Erzieher wegen Missbrauch vor Gericht: Dem Hausvater ausgeliefert
In Lüneburg gesteht ein Kinderdorf-Erzieher vor Gericht, dass er über zwanzig Jahre hinweg Jungen missbraucht hat. Viele Fragen bleiben unbeantwortet.
Jetzt muss er sich doch noch vor dem Landgericht Lüneburg verantworten. Aber schon am ersten Prozesstag am vergangenen Freitag wird deutlich, dass diese Gerichtsverhandlung mehr Fragen aufwirft, als sie beantworten kann.
Die Anklage beruht im Wesentlichen auf den Angaben des jetzt 63-Jährigen. Nachdem sich einer der Jungen, sein letztes und jüngstes Opfer, einem anderen Mitarbeiter anvertraut hatte und sein Arbeitgeber ihn mit den erneuten Vorwürfen konfrontierte, entschloss sich Rainer L. zur Selbstanzeige.
Die Anklageschrift kleidet das alles in nüchternen Juristensprech, viele Taten sind nur auf ungefähre Zeiträume zu datieren. Und trotzdem ergibt sich ein schwer erträgliches Gesamtbild. Wenn das alles auf seinen Angaben beruht, dann scheint Rainer L. noch ziemlich genau zu wissen, was er wann mit wem gemacht hat. Und bei welchem Kind er wie weit gehen konnte.
Nirgendwo scheinen die Kinder sicher gewesen zu sein
Im Gemeinschaftsraum beim Fernsehgucken, beim abendlichen Vorlesen, im Bad, im Bett des Hausvaters oder im Bett des Kindes, bei einem Besuch zu Hause beim Vater oder im Zeltlager im Harz – nirgendwo scheinen diese Kinder sicher gewesen zu sein. Kinder, die ohnehin schwer belastet waren, aus zerrütteten Familien stammten.
Und obwohl sich aus der Anklage schon ein ziemlich deutliches Bild von Rainer L.s sexuellen Vorlieben ergibt, beantragt sein Verteidiger anschließend erfolgreich den Ausschluss der Öffentlichkeit.
Sein Mandant will sich erklären, er erspart den Opfern damit, vor Gericht erscheinen zu müssen. Es heißt zur Begründung, es ginge dabei um seine sexuellen Erfahrungen, seine Entwicklung und Identitätsfindung, auch innerhalb seiner gescheiterten Ehe, mithin „Tatsachen aus der absoluten Intimsphäre“. Die seien zwar zum Verständnis der Taten unerlässlich, hätten aber in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.
40 Minuten müssen Publikum und Presse draußen warten, dann lässt man sie wieder in den Saal – zur Einführung der Zeugenaussagen der mutmaßlichen Opfer, in Form von Videovernehmungen. Auf deren Intimsphäre pocht hier niemand.
Von der ersten Zeugenaussage gibt es kein Video, die Richterin liest ein Vernehmungsprotokoll vor. Es handelt sich um die Aussage des Jungen, der 2001 Anzeige erstattete. Dass ihm nun doch noch geglaubt wird, kann er nicht mehr miterleben: Er ist tot.
Von zwei weiteren kindlichen Zeugen werden Vernehmungsvideos vorgespielt, das des Siebenjährigen, der das Verfahren ins Rollen brachte, und eines heute 20-Jährigen. Es ist schwer zu ertragen, wie sie sich winden und ihnen die Worte fehlen, um auch nur annähernd das zu bezeichnen, was ihnen geschehen ist. Vor allem, wenn man weiß, wie Jungs in diesen Altersstufen sonst so reden und aus Freude an der Provokation mit Vulgaritäten um sich werfen.
Am Rande des Prozesses gibt es noch jemanden, der um Worte ringt. Ein Sprecher der Einrichtung verfolgt den Prozess aus dem Zuschauerraum heraus, auch mehrere Ex-Kollegen sind gekommen. Die Einrichtung versucht, den Vorwürfen und Fragen, die sich nun unweigerlich stellen, mit Offenheit zu begegnen. Auch der Geschäftsführer Andreas Olszewski hat im Vorfeld schon mehrere Interviews gegeben. Alle versuchen zu erklären, was kaum jemand nachvollziehen kann. Wie konnte so lange niemand etwas merken? Wieso hat man dem Angeklagten nach der ersten Anzeige so blind vertraut?
Als großartiger Pädagoge galt Rainer L., als toller Kollege, von dem man was lernen kann. Die Kollegen und Kolleginnen, die mit ihm eng zusammen gearbeitet hätten, seien immer noch geschockt, wütend, einige sogar krank geworden, sagt der Sprecher Dirk Schneider.
Das Verfahren damals ist auch nicht schnell eingestellt worden, erklärt er. Es gab Ermittlungen, aber keine weiteren Opfer, die sich offenbarten. Möglicherweise hatte die Staatsanwaltschaft nach einem aussagepsychologischen Gutachten Zweifel an der Belastbarkeit des Opferzeugen. Aber das weiß er nur aus zweiter Hand und den Akten – die Staatsanwaltschaft äußert sich grundsätzlich nicht.
Staatsanwaltschaft wies Beschwerde zurück
Die Stiefmutter und das mutmaßliche Opfer legten damals Beschwerde ein, als die Staatsanwaltschaft entschieden hatte, den Fall nicht vor Gericht zu bringen. Die Generalstaatsanwaltschaft in Celle wies sie zurück.
„Es ist leider so, dass in diesem Arbeitsbereich auch mal falsche Verdächtigungen ausgesprochen werden“, versucht Schneider zu erklären. Davon seien die Kollegen wohl auch in diesem Fall ausgegangen.
Immerhin gab es – in Absprache mit der Heimaufsicht – ein paar Einschränkungen. Die Kinder sollten die Wohnung des Hausvaters nicht betreten, gemeinsames Übernachten in einem Bett war untersagt. Rainer L. hielt sich allerdings nicht daran, eine effektive Kontrolle gab es nicht.
Das hat auch mit dem pädagogischen Konzept zu tun: Die Unterbringung in „familienähnlichen“ Gruppen soll den Kindern die Möglichkeit geben, positive Bindungserfahrungen nachzuholen, stabile, belastbare Beziehungen zu Erwachsenen zu erfahren, Halt zu bekommen – Dinge, an denen es in ihren Familien oft mangelt. Das gilt als wirksames und gutes Konzept. Die zentrale Rolle des Hausvaters oder der Hausmutter macht es aber auch anfällig für Machtmissbrauch.
Die Frage, ob Rainer L. nun so ein meisterhafter Manipulator war, der alle getäuscht hat oder ob nicht vielleicht doch jemand weggesehen hat, wird bleiben. Sie ist auch erst einmal nicht der Gegenstand dieses Prozesses. In dem geht es nur um Rainer L.s Schuld. Zwei weitere Verhandlungstage sind angesetzt, um die zu klären. Möglicherweise wird bereits in dieser Woche ein Urteil fallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin