Essay Britische Kolonialnostalgie: Kein neues Empire

Im Diskurs um den Brexit verraten die Argumente der Brexiteers vor allem eins: ihre kolonialen Denkmuster und Weltherrschaftsfantasien.

EIn laufender Safarihut, dem hinten eine britische Fahne herausweht.

Der Brexit hat gezeigt, wie gespalten die britische Gesellschaft ist Illustration: Katja Gendikova

Für mich als Pendlerin zwischen London und Berlin ist das Polit-Drama rund um den Brexit ganz großes Kino. Es wurde allerdings auch immer schwieriger, bei all den unterschiedlichen Lagern und Interessen noch den Überblick zu behalten. Nach mehr als zwei Jahren angespannter Verhandlungen und politischer Turbulenzen hat die britische Premierministerin Theresa May nun endlich einen Entwurf für ein Ausstiegsabkommen mit den EU-Verhandlungsführern Entwurf für ein Ausstiegsabkommen mit den EU-Verhandlungsführern vorgelegt.

In London konnte ich in der Woche der Ankündigung das Drama, das sich nach dem Ausbruch dieser Nachricht entfaltete, quasi aus der ersten Reihe beobachten. Inmitten der sich stetig weiterspinnenden Berichterstattung über jede Entwicklung, der hochkarätigen Rücktritte, der Forderungen nach einem Herausforderer für May und einem zweiten Referendum war klar, dass das Chaos um den Brexit noch lange nicht vorbei ist.

Der Brexit hat aber nicht nur gezeigt, wie vielfach gespalten die britische Gesellschaft ist. Er hat auch offenbart, mit welcher Inbrunst gewisse Kreise die Idee einer glorreichen britischen Vergangenheit hochhalten. Das reicht von dem konservativen Politiker David Davis, der den Kriegsminister Winston Churchill zitierte, mit Äußerungen über „unseren“ Sieg im Zweiten Weltkrieg, bis hin zu Slogans, die dazu aufriefen, „Großbritannien wieder das ,Groß' zurückzugeben“.

Der ehemalige Außenminister Boris Johnson schlug wütend auf den Entwurf des Abkommens ein und behauptete, es sei das erste Mal in 1.000 Jahren politischer Geschichte, dass britische Gesetzgeber kein Mitspracherecht bei den Gesetzen hätten, die im Land herrschten. Johnson, wahrscheinlich der lauteste Cheerleader des Brexits, war besonders sentimental gegenüber der imperialen Vergangenheit der Nation, er appellierte wiederholt an den Nationalismus und rief die Macht des ehemaligen Imperiums auf, sich noch vor dem Referendum gegen die EU zu stellen.

Direkte Verbindungen zur Kolonialgeschichte

Unter Johnson und anderen prominenten „Brexiteers“ scheint die Sehnsucht groß zu sein nach einer vergangenen Welt, in der „die Pässe blau, die Gesichter weiß und die Weltkarte in Empire-Rosa eingefärbt“ war, wie es Vince Cable ausdrückte, der Parteichef der Liberal Democrats. Diese Sehnsucht scheint in den heutigen Brexit-Erzählungen recht präsent zu sein.

Kratzt man nur ein wenig an der Oberfläche, dann findet man sofort direkte Verbindungen zur britischen Kolonialgeschichte. Arron Banks, Mitgründer der „Leave“-Kampagne (gegen den inzwischen wegen des Verdachts auf illegale Kampagnenfinanzierung ermittelt wird), wuchs zwischen Großbritannien und Afrika auf, wo sein Vater unter anderem Zuckerrohrplantagen in Südafrika und Kenia leitete.

Auch Henry Bolton, ehemaliger Vorsitzender der euroskeptischen Partei Ukip, die eng mit der Leave-Kampagne verzahnt war, wurde in Kenia geboren. Und Robert Oxley, ehemaliger Chef des Leave-Medienbüros, soll starke familiäre Beziehungen nach Simbabwe haben. Welche Auswirkungen hatten diese persönlichen historischen Beziehungen zum untergegangenen Kolonialreich auf die Programmatik der Brexit-Befürworter? Und inwiefern beeinflussen sie auch ihre Vision für die Zeit nach dem Brexit?

Gespött im Ausland

Ich bin nicht sicher, wie hilfreich Nostalgie in Bezug auf die britische Kolonialvergangenheit für Großbritannien am Verhandlungstisch ist. In markigen Statements wie „Wenn Europa glaubt, dass sich Großbritannien seinen Forderungen beugen wird, dann sollte es mal einen Blick in die Geschichtsbücher werfen“ steckt der Glaube einiger Brexit-Befürworter, historisch auf der Siegerseite zu sein.

Eine Tatsache zumindest kann nicht ignoriert werden: Das Empire existiert nicht mehr

In Wirklichkeit jedoch war der Umgang Großbritanniens mit dem Brexit eine Katastrophe. Er machte das Vereinigte Königreich zum Gespött im Ausland. Die Gefahr, die ein sogenanntes No-Deal-Szenario, ein ungeordneter Brexit ohne Vertrag, birgt, dürfte für Großbritannien weitaus größer sein als für die Europäische Union. Mit breitbeinigen Posen von gestern aufzutreten ist nicht gerade die beste Idee, wenn es darum geht, in Sachfragen von heute voranzukommen.

Wenn man außerdem die blutige Bilanz der britischen Kolonialgeschichte betrachtet, wie klug ist es dann, diese historische Karte zu spielen? Auch wenn viele anders darüber denken mögen: Großbritanniens Geschichte als Großmacht ist nichts, worauf man stolz sein kann, dafür ist die Liste der kolonialen Verbrechen zu lang. Nach Indiens Unabhängigkeit 1947 wurden hastig Grenzlinien auf der Landkarte gezogen, die zum Tod von schätzungsweise zwei Millionen Menschen führten und mindestens zehn Millionen aus ihrer Heimat vertrieben.

Unter den aufmerksamen Augen des gefeierten Premiers Winston Churchill verhungerten fast vier Millionen Bengalen durch eine menschengemachte Hungersnot in den frühen 1940er Jahren. Und es waren nicht, wie populäre Geschichtsdeutungen nahelegen, die Nazis, die als Erste Konzentrationslager errichteten. In Südafrika starben während der ersten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts Tausende in britischen Concentration Camps.

Indien ökonomisch auf Augenhöhe

Großbritanniens Weltreich-Eroberungszüge, die staatlich genehmigte Zerstörung und der Diebstahl von Land, Existenzgrundlagen und Familien, haben zusammen mit der praktizierten „Teile und herrsche“-Politik unzählige Leben rund um den Globus beeinflusst. Dieses Erbe findet heute einen Nachhall in Kaschmir, Palästina, Irak und weiteren Regionen.

Auch wenn Teile der britischen Gesellschaft bis heute nicht bereit dazu sind, dieses Erbe zur Kenntnis zu nehmen – eine Tatsache zumindest kann nicht ignoriert werden: Das Empire existiert nicht mehr. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg haben die ehemaligen Kolonien ihre Selbstständigkeit erlangt, und auch sonst hat sich seither viel geändert in der Welt.

Aktuelle Zahlen deuten darauf hin, dass Indien, einst Kronjuwel des Empire, mittlerweile ökonomisch auf Augenhöhe ist mit seinem einstigen Herrscher. Und jegliche Ambitionen, die Großbritannien heute in Afrika hegt, drehen sich inzwischen darum, die Aufholjagd mit China zu gewinnen, das jetzt der größte Investor für Handel, Infrastruktur und andere Wirtschaftszweige auf dem Kontinent ist.

Wenn also Premierministerin Theresa May davon spricht, nach einem Austritt aus dem EU-Binnenmarkt Geschäftsbeziehungen zu „alten Freunden“ wieder aufnehmen zu wollen, dann muss man wohl annehmen, dass sie damit die ehemaligen Kolonien meint. Doch Großbritannien sollte nicht erwarten, mit offenen Armen in Ländern begrüßt zu werden, die die alten Beziehungen als weniger „freundlich“ ansehen. Es gab bereits erste Signale der Zurückweisung: Auf einem von Großbritannien ausgerichteten Commonwealth-Gipfel Anfang dieses Jahres machten Oberhäupter ehemaliger Kolonien sehr deutlich, dass das Leben nach dem Brexit auf keinen Fall ein Empire 2.0 bedeuten wird.

Kingori, Rees und Olusoga

Nicht nur im Ausland regt sich Widerstand gegen solche Ideen. Die britische Gesellschaft von heute ist voller Erfolgsgeschichten von Menschen mit Wurzeln im ehemaligen Empire. Vanessa Kingori, Verlagsleiterin der britischen Vogue, ist geboren und aufgewachsen in Kenia und auf der Karibikinsel Saint Kitts. Als eine der mächtigsten Frauen im Modejournalismus verfolgt sie das Ziel, den Wandel ihre Branche hin zu mehr echter Vielfalt voranzutreiben.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Da ist Marvin Rees, der während seiner Kindheit und Jugend in der ehemaligen Sklavenhandel-Hafenstadt Bristol Rassismus erlebte und vor zwei Jahren Bürgermeister seiner Stadt wurde, der erste in ganz Europa mit afrikanischen Wurzeln. Er geht entschieden gegen den Rassismus in seiner Heimatstadt vor. Und dann gibt es noch David Olusoga, ein britisch-kenianischer Historiker, der fest zum Ensemble der BBC gehört, des ehemaligen Lautsprechers des Empire. In seinen Beiträgen beschäftigt er sich mit Rassismus, Sklaverei-Geschichte und dem britischen Militär.

Diese Namen stehen beispielhaft für eine lange Liste von Menschen, die zu Empire-Zeiten wohl britische Untertanen gewesen wären, heute aber gesellschaftliche Machtpositionen innehaben. Mit ihren persönlichen Geschichten und Per­spektiven im Rücken können sie diese verherrlichende Erzählung von Großbritanniens ruhmreicher Kolonialvergangenheit in Frage stellen – und Probleme angehen, die noch heute bestehen, was Vielfalt und Beteiligung in der britischen Gesellschaft angeht.

Die Tage von „Rule-Britania“ sind vorbei

Für mich, mit Wurzeln in Kenia und Indien, ist das koloniale Narrativ auch auf persönlicher Ebene schwierig. Der Kolonialismus ist tief in meine Familiengeschichte eingeschrieben, wie es auch bei Millionen anderer britischer BürgerInnen der Fall ist. Die Realität dieses Landes sieht doch so aus: Schottische Geschichte ist gleich karibische Geschichte ist gleich indische Geschichte ist gleich englische Geschichte. So ist es seit Hunderten von Jahren und so wird es auch weiterhin sein. Die Johnsons, Davises und andere Brexiteers mögen das nicht sehen. Doch wie lange wird die britische Mehrheitsgesellschaft diese wichtigen Teile unserer gemeinsamen Geschichte noch ignorieren können?

In diesem Zusammenhang steht auch das größte Problem dieser nostalgischen Erzählung der Brexit-Befürworter. Sie ignoriert nicht nur historische Tatsachen, sondern weigert sich auch, das brutale und zerstörerische Wesen der britischen Kolonialeroberungen zu sehen. Mehr als 200 Jahre nach der Unabhängigkeit der ersten Kolonie ist es im Großbritannien von heute nicht mehr akzeptabel, solche überholten, gewalttätigen und faktisch falschen Geschichtsdeutungen zu verbreiten.

Während das Brexit-Problem weiter vor sich hin rumort, liegen verschiedene Zukunftsszenarien – von einem zweiten Referendum über die Parlamentswahlen bis hin zu den britischen Wahlen, die ohne Abschluss verlaufen – auf dem Tisch. Unabhängig davon, was als Nächstes passiert, wünsche ich mir, dass dieser entscheidende Moment in der britischen Politik einen Ausgang findet, in dessen Rahmen diejenigen Briten, die an historischen Imperialfantasien festhalten, akzeptieren, dass sich das Kräfteverhältnis verschiebt. Die Tage von „Rule, Britannia!“ sind wahrhaftig vorbei.

Übersetzung aus dem Englischen: Nina Apin

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ist Journalistin und arbeitet seit 15 Jahren für unterschiedliche internationale Medien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Rassismus und Postkolonialismus.

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