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Erinnerungsfilm von Ulrike OttingerSich treiben lassen in der Stadt

Eine Bildungsreise nach Paris, natürlich von Chansons begleitet: Die Filmemacherin Ulrike Ottinger stöbert in „Paris Calligrammes“ in Archiven

Mit diesen Straßenkehrern beginnt und endet der Film „Paris Calligrammes“ Foto: Real Fiction

Paris erwacht, „Paris s’éveille“. Dieser Chanson-Klassiker von Jacques Dutronc begleitet den Zeitreisenden gleich zu Anfang in das Paris der 1960er Jahre in Ulrike Ottingers Film „Paris Calligrammes“. Paris erwacht, die Rinnsteine werden geflutet, drei Straßenkehrer in leuchtenden Westen und mit grünen Besen fegen das Pflaster.

Sie stammen aus der Gegenwart, aber schnell wird das Filmbild wieder schwarzweiß, Archivbilder aus Paris, Straßencafés und Händler, geschnitten im Rhythmus des Chanson, ein sanftes Gleiten in die Vergangenheit.

Ulrike Ottinger erzählt. Nein, sie liest vor aus ihren sorgfältig formulierten Erinnerungen, manchmal raschelt das Papier ein wenig. In der französischen Fassung leiht ihr Fanny Ardant ihre Stimme. Sie liest also vor von den ersten französischen Filmen, die sie als Kind gesehen hat, im Kino der in Konstanz stationierten Soldaten. Weshalb Filme, die nicht in Französisch waren, für sie keine richtigen Filme waren.

Auch ihre ersten Freunde in Paris waren ehemalige Soldaten, die sie als sehr, sehr junge Künstlerin schon in ihrem Atelier in Konstanz besucht hatten. Darunter einer, der desertiert war, um nicht in Algerien kämpfen zu müssen. So führt der Film über ihre Jahre als junge Künstlerin in Paris – mit 20 kommt sie dort 1962 an und bleibt bis 1968 – manchmal auch ein Stück weiter zurück in ihre Jugend und Kindheit.

Der Film

„Paris Calligrammes“. Regie: Ulrike Ottinger. Deutschland/Frankreich 2019. 129 Min.

„Paris Calligrammes“ gilt als Dokumentarfilm. Dafür spricht die ausführliche Nutzung von historischen Quellen, Filmen, Fotografien, Interviews. Allein 32 Filmarchive werden im Nachspann genannt. Aber der Film hat auch sehr viel von einem Besuch bei einer älteren Dame, die ihr Fotoalbum zeigt und dabei ins Schwärmen gerät.

Jüdische Emigranten in Paris

Sie erinnert sich an sich selbst als junge Frau, und etwas von der alten Begeisterungsfähigkeit blitzt wieder auf. Wie das war, stundenlang der einzige Besucher zu sein im Museum von Gustave Moreau, dessen obsessiver Symbolismus ein Vorbild wurde für ihre eigene Bild- und Figurengestaltung in ihrem späteren Leben als Filmemacherin. Und man denkt, was, die einzige Besucherin im Museum eines berühmten Malers, das muss wirklich lange her sein.

„Paris Calligrammes“ ist aber auch eine Bildungsreise in zehn Kapiteln, deren erstes ausführlich den jüdischen Emigranten in Paris gewidmet ist, den Intellektuellen und Schriftstellern, die Deutschland vertrieben hatte. Man hört Walter Mehring in einer alten Aufnahme ein langes Gedicht lesen, eine Totenklage über eine Generation jung gestorbener Dichter.

Runden auf Rollschuhen

Andere Kapitel gelten dem Nachtleben in den Jazzkellern oder dem ersten Kinomuseum, der Cinémathèque française, einem der Orte von Ulrike Ottingers Initiation in die Welt der Künste. Exzentriker tauchen auf, wie ein älterer Mann, der vor dem Musée de l’Homme zum Radetzkymarsch seine eleganten Runden auf Rollschuhen dreht.

Sie schaut ihm zu, wir schauen ihm zu, die Filmbilder sind alt und schwarzweiß, und es gibt keine Eile, zu dem zurückzukehren, was eigentlich Thema dieses Kapitels war, die Kolonialgeschichte Frankreichs, die Weltausstellungen in Paris, Ursprung der völkerkundlichen Museen und Ottingers Bewunderung von Ethnologen wie Claude Lévi-Strauss.

„Paris Calligrammes“ feierte seine Premiere dieses Jahr auf der Berlinale, und dort erhielt die Regisseurin auch die Berlinale-Kamera für ihr Lebenswerk. Es gibt in diesem Film, wie in vielen vorangegangenen von Ulrike Ottinger, sowohl die Lust am Wissen, mit geradezu enzyklopädischer Detailfreude, als auch die Lust am Schauen, am langanhaltenden Beobachten, Laufenlassen der Bilder.

Haltung der Dankbarkeit

Ein Chanson wird gesungen von Barbara, man hört es und sieht sie in Großaufnahme bis zum Schluss. Den Moment auskosten, und sei er auch ein mit viel Mühe aus einem Archiv aufgetriebenes Dokument. Das hat immer auch etwas von einer Haltung der Dankbarkeit – dieser Augenblick wurde uns gegeben und wir müssen ihn wertschätzen.

Ottinger nimmt uns mit an ihre Lieblingsorte von damals. Manchmal klingen ihre Erinnerungen fast wie ein Klischee, wenn sie zum Beispiel von den längst abgerissenen Hallen erzählt, die nur noch auf Filmbildern existieren und in denen sie sich „oft bis zum Morgengrauen herumtrieb“, „in „Eimer voller Kuhaugen blickte“ und zwischen „Schweinehälften“ herumlief.

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Dann wieder ist überraschend, dass ein Ort noch existiert, wie der Jardin colonial, auch Jardin d’agronomie tropicale genannt, im Bois de Vincennes, mit prächtigen Monumenten aus Stein zu Ehren der kolonialen Expansion errichtet.

Aufnahmen von Militärparaden

Sie verbindet die Bilder der von tropischen Pflanzen umwachsenen Tempel, Zitate der Kultur der kolonialen Gebiete, mit historischen Aufnahmen von französischen Militärparaden, an denen marokkanische und senegalesische Truppen teilnehmen, und mit einem Besuch in einem Auktionshaus, das noch heute auf Kolonialkunst spezialisiert ist. Damit schlägt sie einen großen Bogen zwischen Themen, die heute im postkolonialen Diskurs heiß diskutiert werden, aber betrachtet die Dinge eher staunend als wertend.

Sie erzählt mit ihrer bedächtigen, genau artikulierenden Stimme von dem kleinen Dachzimmer, in dem sie wohnte. Ihre Bilder konnte sie, damals noch auf dem Weg einer Malerin, dort nur in Teilen malen, auf kleinen Leinwänden, die sie erst auf dem Boden des Hinterhofes wie ein Puzzle zusammensetzte und aus dem Lastenaufzug fotografierte.

Das ist natürlich eine lustige Erklärung für ihre poppigen Collagen, comicähnlich und narrativ, in denen sie Künstler wie den Dichter Allen Ginsberg oder den französischen Dadaisten Tristan Tzara porträtierte, aber mit denen sie auch auf den Vietnamkrieg einzugehen versuchte.

Letztes Kapitel Mai 68

So werden ihre Bilder zu einer Überleitung zu ihrem letzten Kapitel über den Mai 1968. Aus ihrem Dachfenster schräg gegenüber der Sorbonne sieht sie eines Tages Rauch aus der Universität aufsteigen. Sie hört die Schlagstöcke der gewaltsam ­gegen die Demonstrierenden vorgehenden Polizeikräfte.

In den immer gewalttätiger werdenden Auseinandersetzungen glaubt sie zu sehen, wie das anfängliche Ziel der Proteste, die berechtigte Forderung nach Reformen, verloren geht. In diesem Paris der ideologischen Verhärtungen wollte sie nicht bleiben, Freundschaften zerbrachen.

Schwieriger Kinostart

„Paris Calligrammes“ startete schon einmal Anfang März in den Kinos, die dann allerdings schließen mussten. Auch der zweite Start ist nicht einfach, denn die Regelungen für die Wiederöffnung der Kinos sind unterschiedlich in den einzelnen Bundesländern. Möglicherweise spricht der Film auch eher eine ältere Generation von Kinogängern an, die sich jetzt noch zurückhalten.

Aber wer immer einen ihrer letzten Filme, wie die großartige Filmreise „Chamissos Schatten“ nach Alaska und den Aleuten, geschätzt hat oder die skurrilen Bildarrangements ihrer frühen Spielfilme in Erinnerung hat, deren Motive teils auf ihre Pariser Jahre zurückgehen, sollte sich den mit 129 Minuten für Ulrike Ottinger nicht besonders langen Film nicht entgehen lassen.

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