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Erneuter Corona-Ausbruch in Göttingen700 Menschen unter Quarantäne

Nach einem neuem Corona-Ausbruch in Göttingen wird ein ganzer Wohnblock abgeriegelt. Die Betroffenen sind vor allem Arme und Kinder.

Polizist in Schutzkleidung:der gesamte Gebäudekomplex in Göttingen ist unter Quarantäne gestellt Foto: Swen Pförtner/dpa

Göttingen taz | Waschbetonfassade, dunkle Gänge, kleine Zimmer. Der Wohnkomplex Groner Landstraße 9 ist keine gute Adresse in Göttingen. Hinter dem Gebäude rattern Züge vorbei, davor liegt die meistbefahrene Kreuzung der Stadt. Rund 700 Menschen hausen in mehr als 400 Mini-Appartements: Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger, Migranten, Flüchtlinge mit befristeter Duldung, auch ein paar Studierende, die auf dem überhitzten Wohnungsmarkt der Uni-Stadt noch nichts Besseres gefunden haben. 200 Kinder sind ebenfalls unter den Bewohnern.

Dass es in diesem Komplex zum zweiten großen Corona-Ausbruch in Göttingen gekommen ist, kann wegen der Wohnverhältnisse kaum überraschen. Erst Ende Mai hatten sich im Iduna-Zentrum – auch das ein „sozialer Brennpunkt“ – mehrere Dutzend Bewohner mit dem Virus infiziert.

Bei dem neuen Ausbruch in der Groner Landstraße 9 haben sich laut örtlichem Krisenstab bislang 102 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt. Zunächst waren zwei Frauen positiv getestet worden, daraufhin hatte die Stadt am Montag und Dienstag ein mobiles Testzentrum mit Bussen für die Bewohner eingesetzt. Bei rund 700 Menschen wurden Abstriche genommen. Etwa 60 Testergebnisse lagen am Donnerstag noch nicht vor.

Jetzt wird der ganze Gebäudekomplex unter Quarantäne gestellt. Die Maßnahme sei alternativlos, um weitere Infektionen zu verhindern, sagte Göttingens Sozialdezernentin Petra Broistedt. Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) sprach von einer Maßnahme, „die tief in die Persönlichkeitsrechte eingreift“.

Seit dem Morgen wurden alle Bewohner des Hochhauses über die Ansteckungen und die Quarantäne informiert. Alle Zugänge zu dem Komplex sind versperrt, die Bewohner dürfen das Haus nicht verlassen. Ordnungsamt, Polizei und private Sicherheitsdienste sichern das ab. „Wir werden ein Entweichen verhindern“, sagte Ordnungsdezernent Christian Schmetz (CDU) dem Göttinger Tageblatt. Im Haus gilt eine Maskenpflicht. Die Hausverwaltung muss täglich Flure und Fahrstühle reinigen.

Grünen-Ratsherr Thomas Harms kritisiert den „verschärften Arrest“ der 700 Menschen. Es sei fraglich, ob eine solche Maßnahme auch in den besseren Wohngegenden angeordnet würde. „Warum treffen Ausgangssperren die Ärmsten der Armen, darunter sehr viele Kinder?“ Die Erniedrigten seien in Krisenzeiten mal wieder „die ersten der Geschlagenen“.

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8 Kommentare

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  • Das ist schon wirklich ein Hammer, mit welcher Scheinheiligkeit sich jetzt (erst) ein grüner Ratsherr zum angeblichen Anwalt dieses Gebäudes und seiner Bewohner macht. Diese Stadt wird seit locker zwei Jahrzehnten von SPD bzw. Rot-Grün regiert, aber nicht nur die große Mehrzahl der Radwege ist in einem beklagenswerten Zustand, der einem verantwortungsvollen Grünen die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste.



    Nein, gerade das in Rede stehende Gebäude verfällt seit Jahren, ohne dass die Stadt sich irgendwie darum kümmerte. Die Menschen hausen dort unter Bedingungen, die man 1989 in Rumänien vorfand, als Ceausescu entmachtet wurde. Dass in der "Stadt, die Wissen schafft" Menschen unter diesen Bedingungen wohnen müssen, ist eine Schande für die politisch Verantwortlichen in dieser Kommune. Da sollte sich ein mitverantwortlicher Ratsherr mal ganz schön zurückhalten, denn auf solchen linken Populismus können wir alle getrost verzichten. Es wäre an der Zeit, dass die Verantwortlichen ihr Versagen eingestehen, insbesondere den Verkauf an die Frankfurter Investment-Gesellschaft, die ja das "Portfolio" (i.e.: Wohnungen für sozial schwache Menschen) modernisieren wollen (was hier nur heißt, dass die dortigen Mieterin vertrieben werden). Aber auch das wird den Zuständigen für sozialen Wohnungsbau (gibts die eigentlich noch? ) wahrscheinlich egal sein, Corona macht's möglich - was für eine verkommene Gesellschaft der kollektiven Verantwortungsdiffusion....

  • "die tief in die Persönlichkeitsrechte eingreift"

    Da hat wohl Herr Köhler recht: einschliesslich des Rechts auf körperlicher Unversehrtheit der Bewohner*innen, die noch nicht infiziert sind.

    Wie kann der Mann das rechtfertigen?

  • Eine solche Bewachung wie in einem Gefängnis als Präventivmaßnahme gibt das Infektionsschutzgesetz schlichtweg nicht her.



    Christian Schmetz verstößt mit diesem Denken und Handeln gegen die Menschenrechte und das Grundgesetz.



    Die CDU-regierte Stadt Göttingen blamiert sich völlig. Zumal im Vergleich zu Berlin, wo es umfassende Hilfsmaßnahmen für die Bewohner gibt.



    Ich hoffe, irgendein Anwalt veranlasst sofort eine einstweilige Verfügung.

  • Von „Quarantäne“ kann keine Rede sein!



    Durch diese Maßnahmen werden Menschen in Gefahr betrachtet, Menschen, die noch nicht infiziert sind und zur Risikogruppe gehören.



    Das ist keine Quarantäne.

  • Warum wird in diesem Artikel die Adresse des Gebäudes genannt? Wofür sollte das gut sein? Diese Art der Offenlegung ist für die dort lebenden Menschen stigmatisierend und im schlimmsten Falle gefährdend. Auch die Beschreibung der Wohnverhältnisse ist abwertend und für die Menschen dort verletzend.

  • Warum wird der Begriff "Quarantäne" hier mal wieder irreführend verwendet. Quarantäne ist in der Medizin die Isolierung Infizierter, damit Nicht-Infizierte sich nicht anstecken. Hier aber passiert das Gegenteil: Nicht-Infizierte werden mit Infizierten zwangsweise zusammen gesperrt, sodass das Infektionsrisiko steigt. Man fragt nichtmal, wieviele Menschen aus Risikogruppen da mit eingesperrt sind. Bezeichnenederweise trifft das in Deutschland ausschließlich Arme und Migrant*innen

    • @ClaraN:

      Hauke, ich finde es richtig, dass Missstände beim Namen genannt werden. Unangenehmes verschweigen ändert gar nichts. Wenn eine Krankheit ausgebrochen ist, ist das nicht stigmatisierend.



      Claran, der Inektionsherd befindet sich in einer nicht-infizierten Umgebung. Gegen Covid19 gibt es kein anderes Mittel als Isolierung, und zwar ist es überaus erfolgreich. Sie können ja mal versuchen, alle Gesunden und Besserverdienenden auszusperren, das wäre die andere Lösung. Sie müssten die gesamte Republik vergittern.

  • Natürlich würden in einem wohlhabenden Viertel keine Zwangsmaßnahmen verhängt -- da sind die Leute nämlich vernünftig und wissen, was sie zu tun haben.

    Die Pandemie legt die Machtverhältnisse und Denkschablonen offen -- sei es im Umgang mit rumänischen Erntehelfern, die ja unbedingt kommen mussten, damit unsere Spargelbauern die Krise überleben; sei es beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, den man weitgehend unkontrolliert den Arbeitgebern überlässt -- und sich dann wundert, dass das Krankenpflegepersonal in Altersheimen und ambulanten Pflegediensten nur ungenügend geschützt ist und es immer wieder zu Ausbrüchen unter den Beschäftigten kommt, die die miesesten Arbeitsbedingungen haben. Oder sei es im Umgang mit denjenigen, die aufgrund ihrer Lebensbedigungen eben stärker gefährdet sind, sich mit dem Virus anzustecken.

    Ab und überfällt einem die Moral; dann applaudiert man auf dem Balkon oder schwadroniert von Systemrelevanz. Aber das geht auch wieder weg, je länger wir mit den Virus leben werden.