Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“: Früher war mehr Politik

Livia Theuers Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“ blickt sehr aktuell auf die Geschichte des alternativen Kinos in Deutschland. Diskutiert wurde viel.

Ein älteres Paar geht am Filmladen Kassel vorbei.

Der Filmladen Kassel im Jahr 1982 Foto: Film­disposition Wessel

Was Heiner Müller als Gedankenspiel für die Theater mal angeregt hatte, nämlich dass man sie für genau ein Jahr zumachen müsste, um auf die nagende Frage des „Wozu Theater?“ Antwort zu erhalten, das haben die Kinos in den Pandemiejahren tatsächlich ausprobieren müssen. Es war zwar kein ganzes Jahr am Stück, doch waren es genug Schließzeiten und Öffnungen mit Einschränkungen, um die Frage in den gesellschaftlichen Raum zu stellen, ob das Kino vermisst wird, wenn es fehlt. Sagen wir mal so: Antworten gab es viele, aber so ganz eindeutig waren sie nicht.

Und obwohl nun seit zweieinhalb Jahren wieder mehr oder weniger Normalbetrieb herrscht, scheint, wie in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft auch, im Kino merkwürdig unklar, wie die Zukunft aussehen soll. Man hat das Gefühl, dass es knirscht im Gebälk, dass die Dinge selbst da, wo sie nach Zahlen wieder zurückkehren in den Vor-Corona-Zustand, sich irgendwie verändert haben.

Was genau anders ist, das lässt sich gar nicht so leicht konkret benennen: Liegt es an den einzelnen Filmen, die ins Kino kommen, oder ist es die Zusammensetzung der Zuschauer oder ist es irgendwas an der kulturellen Praxis des Kinogehens selbst, das einfach nicht mehr das Gleiche ist wie noch vor ein paar Jahren?

Es sind allgemeine Fragen wie diese, die einem beim Anschauen von Livia Theuers Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“ durch den Kopf gehen, obwohl der Film zunächst als Porträt eines einzelnen Kinos mit einer sehr speziellen Geschichte daherkommt. Der „Filmladen Kassel“ ist eine der Legenden der deutschen Programmkinolandschaft. Hervorgegangen aus einer studentischen Filminitiative, nahm das Kino 1981 seinen zunächst provisorischen Spielbetrieb in einer umgebauten Lagerhalle auf.

„Das Kino sind wir“. Regie: Livia Theuer. Deutschland 2023, 90 Min.

Aber es sind nicht die Details dieser für die Alternativkultur der 80er Jahre nicht untypischen Gründung, die Theuers Film so interessant machen, sondern der geradezu chorische Eindruck, den die Berichte der verschiedenen Gründungsmitglieder vor der Kamera hinterlassen. Sie geben auf bedrückend vielstimmige Weise eine Antwort darauf, was das Besondere dieses Filmladens war und immer noch ist – und damit eben auch auf die Frage nach der möglichen Bedeutung von Kino ganz allgemein.

In die gesellschaftliche Diskussion eingreifen

Die Idee des Filmladens sei von Anfang an „beseelt von der Idee gewesen, eine politische Filmarbeit zu machen und mit den Filmen in die gesellschaftliche Diskussion einzugreifen“, beschreibt zum Beispiel einer der Gründer. Und später heißt es, dass es doch ohne solche Abspielstätten auch keine neue Generation von deutschen Filmemachern und Filmemacherinnen hätte geben können.

Man sieht Bilder dazu aus Thomas Frickels Dokumentarfilm „Keine Startbahn West – Eine Region wehrt sich“ von 1982, und aus dem Off dröhnen die Demo-Motivationszeilen „Wir gehen zusammen, nicht allein“ aus dem Hit der Gruppe Bots, „Was wollen wir trinken“. Open-Air-Konzerte, Anti-AKW- und Friedensbewegung und das unbedingte Vertrauen darin, dass sich durch Diskussionen die Probleme dieser Welt lösen lassen – das waren die 80er.

Das Kino dieser Zeit war in zwei Welten aufgeteilt. Auf der einen gab es den Kommerzbetrieb mit den üblichen Kinostarts, und auf der anderen die kommunalen Kinos und Programmkinos wie den Filmladen Kassel, die ein viel ehrgeizigeres Ziel verfolgten.

„Gegenöffentlichkeit“ nennt es ein Gründer und schildert, dass es seinerzeit weder für Filmhistorisches, wie Stummfilme, noch für lateinamerikanisches oder afrikanisches Kino irgendwo Platz gab, geschweige denn für Dokumentarfilme. Man muss sich dazu klarmachen, dass Anfang der 80er Jahre Videotheken auch noch nicht besonders weit verbreitet waren, und wenn, dann eher dem Kommerzbetrieb zugeordnet wurden.

Protestfilme in der örtlichen Kneipe vorführen

Aber „Gegenöffentlichkeit“ bedeutet gleichzeitig mehr als nur Filme, die es anderswo nicht zu sehen gibt, abzuspielen. Wichtig war für die Kinos nach Art des „Filmladens“ deshalb der „Kontext“, hergestellt durch Diskussionen und Publikumsgespräche, die dort stattfanden. „Ich nannte das die Fortsetzung des Films mit anderen Mitteln“, sagt ein schelmischer Thomas Frickel, Regisseur des Films über den Widerstand gegen­ die Starbahn West.

Besonders die Dokumentarfilme sollten nicht nur der Kontemplation oder der Unterhaltung dienen, sondern unmittelbar eingreifen in die Wirklichkeit. Auch Regisseur Andres Veiel erzählt als Zeitzeuge vom erreichten Ideal der Dokumentarfilmarbeit, wenn man den eben gedrehten Film über den Protest gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen auf der Schwäbischen Alb in der örtlichen Kneipe vorführte und sich dort der Diskussion stellte.

Theuer trägt in „Das Kino sind wir“ noch viele weitere solcher Impressionen über den Konnex von Filmemachen und Filmevorführen bei. Re­gis­seu­r:in­nen wie Gertrud Pinkus, Ulrike Ottinger und Monika Treut beschreiben, wie viel Ärger ihre Filme auch erregt haben – nicht nur in Zeitungskritiken, sondern konkret vor Ort bei der Vorführung, wo es zu lautstarken Auseinandersetzungen kam, wenn nicht sogar Prügel angedroht wurden.

Die kulturelle Bedeutung des Kinogehens scheint in diesen Anekdoten in faszinierender Ambivalenz durch: Auf der einen Seite waren die alternativen Kinos ein Treffpunkt der disparaten, ausgegrenzten Communities, die sich hier unter Gleichgesinnten wohl fühlen wollten. Andererseits waren sie Orte der Konfrontation, des Streits, der gesuchten Provokation. Filme durften sperrig sein. „Wir haben unseren Zuschauern etwas abverlangt“, benennt es eine „Filmladen“-Gründerin.

Der Luxus einer Ära ohne Internet

Mit längeren Ausschnitten aus den Filmen Treuts, Ottingers und Veiel kommt Theuer nur scheinbar ab vom Weg ihrer „Filmladen“-Dokumentation. Nicht nur, dass die Filme Lust auf Wiederentdeckung machen, sie bezeugen auf ihre Weise das andere Filmverständnis ihrer Zeit: Umgeben vom Luxus einer Ära noch ohne Internet und ohne permanente Konkurrenz um Aufmerksamkeit, forderten sie von ihrem Publikum vor allem viel Geduld. Die billigsten Filme von heute mögen „besser“ aussehen, aber trauen sie sich noch so viel?

Der „Filmladen Kassel“, das erzählt Theuer mehr nebenbei, durchlief in der Folge die übliche Entwicklung von Pro­fessionalisierung und Kom­merzialisierung, wie sie die meisten Alternativprojekte der 80er mitmachten. „Die Einführung des Werbeblocks wurde heiß diskutiert“. Aber die Zeiten änderten sich eben. Irgendwann stehen in „Das Kino sind wir“ jüngere Leute vor der Kamera und erzählen mit Humor, dass das Kernpublikum des „Filmladens“ inzwischen die Ü-50-Kundschaft ist. Und natürlich macht man sich über die Konkurrenz von Netflix und Co Gedanken.

Auch gen Ende besticht Theuers Dokumentarfilm wieder mit seiner Vielstimmigkeit: Was verändert sich, wenn Filme nun mehrheitlich allein im heimischen Wohnzimmer geguckt werden statt draußen in der Gemeinschaft eines öffentlichen Raums, fragt Gertrud Pinkus, ohne vorschnell urteilen zu wollen. Eine jüngere Filmemacherin gesteht, dass sie natürlich ihren Film so dreht, als ob er nur im Kino laufen könne. Aber es wäre doch furchtbar, wenn er danach total verschwinden würde? Nicht nur über die anderen Filmverwertungswege macht man sich Gedanken.

Früher sei das Kino viel politischer gewesen, heißt es pauschal. Aber stimmt das? Vielleicht sind die Konflikte und Tabus heute nicht mehr so, dass sich Leute daran abarbeiten wollen, stellt jemand anders in den Raum. Der gesellschaftliche Platz des Kinos und die Praxis des Kinogehens, sie haben sich verändert. Doch solange noch diskutiert wird, ist das Kino so lebendig wie eh und je.

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