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Erdoğan in BrüsselDie EU ist selbst schuld

Elisabeth Kimmerle
Kommentar von Elisabeth Kimmerle

Um Verantwortung für Geflüchtete auszulagern, hat sich die EU erpressbar gemacht. Das war ein Fehler.

Kann die EU erpressen: Recep Tayyip Erdoğan Foto: Virginia Mayo/ap/dpa

S eit mehr als einer Woche spielen sich an der türkisch-griechischen Grenze grausame Szenen ab. Ganz Europa schaut zu und verwaltet kalt die „Ordnung an der Grenze“, statt den Flüchtenden zu helfen. Die EU hält weiter an dem umstrittenen Flüchtlingsabkommen mit der Türkei fest. „Heute sind wir inmitten eines tiefen Dilemmas“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem kurzfristigen Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan am Montagabend in Brüssel. Das Treffen endete ohne konkrete Ergebnisse, die Stimmung war angespannt. Erdoğan reiste noch vor der geplanten gemeinsamen Pressekonferenz kommentarlos ab.

Man dürfe sich nicht von der Türkei erpressen lassen, heißt es in diesen Tagen oft. Doch bei aller Kritik an dem überaus zynischen Handeln Erdoğans – in diese Lage hat sich die EU selbst sehenden Auges gebracht, als sie vor vier Jahren den Flüchtlingspakt mit der Türkei unterzeichnet hat. Das Flüchtlingsabkommen war von Anfang an ein Fehler. Die EU hat sich erpressbar gemacht, um sich freizukaufen und jegliche Verantwortung für die Menschenrechte von Geflüchteten in die Türkei auszulagern. Damals wie heute hat sie Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen, um die Verhandlungen nicht zu gefährden.

Im Nachhinein zu kritisieren, was falsch gelaufen ist, ist so einfach wie unbefriedigend. Doch vor den Folgen des Deals haben bereits 2016 Menschenrechtsorganisationen und Migrationsexpert*innen gewarnt. Heute sind diese Folgen Realität: Erdoğan instrumentalisiert Menschen für seine innen- und außenpolitischen Zwecke und die EU lässt sich darauf ein, denn der Flüchtlingsschutz Europas ist längst zu einem Schutz vor Flüchtenden geworden. Erdoğan glaubt, dass er weiter die Oberhand hat, und die EU lässt sich erpressen. Daran wird sich nichts ändern, solange der Umgang mit Flüchtenden nicht aus einer neuen Perspektive angegangen wird.

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Elisabeth Kimmerle
Redakteurin taz.gazete
arbeitet bei der deutsch-türkischen Nachrichtenplattform taz.gazete. Sie war von 2016 bis 2017 Volontärin bei der taz und hat davor Philosophie, Germanistik und Journalistik in Freiburg, Leipzig und Istanbul studiert.
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14 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Solange die Industrieländer sich vor der Frage nach Korrektur der Wirtschaftsstruktur und Umverteilung drücken, bleiben sie von Despoten wie Erdogan erpressbar. Das betrifft mittelfristig beileibe nicht nur Europa.

  • Es ist leider nur ein politisches Spielchen, die Flüchtlinge nicht aufzunehmen, denn dann würde man die Trumpfkarte von Erdogan anerkennen: ok, Du hast gewonnen.

    Die Grenzen dicht zu machen ist nur der Versuch, Erdogan den Wind aus den Segeln zu nehmen.



    Darunter sollten insbesondere die Kinder nicht leiden müssen.

  • Ist es wirklich ratsam, gesundheitlich angeschlagene Kinder nach Europa zu holen, obwohl hier gerade der Covid-19 unterwegs ist und noch kein Ende absehbar ist? Wäre denn die EU darauf vorbereitet die Kinder ausreichend lange abzuschirmen um sie nicht zu infizieren, wo sie doch ohnehin schon leiden? Klar wirkt sich der Virus nicht so schlimm bei Kindern und Jugendlichen aus, aber wie ist das wenn die Betreffenden schon immungeschwächt sind? Ich halte das für unverantwortlich, solange keine sicheren Gegebenheiten vorhanden sind.

  • Was wäre die Alternative zu einem Deal mit Erdoğan? Selbst wenn man von der völlig unrealistischen Annahme ausgehen würde, dass alle EU=Länder bereit wären, Flüchtlinge aufzunehmen, so würde die EU schnell an ihre Grenzen geraten, wenn innerhalb von kurzer Zeit mehrere Millionen Flüchtlinge neu einreisen würden. Erdoğan steht wegen der hohen Zahl von Flüchtlingen innenpolitisch stark unter Druck. Neben den 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen, gibt es auch noch sehr viele Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran und anderen Ländern in der Türkei. Dazu warten 1 Million syrischer Flüchtlinge in der Provinz Idlib an der Grenzmauer darauf, in die Türkei einreisen zu können. Sobald Griechenland die Grenzen öffnet, würde Erdoğan nicht nur zehntausende Flüchtlinge zur griechischen Grenze transportieren, er würde versuchen, mehrere Millionen Flüchtlinge loszuwerden. Dazu kämen noch unzählige Menschen aus Ländern wie etwa Tunesien, die visafrei in die Türkei einreisen dürfen und die Chance nutzen würden, wenn die türkische Grenze zur EU offen wäre.

    • @vulkansturm:

      Sehe ich auch so. EU muss sich weiter beteiligen (Umsiedlung+Geld) und mit Erdogan reden. Alles andere hilft auch den Flüchtlingen nicht.

    • @vulkansturm:

      Die EU hat gut 500 Mio Einwohner. Wenn jetzt 5 Mio Flüchtlinge ankommen, ist das 1% der derzeit in der EU lebenden Bevölkerung. Das ist problemlos zu machen, wenn es politisch gewollt ist.

      • @Karl Ranseier:

        Zuerst kämen die 5 Millionen in Griechenland an. Selbst wenn alle EU-Länder zur Aufnahme bereit wären, so würde allein schon die vorübergehende Aufnahme in Griechenland ein Desaster. Auch ist es völlig unrealistisch, davon zu träumen, dass viele EU-Länder zur Aufnahme bereit wären. Garantiert wäre allerdings, dass über kurz oder lang immer mehr europäische Länder von Rechtspopulisten beherrscht werden würden.

  • Angenommen Weißrussland öffnet seine Grenze zu Polen. Alle dürfen raus, keiner darf zurück. Handelt Polen dann rechtmäßig wenn es seine Grenze schließt?



    Ich denke schon.

    • @Abid Kidoh:

      Zynisch. An der Realität vorbei. Meines Erachtens trollen Sie nur.

      • @tomás zerolo:

        Nach allem was vorgefallen ist, darf Griechenland diesen Grenzübergang schließen. Und Griechenland darf die Grenze auch schützen bzw. angemessen verteidigen. Schießen auf Unbewaffnete gehört sicher nicht dazu. An einem geschlossenen Grenzübergang werden auch keine Asylanträge mehr angenommen. Aber es gibt keinen Grund Asylanträge abzulehnen, die an anderen, noch funktionierenden Grenzübergängen gestellt werden.

  • "Ganz Europa schaut zu und verwaltet kalt die „Ordnung an der Grenze“, statt den Flüchtenden zu helfen. "

    So pauschal kann man das aber nicht sagen, nachdem die Bundesregierung entschieden hat, Kinder und unbegleitete Jugendliche aus griechischen Lagern aufzunehmen.

    • @Jossi Blum:

      Vielleicht. Vielleicht einen Teil von 1500. Aber auch nur vielleicht, wenn andere auch mitmachen.

      Ein Schritt in die richtigen Richtung, ja. Aber ein kümmerlich.

      Ich schäme mich für "meine" Regierung.

    • @Jossi Blum:

      1500 Kinder (von ca. 8000) - und auch nicht alleine, sondern nur ein Teil davon und nur wenn andere auch mitmachen...



      Das ist ein schlechter "Witz in Tüten" :-(

  • Das war seit Jahren zu 100% vorhersehbar. Jemand wie Erdogan ist nicht humanitär aus Freundlichkeit oder Mitmenschlichkeit. Die Flüchtlinge als Trumps auszuspielen war von Anfang an der primitive und perfide Plan.

    Es ist nur der Feigheit der Politiker und der Arroganz der im Wohlstand schwelgenden Menschen zu verdanken, dass wir jetzt unsägliches Leid sehen - und das war nur der Anfang.