Erdoğan, SPÖ und AfD: Von Federn und Verantwortung
Diese Woche ist sehr viel Mist passiert, an dem jeweils niemand so recht Schuld sein wollte. Mindestens ein Hühnchen gibt es aber noch zu rupfen.
E s ist so: Ich bin ein ziemlich haariges Wesen. Und zu meiner Erschwernis kommt hinzu, dass ich schwarze Haare habe. „Da sind überall Haare von dir!“ ist ein mir nicht unbekannter innerfamiliärer Vorwurf. Zum Glück habe ich seit einiger Zeit einen Hund, Frau Dr. Bohne, einen Jagdterrier. Sie hat auch überwiegend schwarze Haare, und das hat einen erfreulichen Nebeneffekt: An herumliegenden schwarzen Haaren in der Wohnung ist jetzt ausschließlich Frau Dr. Bohne schuld! Sie übernimmt jetzt dafür die volle Verantwortung, dafür kaufe ich ihr Futter. Verantwortung gegen Futter, so lautet der Deal. Das ist wie bei Beratern, Ministern oder sonstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Sie werden bisweilen vor allem dafür bezahlt, dass man ihnen die Schuld zuschieben kann.
Der türkische Präsident Erdoğan zum Beispiel ist gerade wiedergewählt worden, obwohl seine Bilanz nicht gerade rosig ist. Allein die wirtschaftliche Lage: eine Katastrophe. Die Inflation in der Türkei beträgt immer noch um die 40 Prozent. Und was macht Erdoğan? Tauscht zu Beginn seiner Regierungszeit einfach mal das komplette Kabinett aus. „Ist doch klar“, sagt Frau Dr. Bohne. „So zeigt er: ‚Für die Misere ist jemand verantwortlich – aber ich nicht, haha!‘ Das ist doch ein schlauer Move. Wetten, dass alte und neue Minister dafür sehr gut bezahlt werden, inklusive Beteiligung an schmierigen Arrangements?“
Apropos schmierig: Ein politisches Husarenstück gab es diese Woche mal wieder in Österreich. Frau Dr. Bohne ist Wienerin, ich bin Wahl-Wiener, wir schauen mit durchaus liebevollem Schmäh auf dieses Land. Aber was die SPÖ jetzt hingelegt hat, verdient schon eine gehörige Portion Spott. Bei der Wahl eines Parteichefs – nach jahrelangem Streit und einer Mitgliederbefragung – wurden auf dem Parteitag die Ergebnisse der zwei Kandidaten vertauscht. Jemand kam offensichtlich mit dem Programm Excel nicht klar. Jedenfalls wurde zuerst ein Sieger verkündet, um ein paar Tage später bekannt zu geben: Huch, war doch andersrum, der Verlierer ist der Gewinner! Das, finden Frau Dr. Bohne und ich, riecht ausnahmsweise mal nicht nach Korruption, sondern nach völlig neue Maßstäbe setzender Blödheit. Verantwortlich gemacht wird dafür keiner so richtig. War halt ein Fehler, kann mal passieren …
Massiv nach Verantwortlichen suchen hingegen Politiker derzeit für das Erstarken der sogenannten Alternative für Deutschland. Diese rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei liegt Umfragen zufolge bundesweit bei 18 Prozent und damit gleichauf mit der SPD, in Ostdeutschland sogar bei beschämenden 32 Prozent. Die CDU findet, die Ampelkoalition sei schuld (zu viel Gendern und so). Die Regierung findet, die CDU sei schuld (zu viel Salonfähigmachen von rechtspopulistischem Gequatsche und so). „Jeder sucht nur das Haar in der Suppe!“, schimpft Frau Dr. Bohne. „Anstatt sich mal zu fragen, ob man nicht etwas grundsätzlich an der Suppe ändern sollte, damit sie mehr Menschen und Hunden schmeckt.“
Manchmal verliert aber wirklich nur einer Haare. Wenn ein Staat ein Land angreift, einmarschiert, zerbombt, Menschen tötet und eine Katastrophe von ungeheuerlichem Ausmaß anrichtet, sind eben dieser Staat und seine Regierung schuld. Nach mehr als einem Jahr Krieg hat Russland diese Woche mutmaßlich einen Staudamm gesprengt. Zehntausende Menschen haben nun kein Trinkwasser mehr, die Umwelt wird durch die Flut massiv geschädigt. Trotzdem sagen Linke und Rechte in Deutschland gleichermaßen: Jetzt müsse man mit Russland verhandeln. „Nein!“, bellt Frau Dr. Bohne. „Da muss man sich nicht an einen Tisch setzen und darüber reden, dass doch irgendwie beide Seiten irgendwie Haare verlören!“
Und zuletzt: Egal, wie man zum EU-Asylkompromiss steht – Frau Dr. Bohne und ich sind da unterschiedlicher Auffassung -, haben die Grünen ziemlich Haare verloren, pardon: Federn gelassen. Da wird, da sind wir uns beide sicher, in den nächsten Tagen noch das eine oder andere Hühnchen gerupft werden.
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