Erdoğans Führerstaat: Tagebuch eines türkischen Exilanten
Kurdische Zivilisten werden aus dem Helikopter gestoßen. Journalisten, die darüber berichten, sind kriminell. Und die Ärztekammer? Voller „Verräter“.
20. September
Ich habe mir Hochzeitsfotos angeschaut. Der Generalstaatsanwalt Yüksel Kocaman hat im Sheraton in Ankara geheiratet. Der Vorsitzende des Kassationshofs, der Justizminister, der Innenminister, der Generalstabschef, der Vorsitzende der Wahlkommission und viele, viele wichtige Männer mehr waren Gäste. Schon die Flitterwochen vor der Hochzeit waren medial präsent: Per Helikopter in die touristische Küstenstadt Bodrum, dort abgestiegen in einem Hotel, das 1.000 Euro pro Nacht kostet.
Im Anschluss an die Hochzeit ging es in den Präsidentenpalast. Tayyip Erdoğan in der Mitte des Brautpaares. Der Fototermin mit dem Präsidenten ist Hochzeitsgeschenk genug. Doch wie kann ein Oberstaatsanwalt, der sich in der Vergangenheit ohnehin wie der ergebene Lakai des Tyrannen aufgeführt hat, beim Dank noch einen draufsetzen? Noch mehr Festnahmen, noch mehr staatlicher Terrorismus? Warum erinnere ich mich jetzt an einen Satz von Innenminister Soylu, der ja auch Trauzeuge der Hochzeit war? „Sie können uns nicht mit Hitler vergleichen. Wir haben niemanden in Gaskammern umgebracht.“
Die Mesopotamische Nachrichtenagentur, deren Webseite in der Türkei gesperrt ist, berichtet über einen Vorfall, der sich vor neun Tagen zugetragen hat. In einem Dorf in der Provinz Van wurden die Dorfbewohner von Soldaten zusammengetrieben und mussten sich niederknien. Zwei Männer, der 55-jährige Servet Turgut und der 50-jährige Osman Şiban, wurden im Militärhelikopter mitgenommen. Erst Tage später konnten Angehörige die beiden in einem Krankenhaus, mehrere Hundert Kilometer vom Dorf entfernt, auffinden.
Ihre Körper entstellt, liegen sie im Krankenhaus. „11 Knochenbrüche, Gehirmblutungen, und Risse in der Lunge hat mein Vater“, sagt der Sohn Turguts. Die Männer wurden vom Helikopter in die Tiefe gestoßen. Der Satz ist menschenverachtend, aber wahr: „Kein Hahn kräht nach irgendwelchen armen kurdischen Bauern.“
25. September
Die exklusiven Flitterwochen, die pompöse Hochzeit und das Fotoshooting mit dem Präsidenten tragen Früchte. In den frühen Morgenstunden schlugen Anti-Terror-Einheiten der Polizei zu. 82 Spitzenfunktionäre der HDP (Demokratische Partei der Völker) wurden festgenommen. Unter ihnen der Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, und der ehemalige Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder, der einst mit der Regierung einen Friedensplan für die kurdische Frage ausarbeitete.
Laut Staatsanwaltschaft stehen die Festnahmen in Zusammenhang mit den Ereignissen im Oktober 2014, bei denen 46 Menschen starben. Die kurdische Grenzstadt Kobani in Syrien stand damals kurz vor der Einnahme durch die Dschihadisten des „Islamischen Staates“. Genüsslich feierte Tayyip Erdoğan den bevorstehenden Fall der Stadt. Die Kurden in der Türkei waren in Aufruhr und die HDP rief zum Massenprotest auf.
Die Festgenommenen werden wohl jahrelang in Untersuchungshaft verbringen, so wie der ehemalige Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş. Der brillanteste Politiker, den die Türkei je gesehen hat, sitzt seit vier Jahren im Gefängnis. „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ ist der Vorwurf. Die HDP erhielt bei den letzten Parlamentswahlen fast 12 Prozent der Stimmen. Vielleicht lässt der Führer sie ja verbieten. Tausende Parteifunktionäre sind ohnehin hinter Gittern.
29. September
Ein Abgeordneter der Opposition hat ein internes amtliches Dokument über Coronafälle in der Türkei publik gemacht. Es handelt sich um eine detaillierte Bestandsaufnahme des 10. Septembers – Anzahl der genehmigten Tests, Testergebnisse usw. Demnach wurden an diesem Tag 29.377 Personen positiv auf Corona getestet. Das ist das Zwanzigfache, was offiziell bekanntgegeben wurde. Die tägliche Verlautbarung des Gesundheitsministeriums spricht für diesen Tag von 1.512 positiv Getesteten.
Ich habe mit meiner Mutter telefoniert. „Diese Schurken lügen“, sagt sie immer wieder. „Sie lügen bei allem. Warum sollten sie nicht bei den Coronafällen lügen.“ In den vergangenen Monaten hatten immer wieder Bürgermeister, Ärzte und Krankenhauspersonal, die vor Ort mit den Folgen des Virus konfrontiert waren, die amtlichen Erklärungen angezweifelt.
1. Oktober
Die Tageszeitung Sözcü hat die sonderbare Wandlung eines Deutsch-Schulbuches für Schüler der 9. Klasse dokumentiert. In der alten Ausgabe des Jahres findet sich eine Deutschlandkarte, auf der „typisch deutsche“ Symbole abgebildet sind. Zum Beispiel das Brandenburger Tor, die Frauenkirche in Dresden, der Kölner Dom, ein Auto, eine Frau im Dirndl. Auch ein Weinglas, ein Bierkrug und das Oktoberfest sind vertreten. „Recherchiert! Welche Informationen findet ihr über Deutschland? Diskutiert eure Ergebnisse in der Klasse!“, heißt es in dem Schulbuch. In der neuen Ausgabe sind nun Bierkrug, Weinglas und Oktoberfest ausgemerzt. Dank der Photoshop-Experten des Bildungsministeriums sind dort jetzt weiße Flecken.
Wer im nationalen Interesse Biergläser aus Schulbüchern verschwinden lässt, kann sicher auch Corona-Fallzahlen manipulieren. „Beim Kampf gegen die Pandemie muss unser Staat nicht nur die Gesundheit der Bevölkerung, sondern auch die nationalen Interessen schützen“, tweetet gerade Gesundheitsminister Fahrettin Koca. Zuvor verplapperte er sich nämlich auf einer Pressekonferenz. Irgendwann habe man beschlossen, nicht mehr die Fallzahlen der Infizierten bekanntzugeben, sondern nur die der Kranken, die Symptome zeigen. Selbst der von ihm ins Leben gerufene Wissenschaftsrat zur Bekämpfung der Pandemie wusste das nicht.
Ebenso wenig die Weltgesundheitsorganisation, die die türkischen Zahlen als tägliche Infektionsfälle in ihre Statistiken übernahm. Auch auf der Web-Seite des Gesundheitsministeriums fand sich kein Hinweis auf die Veränderung der Erhebungsgrundlage: Von „Infektionen“, nicht von „Kranken mit Symptomen“ war die Rede.
Was bringt es, dass die Ärztekammer protestiert? In den gleichgeschalteten Medien kommt ihre Erklärung ohnehin nicht vor. Schon dutzendfach appellierte die Ärztekammer an die Regierung, mit Daten transparent umzugehen. In Kooperation mit Wissenschaftlern verfasste sie detaillierte Berichte zur Entwicklung der Pandemie. An einem Aktionstag im September protestierten Ärzte und Pfleger mit einer schwarzen Kordel gegen das Versagen der Regierung.
Die gleichgeschalteten Medien verbreiteten hingegen die Erklärung von Devlet Bahçeli, Vorsitzender der Nationalistischen Aktionspartei, dem wichtigster Partner und Unterstützer von Präsident Tayyip Erdoğan: „Wegen einem angeblichen Anstieg von Coronafällen will die Verräterbande namens Ärztekammer schwarze Kordeln tragen lassen. Das ist ein giftiges und demütigendes Komplott. Die türkische Ärztekammer ist so gefährlich wie das Coronavirus.“
Ich habe die Wortbedeutung von „Delirium“ im Duden nachgeschlagen: „Bewusstseinstrübung, die sich in Verwirrtheit und Wahnvorstellungen äußert.“ Ich frage mich, ob nur Individuen ins Delirium fallen können. Oder auch ganze Gesellschaften?
Ein Gericht in Van hat ein Verbot erlassen. Angesichts der laufenden Ermittlungen darf nicht über die aus dem Militärhelikopter geworfenen kurdischen Bauern berichtet werden. Einer der Männer, Servet Turgut, ist inzwischen tot.
6. Oktober
Die vier Journalisten, die den Abwurf aus dem Helikopter nach Augenzeugen- und Krankenberichten recherchierten, wurden festgenommen. Eine Frage der Zeit, wann ihnen der Prozess wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ gemacht wird.
13. Oktober
Die Tageszeitung Takvim schlagzeilt: „Unsere Worte an das Verfassungsgerichtsmitglied Engin, dessen Fresse einem Assassinen-Jammerlappen ähnelt: Du wirst am Galgen dieses Fahnenmasten baumeln“. Das Verfassungsgericht hatte das Urteil einer Strafkammer gegen Enis Berberoğlu, einen oppositionellen Abgeordneten, kassiert. Einmalig in der Geschichte, hatte sich die Strafkammer geweigert, dem Urteil des Verfassungsgerichts Folge zu leisten. Engin Yıldırım, einer der obersten Richter, twitterte nach dem kassierten Urteil ein Nachtfoto des Verfassungsgerichts mit dem Text „Unsere Lichter brennen“.
Yıldırım, ein Konservativer, in der Ära Erdoğan zum Verfassungsrichter berufen, wurde daraufhin als „Putschist“ bezeichnet. „Unsere Lichter brennen immer“ so der offizielle Twitter-Account des Innenministeriums. Der arme Mann. Dass er den Tweet löschte und sich entschuldigte, wird ihm wenig nützen. Jemand twitterte: „Wir sind Gefangene von Gewaltpornografie.“
Die Tageszeitung Takvim gehört dem Medienkonzern Turkuaz, geführt vom Bruder des Schwiegersohns von Tayyip Erdoğan, Berat Albayrak, der wiederum Finanzminister ist. Der Medienkonzern Turkuaz (im Pool sind die türkischen Ausgaben von Esquire, Cosmopolitan, Bazaar, House Beautiful und viele mehr) gehört dem Baukonzern Kalyon. Der Konzern, der stets die öffentlichen Ausschreibungen gewinnt.
Ich meine mich zu erinnern, dass es der Konzern zu Weltruhm gebracht hat. Google, Webseite der Weltbank: Private participation in infrastructure 1990–2019. Kalyon gehört weltweit zu den zehn Top-Firmen, die öffentliche Infrastrukturaufträge realisierten. Vier sind aus der Türkei, alle mit Tayyip Erdoğan verbandelt.
14. Oktober
Erdoğan tobt gegen die Ärztekammer. „Wie können wir unsere Kranken denen anvertrauen. Wie können wir Genesung erwarten? Können wir das von Terroristen erwarten?“ Ich muss an Şebnem Korur Fincancı denken. Sie ist Vorsitzende der Ärztekammer. Eine außergewöhnliche Frau. Professorin der Rechtsmedizin. Sie hat an der Verfassung des Standardwerks der Vereinten Nationen zur Untersuchung und Dokumentation von Folter mitgewirkt. 1996 war sie für den Internationalen Strafgerichtshof in Bosnien an der Exhumierung von Massengräbern und an Autopsien beteiligt.
Auf den Philippinen und in Bahrain konnte sie Mord und Folter nachweisen. Einst war sie Abteilungsleiterin der Gerichtsmedizin. Sie konnte den Chef der Abteilung für Organisierte Kriminalität der Folter überführen. Sie dokumentierte die Ermordung des Gewerkschafters Süleyman Yeter. Viele internationale Auszeichnungen, in Deutschland der Hessische Friedenspreis. Vor wenigen Jahren warteten wir vor einem Istanbuler Gefängnis auf ihre Entlassung aus der U-Haft. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wann die Ärztekammer zerschlagen wird.
15. Oktober
Özer Sencar, Professor und Leiter des Meinungsforschungsinstituts Metropoll, ist eine vertrauenswürdige Quelle. Er spricht in einem Interview davon, dass Präsident Erdoğans Partei stets eine Wählerzustimmung zwischen 30 und 35 Prozent habe. Die Partei, die seit 18 Jahren die Türkei regiert, sei nie unter 30 Prozent abgesackt. Die Zustimmung für Tayyip Erdoğan liege erheblich über diesem Prozentsatz. Wie kann das sein angesichts der katastrophalen Entwicklung, dem Verfall der Lira, der Verarmung und dem Missmanagement in der Coronakrise?
Reichen Nationalismus, religiöse Durchhalteparolen, eine expansionistische und aggressive Außenpolitik aus, um das alles zu überspielen? Der Professor, ein Mann der Empirie, der Statistiken und Zahlen, gibt eine Antwort, die sich eigentlich nicht geziemt: „Es ist der Glaube an Tayyip Erdoğan.“ Der Glaube. Es ist wie beim Glücksspiel: Hat man erst einmal auf ein Pferd gesetzt, gibt es kein zurück mehr. Selbst angesichts der Katastrophe mag man sich Fehler nicht eingestehen. Die Türkei ist schließlich auf dem Weg zur Großmacht.
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