Besonders auf dem Bau wird beim Mindestlohn getrickst Foto: imago

Erhöhung des Mindestlohns:So viele Einzelfälle

Der Mindestlohn steigt auf 12 Euro. Doch viele haben nichts davon – sie werden um den Mindestlohn betrogen. Tut die Politik genug?

1.10.2022, 09:02  Uhr

In einem schlicht eingerichteten Büro in der Innenstadt von Frankfurt am Main sitzt ein Mann Mitte 50, ganz in Schwarz gekleidet, kurzes graues Haar. Er rückt nervös seinen Stuhl zurecht. „Faire Mobilität Hessen“ steht auf einem Schild an der Tür. Das Büro ist eine Beratungsstelle für Arbeiter aus Ost- und Mitteleuropa, finanziert durch öffentliche Mittel des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration.

Deutschland habe es nicht gut gemeint mit ihm, sagt die Frau, die dem Mann hinter ihrem Schreibtisch gegenübersitzt, seine Beraterin. Sechsmal kam der Mann zum Arbeiten ins Land. Fünfmal wurde er abgezockt. Bei seiner letzten Arbeitsstelle, einer Baustelle in Frankfurt am Main, gab es wieder keinen Lohn. Erst als er wiederholt nachfragte, drückte ihm sein Chef einen 50-Euro-Schein in die Hand. Mit der Warnung, das ja nicht seinen Kollegen zu erzählen. „Nicht gut“, sagt Boris* mit starkem Akzent.

Dabei klang alles so gut, damals in seiner nordbulgarischen Kleinstadt. Deutschland war für Boris das Land der hohen Löhne und fairen Bezahlung. 2009 kam er das erste Mal hierher, eine Großbaustelle in Koblenz. Drei Monate warteten er und die anderen bulgarischen Arbeiter auf ihren Lohn. Dann verschwand der Chef. Der nächste gab Boris Arbeit, aber unter der Bedingung, dass er in einem Geräteschuppen auf seinem Grundstück schläft, ohne Küche, ohne WC, für 350 Euro pro Monat. Dann verschwand auch er. „Nicht gut“, sagt Boris wieder.

Seine letzte Firma gab ihm nicht mal einen Vertrag. Sein Chef erwähnte die Konditionen beim ersten Gespräch. Boris sollte Fassaden dämmen und Fenster isolieren. Festgeschriebene Arbeitszeiten gab es nicht. Stattdessen einen Deal: 30 Euro für den Quadratmeter. Für Arbeit dieser Art, sagt Boris, brauche er mindestens einen Tag. Geht man von einem Arbeitstag mit acht Stunden aus, wäre das ein Stundenlohn von 3,75 Euro.

Eine Herzenssache

Das sind 8,25 Euro unter dem ab 1. Oktober geltenden gesetzlichen Mindestlohn.

„Mindestlohn?“, fragt Boris und schaut irritiert. Das Wort scheint ihm nicht viel zu sagen.

Arbeitsminister Hubertus Heil feiert 12 Euro Mindestlohn, der ab dem 1. Oktober gezahlt werden muss, als gewaltigen Erfolg. Bereits zum 1. Juli war er von 9,82 auf 10,45 Euro gestiegen, nun kommen weitere 1,55 pro Stunde obendrauf. Für viele, so der SPD-Mann im Juni im Bundestag, sei dies „möglicherweise der größte Lohnsprung in ihrem Leben“.

Zwölf Euro Mindestlohn sind eine Herzenssache für die SPD. Wie das Bürgergeld, das Hartz IV ersetzt, ist dies ein Schritt weg von der Agenda 2010. Mit beidem korrigiert die Partei alte Fehler und söhnt sich mit sich selbst aus. Der erste SPD-Spitzenpolitiker, der für den Mindestlohn von 12 Euro warb, war Olaf Scholz – nach der verlorenen Wahl 2017. Dass Arbeit besser bezahlt werden muss, ist Teil von Scholz’ Respektrhetorik. Das Copyright auf die Forderung hatte aber die Linkspartei. Die SPD machte sie sich zu eigen.

Für die SPD soll die Mindestlohnerhöhung der Beweis dafür sein, dass sie sich wieder um Alltagssorgen von GeringverdienerInnen kümmert und konkrete Verbesserungen durchsetzt. Martin Rosemann, Sprecher der SPD-Fraktion für Arbeit und Soziales, sagt: „12 Euro Mindestlohn ist ein großer sozialer Fortschritt. Und er ist für die, die wenig haben, eine Antwort auf die Krise.“

Also alles gut? Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man dunkle Ecken. Und keine kleinen.

Boris’ Geschichte ist ein extremer Fall – aber was ihm passiert, geschieht in Deutschland tagtäglich. Zwischen 750.000 und über 3 Millionen Ar­beit­neh­me­r:in­nen in Deutschland werden laut einer Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) um den Mindestlohn betrogen. „Die Spanne ist so breit, weil illegale Aktivitäten schwer zu erfassen sind und es unterschiedliche Methoden gibt, sie zu messen“, sagt Johannes Seebauer, Experte des DIW für Arbeit und Beschäftigung.

Der Zoll soll die Einhaltung des Mindestlohns durchsetzen. Eine Kontrolle auf einer Baustelle in Erfurt 2021 Foto: Thomas Mueller/imago

Mindestlohnbetrug trifft Minijobber, Studierende oder Rentner. Und oft Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Arbeiter aus Osteuropa wie Boris – oder Bürger aus Staaten jenseits der EU. Menschen, die davor zurückschrecken, die Verstöße zu melden, weil sie Angst haben, dann nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Wohnung oder gar ihr Bleiberecht zu verlieren.

Der Betrug findet in vielen Branchen statt. Auf dem Bau, in der Gastronomie, in der Reinigung, der häuslichen Pflege, in der Fleischverarbeitung und Logistik. Mindestlohnbetrug ist ein Massenphänomen. Aber eines mit verschiedenen Ausprägungen. Es gibt eine Vielzahl von Maschen, allein auf dem Bau.

Mindestlohnbetrug ist ein Massen­phänomen, der Betrug findet in vielen Branchen statt. In der Gastro­nomie, in der Rei­nigung, in der häus­lichen Pflege, in der Fleisch­verarbeitung und auf dem Bau. Und es gibt eine Vielzahl von Betrugs­maschen

Beispiel Florean*. Ein sportlicher Mann, 29 Jahre alt, kurz geschorenes braunes Haar. Aufgewachsen in einer Kleinstadt im Osten Rumäniens kam er 2016 nach Deutschland. Er blickt abwechselnd misstrauisch und freundlich. Florean arbeitet als Maurer und Kranfahrer, meist um die zehn Stunden pro Tag. Sein letzter Chef aber hat auf den Lohnzetteln im Schnitt nur vier Stunden erfasst – den Rest bekam Florean schwarz ausgezahlt. Einmal im Monat kam der Chef vorgefahren, winkte die Arbeiter zu sich, einen nach dem anderen, drückte jedem einen Umschlag mit Geld in die Hand.

Für Florean bedeutete die Schwarzarbeit: entsprechend weniger Rentenbeiträge, weniger Geld im Krankheitsfall, weniger Urlaubsgeld. Zumindest offiziell. Tatsächlich wurde im Krankheitsfall und bei Urlaub gar kein Geld gezahlt. Und auch bei der Abrechnung der Arbeitszeit nutzte der Chef alle Schlupflöcher. Nicht angerechnet wurde etwa die Zeit, die Florean brauchte, um den Kran hinauf- und wieder hinunterzuklettern. Vierzig Minuten dauerte das jedes Mal.

Solche Tricks und unbezahlte Überstunden sind weit verbreitete Methoden, den Mindestlohn zu umgehen, vor allem auf dem Bau und in der Reinigungsbranche. In der Landwirtschaft müssen Arbeitnehmer teils ihre Arbeitsgeräte selbst zahlen oder es werden ihnen überhöhte Kosten für die Unterkunft abgezogen. Oder beides. Es gibt undurchsichtige Lohnabrechnungen. Die Zahl der Tricks ist unüberschaubar.

Keine hat je eine Kontrolle gesehen

Dabei gibt es ein Organ, das all diese Verstöße kontrollieren soll: die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls. Fragt man Boris und Florean danach, schütteln sie den Kopf. Keiner von ihnen hat auf dem Bau je eine Kontrolle gesehen.

Eigentlich erstaunlich. Schließlich wurde nicht nur der Mindestlohn in den letzten Jahren angehoben, sondern auch die Zahl der Stellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit. 6.865 Planstellen waren es 2015, derzeit sind es 10.223, allerdings sind da auch Stellen für Querschnittsbereiche wie Organisation und Haushalt mit dabei. Im fachlichen Bereich tatsächlich besetzt sind derzeit 8.500 Stellen. Der Stellenplan ist gewachsen, aber es ist schwierig, Nachwuchs zu gewinnen.

Wenn man SPD-PolitikerInnen nach Mindestlohnbetrug fragt, bekommt man fast immer dieselbe Antwort. Man schaffe doch beim Zoll mehr Stellen, alles werde gut. „Wir haben mit dem massiven Ausbau der Stellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit gegengesteuert. Und die Kontrolldichte intensiviert“, sagt SPD-Mann Martin Rosemann.

Doch das Kontrollsystem ist noch immer löchrig. Vor allem in den Großstädten mit großen Baustellen ist der Zoll dünn besetzt. Victor Perli, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, hat deshalb 2021 das Onlineportal Mindestlohnbetrug gegründet. Dort können sich Betroffene anonym melden. „In Deutschland wird Falschparken strenger kontrolliert als Mindestlohnbetrug“, sagt Perli. Bei seinem Portal haben sich inzwischen eine höhere dreistellige Zahl von Menschen mit konkreten Fällen gemeldet, die er nach Vorprüfung an den Zoll weiterreicht.

Der Zoll sei eine undurchschaubare Behörde mit vielen selbstständigen Fürsten­tümern, sagen Kritiker Foto: Thomas Mueller/imago

Wie stiefmütterlich das Thema Mindestlohnbetrug von der Politik behandelt wird, verdeutlicht auch ein Anruf bei einem Arbeitsmarktexperten der SPD. Verstöße müssten gemeldet werden, sagt er, und verweist auf eine Hotline für Mindestlohnbetrug im Arbeitsministerium, an die sich Betroffene ja wenden können. Doch die Hotline gibt es nicht. Es gibt nur eine beim Arbeitsministerium, bei der sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer informieren können. Bei Mindestlohnbetrug verweist man dort an den Zoll. Wenn schon erfahrene SPD-Abgeordnete, die die Gesetze schreiben, nicht wissen, wie man Mindestlohnbetrug meldet – wie soll das ein Bauarbeiter aus Bulgarien wissen?

Boris, der für 30 Euro pro Quadratmeter arbeitet, landete zufällig bei der Beratungsstelle Faire Mobilität. Er begleitete eine bulgarische Freundin zu einem Termin dort. Sie arbeitete als Reinigungskraft, ebenfalls unterhalb des Mindestlohns. Als er neben seiner Freundin saß und der Beraterin zuhörte, wurde Boris klar, dass man etwas gegen den Betrug tun kann.

Doch nur ein kleiner Teil der betrogenen ArbeitnehmerInnen finde den Weg zu ihnen, heißt es bei Beratungsstellen, GewerkschaftsvertreterInnen und Anwälten. Die Menschen haben Angst, Verstöße zu melden. Und viele wissen gar nicht, dass es diese Anlaufstellen und die Möglichkeit rechtlicher Schritte gibt.

Auch der Linkspartei-Abgeordnete Perli kritisiert, dass handhabbare Angebote für Leute fehlen, die nicht so gut Deutsch können. Der Zoll biete nur eine komplizierte Website an – nötig sei eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene. „In Großbritannien gibt es eine Hotline. Die funktioniert besser.“

Die Probleme liegen tiefer

All das könnte man ändern, verbessern, anpassen – aber die Probleme beim Zoll liegen tiefer. Einfach mehr Personal löst das Grundsätzliche nicht. Das glaubt jedenfalls Frank Buckenhofer, Vorsitzender der Bezirksgruppe Zoll der Gewerkschaft der Polizei. Man erwischt ihn am Telefon im Auto auf dem Weg nach Berlin zu einem Gewerkschaftskongress. Man habe auf politischen Druck die Zahl der Stellen erhöht, sagt Buckenhofer. Und dabei leider versäumt, die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intensiv aus- und fortzubilden. Zulasten der alteingesessenen KollegInnen: „Die brauchten Zeit für das Anlernen der Neuen und hatten weniger Zeit für Kontrollen und Ermittlungen.“

Wer Buckenhofer über den Zoll reden hört, der bekommt den Eindruck einer undurchsichtigen Behörde, bei der jede Abteilung eigenen Gesetzen und Vorgaben gehorcht. Er spricht von einer „wahren Patchworkstruktur“, von „verschiedenen polizeilichen Einsatzbereichen“, die „nicht miteinander verzahnt sind und auch nicht unter gemeinsamer örtlicher Führung zusammenarbeiten“. Der Zoll, sagt Buckenhofer, bestehe aus „sehr vielen weitestgehend selbstständigen Fürstentümern“. Um effektiv Mindestlohnbetrug zu bekämpfen, müsse die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu einer Finanzpolizei werden. Flexibel einsetzbar, mit Zugriff auf Polizeidaten und mit polizeilichen Befugnissen.

Die Schwächen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sind lange bekannt. Aber es ist so ähnlich wie beim Mindestlohnbetrug. Manche wissen, was falsch läuft – aber der Elan, Entscheidendes zu ändern, fehlt. Die Idee, den Zoll zu reformieren, gibt es seit 30 Jahren. Gescheitert sei sie, so Buckenhofer, an der Verwaltung des Zolls, die resistent gegenüber Veränderungen ist. Und an der Politik, die sich damit begnügt habe, der Öffentlichkeit gestiegene Mitarbeiterzahlen zu präsentieren – ohne sich für die Arbeit und die Strukturen des Zolls zu interessieren.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Gerhard Bosch ist Arbeitssoziologe und hat lange für die Einführung des Mindestlohns gestritten. Gegen die Mehrheitsmeinung der Ökonomen, die vor 2015 finstere Bilder an die Wand warfen. Millionen Arbeitsplätze werde der Mindestlohn von 8,50 Euro killen, hieß es damals. Bosch hielt dagegen. Und behielt recht. „Die Einführung des Mindestlohns war ein Waterloo für die Mainstream-Ökonomen. Denn die Zahl der Arbeitsplätze in den Niedriglohnbranchen hat sogar zugenommen. Aber keiner hat gesagt: Ich habe mich geirrt.“

Bosch hat auch den Zoll und Mindestlohnbetrug erforscht und durchleuchtet. Sein Eindruck: „Die Zöllner, mit denen wir gesprochen haben, sind hoch engagierte, gut ausgebildete Leute, die ihren Beruf lieben.“ Aber die Organisation sei zu schwerfällig, habe Doppelstrukturen und zu viele verschiedene Aufgaben. Und sie sei zu wenig kreativ. Fakt ist: Die Aufklärungsquote der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist übersichtlich. Auch wenn man die Zahl der Missbrauchsfälle niedrig schätzt, liegt sie unter 0,5 Prozent.

Misbrauch gilt nicht als Skandal

Gerhard Bosch hält Kontrollen vor Ort für zu wenig „Der Zoll muss am Kopf der Missbrauchskette ansetzen, bei den großen Auftraggebern. In den USA ist das unter Obama geschehen. Die großen Hotelketten wurden auf wirkungsvolle Kontrollen ihrer Nachunternehmer verpflichtet. Warum trifft der Zoll nicht mit allen DAX-Unternehmen Vereinbarungen über ein sozialverträgliches Nachunternehmermanagement? Aber dafür denkt er zu wenig strategisch.“

Wie geht es nun weiter? Man muss kein Prophet sein, um zu vermuten, dass bei einem Mindestlohn von 12 Euro die Betrügereien eher noch zunehmen. Hohe Energiepreise, die Inflation – einfach den Lohn zu drücken mag da vielen als einfache Lösung erscheinen. Die Gefahr, erwischt zu werden, ist gering. Die drohenden Strafen sind milde. Mindestlohnbetrug ist nur eine Ordnungswidrigkeit. Und so richtig als Skandal gilt der massenhafte Missbrauch auch nicht.

„Die Betroffenen haben keine Lobby. Das macht es schwierig, eine größere Öffentlichkeit herzustellen“, sagt Victor Perli von der Linkspartei, der seit Jahren versucht, das Thema publik zu machen.

Das Problem ist auch: Arbeitgeber können sich vieles erlauben. Es mangelt nicht an willigen Arbeitskräften. Beispiel Alexander*, ein Moldawier, seit 2012 in Deutschland, er arbeitet als Zimmermann. Seine Überstunden wurden von seinem letzten Arbeitgeber zwar notiert, sagt er, für ein Überstundenkonto wie es hieß, ausgezahlt werde es im Winter, wenn man nicht arbeiten kann. Als dann aber der Winter kam, sagte sein Chef: „Du kriegst nichts.“ Und: „Kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt. Es gibt genügend andere, die hier arbeiten wollen.“

Florean, der rumänische Maurer und Kranfahrer, sagt: Wer als gesunder, nicht zu alter Mann von einer Baustelle fliegt oder selbst hinschmeißt, braucht keine zwei Wochen, dann hat er einen neuen Job. Allerdings werde bei dem in der Regel genauso getrickst wie bei dem alten. Arbeitgeber, die den Lohn korrekt auszahlen und die Stunden ihrer Mitarbeiter richtig erfassen, kenne er gar nicht, sagt Florean.

Digitale Erfassung könnte helfen

Dabei gibt es eine Methode, den Betrug wirksam einzudämmen. Sie stand auch in Hubertus Heils erstem Entwurf des Gesetzes über 12 Euro Mindestlohn: die digitale Erfassung der Arbeitszeit per App. Dass diese Technik funktioniert, zeigen Paketboten, deren Arbeit digital überwacht wird.

Eine digitale Erfassung der Arbeitszeit würde Betrug zwar nicht unmöglich machen, aber es würde schwieriger. Die ArbeitnehmerInnen müssten aktiv dabei mitmachen. Fälle wie der von Florean hingegen, der zehn Stunden arbeitet, aber nur für vier verlässlich bezahlt wird, würden rapide abnehmen. Der Zoll könnte mit Zugriff auf digitale Arbeitszeiten Betrüger viel effektiver dingfest machen. Doch FDP und Arbeitgeberverbänden gelang es, diesen Passus aus dem Gesetz zu streichen. Das sei zu aufwendig für die Arbeitgeber, so das Argument.

Auch jetzt müssen Arbeitgeber in Branchen, die anfällig für Mindestlohnbetrug sind, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten dokumentieren. Aber das geht ohne Unterschrift des Arbeiternehmers und es kann innerhalb einer Woche nachgetragen werden. Das ist ungefähr so, wie Diebstahl zu verbieten, aber nur von Montag bis Mittwoch – und jedem, der trotzdem erwischt wird, eine Woche Zeit zu geben, die Tat zu vertuschen. Dass es keine fälschungssichere elektronische Arbeitszeitaufzeichnungen gibt, sagt der Soziologe Bosch, zeige einfach, dass „die Politik nicht will, dass der Zoll genau kontrollieren kann“.

Und es gibt noch einen Malus, der auf das Konto der FDP geht. Die monatliche Verdienstgrenze für Minijobs wird zum 1. Oktober von 450 auf 520 Euro angehoben. Derzeit gibt es rund vier Millionen Menschen, die in Minijobs arbeiten, mal im Geschäft an der Kasse sitzen, in Kneipen kellnern, in Restaurants in der Küche arbeiten oder im Reinigungsgewerbe. Genau diese Jobs werden mit der Anhebung auf 520 Euro attraktiver. „Bei der Hälfte aller Minijobs wird der Mindestlohn aber nicht gezahlt“, sagt Bosch.

Der interne Deal in der Ampel war: Die SPD bekommt 12 Euro Mindestlohn, die FDP die Minijobs mit 520 Euro. Das Ergebnis hat etwas Paradoxes: Der Mindestlohn steigt. Und genau der Sektor, in dem er schon jetzt häufig nicht gezahlt wird, wird noch ausgeweitet. Die Folgen sind absehbar.

Dabei ist der Mindestlohn bisher eine echte Erfolgsgeschichte. Fünf Millionen Beschäftigte haben so seit 2015 zum Teil kräftige Lohnerhöhungen bekommen. Die Ungleichheit bei den Einkommen, die lange wuchs, ist sogar leicht gesunken. Doch 12 Euro, die für Millionen dann doch nur auf dem Papier stehen, sind keine rosige Perspektive, oder wie Boris sagen würde: „nicht gut“.

Der Blick über die Grenzen zeigt, dass es anders gehen kann. In den skandinavischen Ländern ist Lohnbetrug eine Randerscheinung. Dort gibt es auch in kleinen Betrieben einflussreiche Gewerkschaftsvertreter. In Deutschland nicht.

* Die Namen der Protagonisten wurden zu ihrem Schutz geändert. Die Namen sind der Redaktion bekannt

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