainz über die Franzosen lustig zu machen – gerne mit „Prinzen“ und „Räten“ und „Sitzungen“, die reale Herrschaftsmittel in die satirische Verballhornung überführten. Der Kragen der Klassenzugehörigkeit kann hier gelockert und die Zumutung der zugewiesenen Rolle zurückgewiesen werden, die man „im normalen Leben“ zu spielen hat.
Zur Frau werden, hihi
Wer mit dieser Rolle hadert, ist hier eingeladen, qua Kostümierung kurzfristig mal performativ zum „Indianer“ zu werden, zum „Sträfling“ oder, hihi, zur „Frau“.
Das Angebot ist attraktiv für Menschen, die sich ansonsten recht auskömmlich mit den Verhältnissen arrangiert haben und das tun, was man „funktionieren“ nennt. Wie aus dem Alltag oder bei der Urlaubsplanung gewohnt, soll auch der Frohsinn effizienter Planung unterliegen.
In Deutschland hat daher, wie in Deutschland üblich, der Brauch inzwischen seine ideale und endgültige Form in der Vereinsmeierei gefunden. Auflehnung, die man sich vom Kassenwart genehmigen lässt. Revolution als harmlose Pastiches, über die gerade auch die Mächtigen herzlich lachen können – weil das parodistische Ventil hilft, den politischen Druck auch auf Dauer aufrechtzuerhalten.
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Deshalb kommt gerade bei einer folkloristischen Veranstaltung wie dem Karneval zum Vorschein, was man die „Seele“ der Teilnehmenden nennen könnte. Ob das nun die Seele „des Volkes“ ist oder notwendigerweise, wie bereits geschehen, völkische Züge annehmen muss, sei dahingestellt oder den jeweiligen Zeitläuften überlassen. Fest steht, dass bei so einer Stunksitzung viel Volk feiert.
Dabei trinkt es, was es trinken will. Es singt, was es singen will. Es lacht, worüber es lachen will. Der Schützen- oder Gemeindesaal verwandelt sich dann in die Fankurve, den Ballermann, den Stammtisch. Mögen muss man das nicht, und der Anblick grölender Spießer in bedrohlich synchronen Schunkelreihen ist oft genug ernüchternd; so wie die „Tomatina“ von Buñol, wenn man gerade seine besten Kleider trägt.
Schlimmstenfalls reaktionär
Das gilt auch für den spezifisch jeckenhaften Humor, der bestenfalls altbacken, schlimmstenfalls reaktionär ist. Gelehrte Leitartikel, in welche Richtung genau nun der „Humor“ zu treten habe, zirkulieren in diesen Kreisen eher nicht. Weshalb es immer wieder – und immer häufiger im Internet – zu Kollisionen zwischen Karnevalisten und Menschen kommt, für die der Quatsch schlicht nicht gemacht oder gedacht ist.
In Sachsen gab es neulich einen Faschingswagen zum Thema „Asyl-Ranch“, mit als Indianern verkleideten Sachsen und einem an den Marterpfahl gebundenen Menschen in Regenbogenklamotten. Wer das aus guten Gründen abscheulich findet, tut dies allerdings in wohlfeiler Stellvertretung einer Wirklichkeit, die sich für irgendwelche Hinterwäldler eben anders darstellt als für Teilnehmerinnen des Karnevals der Kulturen in Berlin-Kreuzberg.
Auf moralische Zurechtweisungen wie „Du sollst nicht kulturell appropriieren!“ oder „Du sollst der Geschlechtergerechtmachung der Sprache nicht spotten!“ oder „Du sollst keine Minderheiten verhöhnen!“ reagiert der Narr, wie er schon immer auf Einwände einer Obrigkeit reagierte – mit dem störrischen Schulterzucken, das er übrigens auch schon immer für akademische Fragen übrig hatte.
Hilfreich wäre, vielleicht, sich nicht selbstgerecht am Karneval und seinen Auswüchsen abzuarbeiten. Sondern die Veranstaltung als Gelegenheit zu begreifen, einen unverstellten und beinahe ethnologischen Blick auf „die Leute“ werfen zu können, wie sie bisweilen noch sind und vermutlich auch noch eine Weile bleiben werden. Sie haben das Gefühl, sich nach oben stemmen zu müssen.
Wenn Merz geroastet wird
Wer das zu ernst nimmt, sollte sich das Gesicht von Friedrich Merz anschauen. Also nicht sein Normalgesicht. Sondern sein Faschingsgesicht, als er neulich einer Rede von Marie-Agnes Strack-Zimmermann lauschen musste.
Weil doch Politiker – zuletzt Annegret Kramp-Karrenbauer als „Putzfrau Gretl“ oder Markus Söder in seiner Paraderolle als „Shrek“ – durchaus die Nähe zum Volkstümlichen suchen. Die FDP-Verteidigungsexpertin hatte sich als Vampir verkleidet und den CDU-Chef geroastet, wie man neuerdings sagt. So, wie Merz anschließend guckte, möchte man wirklich nicht aussehen.
Wenn er eine Tomate zur Hand gehabt hätte, wer weiß, es hätte sogar noch lustig werden können.
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