Erfolgreiche Besetzung in Berlin: Wohnungslose erkämpfen Haus
In der Habersaathstraße führt eine erneute Besetzung zum Erfolg. Der Bezirk will die Wohnungen beschlagnahmen und zur Verfügung stellen.
Knapp fünf Stunden zuvor, pünktlich um 13 Uhr, entrollen Aktivist:innen der Initiative „Leerstand-hab-ich-Saath“ Transparente an der schmucklosen Fassade des überwiegend leerstehenden Wohnkomplexes in der Habersaathstraße 40-48. Aufgrund der ehemals verschiedenfarbigen Eingänge, die das frühere Schwesternheim der Charité bis zur letzten Sanierung hatte, trug es einst den Namen Papageienplatte.
Polizei taucht erst später auf
Nun ist es wieder bunter: „Ich will ein zuhause haben weil…“ steht auf einem der Transparente, „ich mich sicher fühlen will“ auf einem anderem und „ich die Kälte nicht mehr aus den Knochen bekomme“ auf einem weiteren. Viele der Besetzer:innen sind selbst wohnungslos oder leben auf der Straße.
Während aus den Wohnungen die Besetzung sichtbar gemacht wird, finden sich wie aus dem Nichts etwa 100 Unterstützer:innen vor dem Haus ein. Auch eine größere Gruppe Wohnungsloser ist gekommen, manche mit ihren Hunden – in der Hoffnung, hier einen warmen Platz für den Winter zu ergattern. Die Polizei taucht erst etwa eine halbe Stunde danach auf.
Empfohlener externer Inhalt
„Wir nehmen das nicht hin, dass Menschen auf der Straße leben, während hier bezugsfertiger Wohnraum leersteht“, sagt Fabio, einer der Besetzer:innen. Durch die vierte Welle und die sich anbahnende Verbreitung der Omikron-Mutation kämen die ohnehin schon unbeliebten klassischen Kältehilfeangebote, meist Massenunterkünfte, noch weniger infrage. „Das bedeutet entweder Massenansteckungen oder noch weniger Plätze.“
Entmietetes Haus
In dem 1984 errichteten Plattenbau harren nur noch neun Mieter:innen aus, die sich seit Jahren gegen den geplanten Abriss des Hauses zur Wehr setzen. 85 zumeist kleine Wohnungen stehen leer. Sie sind voll möbliert und könnten unmittelbar ein Zuhause für viele Bedürftige sein. Sofas, Betten, Duschvorhänge und Teppiche zeugen von ihrer letzten Nutzung als Hotelzimmer, nachdem die vormaligen Mieter:innen entnervt ausgezogen waren.
„Die Wohnungen sind perfekt auf die Bedürfnisse von Obdachlosen zugeschnitten“, so die Sprecherin der Leerstands-Initiative „Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“ Valentina Hauser. Das war bereits im vergangenen Oktober schon so, als die Gruppe das Gebäude schon einmal besetzte, dann aber trotz zunächst vielversprechender Verhandlungen von der Polizei geräumt wurde. Mitten in der Nacht standen damals die obdachlosen Aktivist:innen wieder ohne Perspektive, aber mit Strafanzeigen, auf der Straße.
Das soll diesmal anders sein: Nach langen Verhandlungen vor und in dem Haus gab es die Einigung. Mit Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) wurde abgemacht und schriftlich festgehalten, dass zunächst 30 Wohnungen zur Verfügung gestellt werden; möglicherweise auch noch mehr. Einziehen können die Besetzer:innen, die tatsächlich wohnungslos sind, und Mitglieder der „Plattengruppe“, einer Gruppe von auf der Straße lebenden Menschen aus dem Umfeld der Initiative. Die Besetzer:innen müssen zunächst das Haus verlassen, sollen aber am Montag einziehen können, nachdem sie sich beim Sozialamt gemeldet haben.
Leerstand ist Zweckentfremdung
Dass die Besetzung an diesem Samstag erfolgreicher ist, liegt auch daran, dass sich der Eigentümer verhandlungsbereiter gab als noch vor einem Jahr. Seine Ankündigung zufolge verzichte er auf einen rechtlichen Widerspruch gegen die von von Dassel geplante Beschlagnahme der Wohnungen. Trotz dieser Absprachen wäre die Beschlagnahme der gesetzeswidrig leerstehenden, also zweckentfremdeten Wohnungen, ein Novum in Berlin.
Schon vor einem Jahr hatte von Dassel diese Möglichkeit nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz geprüft. Dieses ermöglicht dem Bezirk in Gefahrensituationen, etwa einem Kälteeinbruch oder einer Pandemie, leerstehenden Wohnraum auch gegen den Willen des Eigentümers zu beschlagnahmen. Damals sah das Bezirksamt davon ab, weil noch ausreichend Plätze in der regulären Kältehilfe zur Verfügung standen und der Bezirk damit die Bedingungen für eine Beschlagnahme nicht erfüllt sah.
„Es wäre eine neue politische Dimension, wenn infolge einer Besetzung Wohnungen beschlagnahmt werden“, so der Linken-Abgeordnete Niklas Schenker, der am Samstag ebenfalls vor Ort war. Er sagte: „Das wäre ein Signal für vergleichbare Fälle“. In einer Mitteilung am Sonntag ergänzte Schenker: „Besetzungen sind ein legitimes Mittel zivilen Ungehorsams, die sog. „Berliner Linie“ muss fallen.“ Die Berliner Linie besagt, dass die Polizei jede Neubesetzung binnen eines Tages räumen soll. Auch die Besetzer:inneninitivative forderte umgehend andere Bezirke dazu auf, nun auch endlich schärfer gegen Leerstand vorzugehen.
Ein Spekulationsobjekt
2006 war das Haus für zwei Millionen Euro privatisiert worden. 2017 wurde es für 20 Millionen Euro weiterverkauft, an die aktuelle Eigentümerin Arcadia Estates um den Immobilienunternehmer Andreas Pichotta. Um sich die Investitionskosten zu vergolden, will Pichotta das Haus abreißen lassen und an gleicher Stelle hochpreisige Luxuswohnungen errichten. Mit zum Teil dubiosen Praktiken konnte die Arcadia bis dato fast alle Bewohner:innen entmieten. Aktuell müssen die Verbliebenen mit einer täglich kälter werdenden Heizung kämpfen. Der Eigentümer hatte ein defektes Rohr im Keller lediglich mit einem Kabelbinder repariert. Die Bewohner:innen versuchen im Eilverfahren dagegen vorzugehen.
Der Großteil der Wohnungen steht inzwischen seit Jahren leer. Nach dem Berliner Zweckentfremdungsverbotsgesetz ist spekulativer Leerstand illegal und der Abriss von schützenswerten Wohnraum verboten. Pichotta sieht das aber anders, da er den Wohnraum nicht als „schützenswert“ ansieht und klagt gegen den Bezirk. Der Fall liegt aktuell vor dem Berliner Oberverwaltungsgericht, eine Entscheidung wird im Januar erwartet. Beobachter:innen befürchten jedoch, dass Pichotta recht bekommt und den Plattenbau abreißen darf.
Am Samstagabend aber spielt das erstmal keine Rolle. Vor dem Haus köpfen die Aktivist:innen und Unterstützer:innen Sektflaschen und beglückwünschen sich. Ihre Hartnäckigkeit ist an diesem Tag belohnt worden. Einen Winter nicht draußen verbringen zu müssen – für einen beteiligten Wohnungslosen ist schon das „das größte Glück“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei