Erste Obdachlosenzählung in Berlin: Solidarität als Nebenwirkung
Jahrzehnte hat es gedauert, bis sich eine Regierung traut, die Obdachlosen Berlins zu zählen. Besser noch: Sie mutet es ihren Bürger:innen zu.
S eit Jahrzehnten fordern Wissenschaftler:innen und Wohlfahrtsverbände genaue Zahlen zu den Obdachlosen dieser Stadt. Stattdessen gibt es Schätzungen, Vermutungen. Zum Beispiel die, dass die fortschreitende Wohnungsknappheit zu einer sozialen Spaltung führe, die immer mehr Menschen mit einem Leben auf der Straße bezahlen müssten. Nun lassen sich aber Vermutungen leichter hinnehmen als Fakten. Berlins erste Obdachlosenzählung im Januar ist deshalb von großer Bedeutung.
Warum es so lange gedauert hat, diese Zählung auf den Weg zu bringen, berührt im Kern zwei Fragen. Die erste, es ist vermutlich die entscheidende: Wollen wir ganz bewusst dahin schauen, wo die meisten Großstädter:innen reflexhaft die Lider senken? Die Frage ist offenbar lange mit Nein beantwortet worden.
Wie macht man das überhaupt?
Die rot-rot-grüne Koalition hatte sich das Vorhaben Obdachlosenzählung in den Koalitionsvertrag geschrieben und mit Elke Breitenbach eine linke Senatorin eingesetzt, der, das hört man auch immer wieder von Obdachlosen, das Hinschauen ein Anliegen ist. Und die sich deshalb auch die zweite Frage vorgeknöpft hat: Wie macht man das überhaupt, in einer riesigen Millionenstadt diejenigen zählen, die längst aus allen Systemen staatlicher Erfassung herausgefallen sind?
Die Antwort, die man in der Sozialverwaltung darauf gefunden hat, beinhaltet, dass Berlins erste Obdachlosenzählung kein reines Statistikprojekt wird, an dessen Ende belastbare Zahlen stehen. Sondern vielmehr auch eine Nacht, in der die Berliner:innen die Obdachlosen ihres eigenen Lebensumfelds kennenlernen. Für die Frage, ob Berlin die soziale Spaltung hinnimmt, mag das noch entscheidender sein.
Zu verdanken ist dies vor allem dem Pariser Vorbild, aber auch der Verve einer Behörde, diesen Weg zu gehen. Dafür: Chapeau!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite