Enteignungs-Volksbegehren: Wo die Revolutionäre wohnen
Das Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co. enteignen bereitet sich auf die zweite Unterschriftensammlung vor. Es könnte auf dem Berliner Wohnungsmarkt eine Revolution auslösen.
R ouzbeh Taheri engagiert sich seit 30 Jahren in Berlins mietenpolitischer Bewegung und ist jetzt eines der bekanntesten Gesichter des Volksbegehrens Deutsche Wohnen & Co. enteignen. „Eine so breit aufgestellte und schlagkräftige Kampagne habe ich in den vergangenen 30 Jahren noch nicht erlebt“, sagt der studierte Volkswirt und Vollzeitaktivist. „Es ist unglaublich, wie viele Menschen sich trotz widriger Umstände engagieren.“
Mit widrigen Umständen meint Taheri die grassierende Coronapandemie – auch für die Aktivist:innen eine Herausforderung. Wie kann man während eines Lockdowns direkte Demokratie organisieren? Wo angesichts von Kontaktverboten Unterschriften sammeln? Taheri sagt: „Wir brauchen einfach unglaublich viele Leute. Und weil niemand Erfahrungen mit einer solchen Situation hat, müssen wir uns gut vorbereiten: inhaltlich, handwerklich und hygienetechnisch.“
Ab dem 26. Februar hat die Initiative vier Monate Zeit, um mindestens 175.000 Unterschriften zu sammeln. Wenn der Senat das Volksbegehren daraufhin nicht direkt übernimmt, kommt es zeitgleich mit der Bundestags-und Abgeordnetenhauswahl im September zum Volksentscheid über die Enteignungsfrage.
Erste Stufe Der Antrag auf ein Volksbegehren erfordert 20.000 Unterschriften in sechs Monaten. Kommt es danach im Abgeordnetenhaus zu keiner Verhandlungslösung über das Thema, kann das eigentliche Volksbegehren starten. DW enteignen sammelte in zwei Monaten 77.000 Unterschriften, davon waren 58.000 gültig; eine Einigung mit Rot-Rot-Grün scheiterte.
Zweite Stufe Wenn 7 Prozent der Wahlberechtigten – aktuell etwa 175.000 Menschen – innerhalb von vier Monaten unterschreiben, ist das Volksbegehren erfolgreich und es kommt zum Volksentscheid.
Dritte Stufe Beim Volksentscheid muss eine Mehrheit für das Anliegen stimmen; zugleich muss mindestens ein Viertel der Abstimmungsberechtigten – rund 625.000 Menschen – zustimmen. (gjo)
Nach fast 15 Jahren weitgehend ungebremster Mietsteigerungen bei gleichzeitig ausbleibendem Lohnanstieg hat die mietenpolitische Bewegung in Berlin mittlerweile nicht nur den Mietendeckel erzwungen. Sie hat auch die international beachtete Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen organisiert, die per Volksbegehren große, profitorientierte Wohnkonzerne vom Berliner Wohnungsmarkt vertreiben will.
Das Mittel: die Enteignung aller privaten Wohnungsunternehmen, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen. Betreffen würde das zunächst elf Konzerne und deren insgesamt 243.000 Wohnungen in Berlin. Der größte davon ist die namensgebende Deutsche Wohnen, die 115.000 Wohnungen in der Hauptstadt besitzt.
Mit dem Volksentscheid soll der Berliner Senat aufgefordert werden, Maßnahmen zu ergreifen, die eine Überführung enteigneten Wohnraums in Kommunalbesitz ermöglichen und so leistbare Mieten garantieren sollen. Möglich ist das das aufgrund des Artikels 15 des Grundgesetzes, der Vergesellschaftung gegen Entschädigung vorsieht. Berlin könnte dafür ein entsprechendes Gesetz erlassen.
Allerdings sind Enteignungen politisch äußerst umstritten; zwar weniger, wenn sie dem Bau einer Autobahn dienen, dafür aber umso mehr, wenn es – wie in Berlin – gegen Kapitalinteressen geht. Zudem sind die Kosten der von der Initiative angestrebten Enteignungen ein großer Streitpunkt: also wie hoch die gesamte Entschädigungssumme wäre, die den betroffenen Konzernen im Falle einer Vergesellschaftung zustünde.
Die Kostenkalkulationen reichen von der amtlichen Schätzung der Senatsverwaltung für Wohnen von maximal 36 Milliarden Euro bis zu den von der Volksbegehren-Initiative berechneten und gemeinwohlverträglichen 8 Milliarden Euro, die haushaltsneutral sein sollen, weil sie mit externen Krediten auch bei niedrigen Mieten über 45 Jahre refinanzierbar wären. Zum Vergleich: Berlins Landeshaushalt beträgt 2021 gut 32 Milliarden Euro.
Kurz gesagt: Berlin könnte in diesem Jahr an den Wahlurnen eine Revolution anzetteln. Die Wähler:innen könnten Wohnraum als Anlageobjekt unattraktiv machen und Spekulation mit Mietshäusern stoppen. Sie könnten ihre Häuser von der marktwirtschaftlichen Entwertungslogik entkoppeln und die wohnungspolitische Gemeinwirtschaft wieder einführen. Genau genommen könnten die Hauptstädter:innen 2021 die sozialistische Republik Berlin ausrufen.
Wie jede gute Revolution braucht auch diese eine gute Organisation: 367 Personen sind einen Monat vor Sammelbeginn innerhalb der Initiative bereits in 14 dezentralen Kiezteams organisiert, die sich wöchentlich zusammenzoomen, um Plakataktionen, Demos und größere Sammelaktionen in ihren Bezirken zu planen.
720 Menschen sind stadtweit bisher zum Sammeln angemeldet, wie Leonie H. aus der Sammel-AG der Initiative sagt: „Aber viele fangen gerade erst an, ihre Kontakte systematisch zu erfassen. Da werden in den kommenden Wochen noch viele mehr dazu kommen“, sagt H. Zum letzten der monatlich stattfindenden Neuentreffen seien 110 Personen gekommen.
Die Sammel-AG ist derzeit so etwas wie der Maschinenraum des Volksbegehrens: Sämtliche organisatorische Fäden laufen in der 20-köpfigen Arbeitsgruppe zusammen. Sie organisiert und vernetzt nicht nur die dezentralen Kiezteams, sondern hat auch eine Coronataskforce gegründet, die ein Hygienekonzept erarbeitet. Das soll ermöglichen, die erforderlichen Unterschriften trotz Pandemie zu sammeln – offiziell sind 240.000 als Sammelziel ausgegeben, weil ein Teil der Unterschriften für gewöhnlich ungültig ist. Um erfolgreich zu sein, muss das Volksbegehren täglich circa 1.500 gültige Unterschriften zusammenbekommen.
Sicheres Sammeln trotz Corona
Digital unterschreiben ist nicht erlaubt, also braucht es andere Strategien: „Unser Hauptfokus liegt darauf, ein sicheres Sammeln zu ermöglichen“, sagt H. Leitfäden und Hygienekonzepte seien bereits in Arbeit: etwa, um darauf hinzuweisen, dass man Unterschriften auch per Post schicken oder in Bürgerämtern abgeben kann. Ebenso lassen sich Listen selbst ausdrucken, um mit Maske und Abstand Nachbar:innen unterschreiben zu lassen.
Auf der Straße soll mit FFP2-Maske, viel Abstand und Desinfektionsmittel sowie Stiften zum Verschenken gesammelt werden. Ab dem 1. Februar wird es eine frei herunterladbare Sammel-App für Android und iOS geben, mit der man sich zum Sammeln verabreden, Nachrichten schreiben und Aktionen organisieren kann. Neuigkeiten könnten per App sofort übermittelt werden. Ebenso werde das Programm FAQs und Argumentationshilfen für Enteignungsdiskussionen im Kiez enthalten, wie H. erzählt. Angesichts des Aufwands scheint es schwer zu glauben, dass all das ehrenamtlich geschieht. Geld kommt beim Volksbegehren nur über Spenden rein. Dafür nicht wenig: Eine Crowdfunding-Kampagne, die am 13. Dezember begann, erreichte ihr Ziel von 35.000 Euro schon zehn Tage vor Schluss Ende Januar.
In den dezentralen Kiezteams der Initiative ist die Aufbruchstimmung noch deutlicher zu spüren. Bei einer Infoveranstaltung für Neu-Unterstützer:innen in Neukölln am Mittwochabend hören sich über 50 Leute nach Feierabend per Zoommeeting zwei Vorträge an: über das Volksbegehren, die Ziele der mietenpolitischen Bewegung, und wie man die Initiative unterstützen kann. Falls es technische Probleme gibt, soll man Volkan kontaktieren.
Der erste Referent stellt sich als Tomaszs vor. Titel seines Vortrags: „Warum vergesellschaften?“ Tomaszs holt weit aus, erzählt von der verstärkten Kapitalflucht nach der Finanzkrise 2008 auf den Wohnungsmarkt und vom Ausverkauf des kommunalen Wohnungsbestands in Berlin unter Rot-Rot in den nuller Jahren. Und natürlich davon, wie man sich mit Enteignungen die Stadt zurückkaufen könnte.
Danach spricht Rabea. Sie wohnt in einem kürzlich von einem Investor gekauften Haus und ist seitdem mietenpolitisch aktiv. Sie erklärt, welche Auswirkungen die Wohungskrise speziell in Neukölln hat: Die Miete sei in den vergangenen zehn Jahren um 150 Prozent gestiegen, der berlinweit höchste Anstieg. Gleichzeitig sei jede vierte Neuköllner:in von Armut bedroht.
Rabea erzählt von der Hufeisensiedlung, dem Neuköllner Weltkulturerbe des sozialen Wohnungsbaus, heute im Besitz der Deutschen Wohnen, von der Kiezkneipe Syndikat, die nach der Kündigung durch ein undurchsichtiges Briefkastenfirmengeflecht mit Verbindungen zu der britischen Milliardärsfamilie Pears geräumt wurde, und von dem schwedischen Investor Heimstaden, der trotz Mietendeckel im Herbst 2020 mit viel Renditeerwartungen auf den Berliner Markt geprescht ist und auf einen Schlag 130 Häuser gekauft hat.
Auch nach anderthalb Stunden Zoom-Konferenz sind noch alle 50 Teilnehmenden dabei. Viele fragen nach den Vorträgen gleich, wo man mitmachen könne und in welchen Bezirken möglicherweise noch dringender als im gut aufgestellten Kiezteam von Neukölln helfende Hände gebraucht würden. Kontakte nach Marzahn-Hellersdorf werden vermittelt.
In einer anderen Konferenz am selben Abend, beim Treffen des Kiezteams Charlottenburg-Wilmersdorf, zeigt sich, dass die Initiative nicht nur von linken Aktivist:innen getragen wird, sondern auch viele betroffene Mieter:innen mitmachen. Im Zoom-Plenum treffen sich ältere Menschen, Sozialarbeiter, Studierende und junge Linken-Mitglieder.
Das Volksbegehren organisiert sich hochgradig arbeitsteilig. Neben der Sammel-AG und den dezentralen Kiezgruppen gibt es spezialisierte Arbeitsgruppen für Demos und Aktionen, die Starthilfe-AG für die Vernetzung bedrohter Mieter:innen, eine Arbeitsgemeinschaft für Öffentlichkeitsarbeit sowie nicht zuletzt die programmatisch arbeitende Vergesellschaftungs-AG.
Hinhaltetaktik des Senats
Delegierte aus der Vergesellschaftungs-AG waren unter anderen auch dabei, als sich die Initiative im Sommer mehrfach mit der Innenverwaltung von Andreas Geisel (SPD) und Senatsvertreter:innen zu Gesprächen über die juristische Zulässigkeit des Volksbegehrens getroffen hat. Erst nach einer Klage der Initiative kurz darauf erklärte die Verwaltung das Begehren nach einem Jahr Hinhaltetaktik für zulässig. Grüne und Linke unterstützen das Volksbegehren, die SPD hat sich dagegen ausgesprochen, die CDU und die FDP ebenfalls.
Ralf Hoffrogge aus der Vergesellschaftungs-AG freut sich, dass endlich eine Sachdebatte beginnen kann. Seit der juristischen Zulassung sei eine neue Dynamik spürbar. Die lange Prüfzeit war aus seiner Sicht „eine Zermürbungstaktik“ der SPD, die zum Glück nicht gegriffen habe. Bald müssten alle Parteien in die inhaltliche Auseinandersetzung gehen, sagt Hoffrogge: „Die Zeit des politischen Wegduckens ist vorbei, wenn Berlin im September eine Entscheidung trifft.“ Politisch ist laut Hoffrogge das rote Wien Vorbild für das Volksbegehren. In der österreichischen Hauptstadt hatten Sozialdemokraten von 1919 bis 1934 eine absolute Mehrheit und etablierten sozialen Wohnungsbau und eine soziale Finanzpolitik. Der Mietenmarkt wurde stark reguliert, Bestände günstig aufgekauft. In Wien sind auch heute noch 60 Prozent der Wohnungen im öffentlichen Besitz.
Ebenso beziehe man sich auf die deutsche Gemeinwirtschaftsdebatte zu Gründungszeiten der BRD – „als die Gesellschaftsform noch offener war“, wie Hoffrogge, selbst Historiker mit Schwerpunkten auf Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, sagt. Im Hintergrund arbeite die 12-köpfige Vergesellschaftungs-AG mittlerweile bereits an einem möglichen Vergesellschaftungsgesetz – politisches Neuland in der BRD.
Auch am späteren Abend sind in der Neuköllner Zoom-Konferenz immer noch 43 Personen in der Gruppe, die in kleineren Videogruppen, sogenannten Breakout-Rooms, weiter diskutieren. Wortmeldungen und Nachfragen kommen kaum ohne Dankeschöns für die Organisation und den ehrenamtlichen Aufwand der Initiative aus. Diejenigen, die bei den Vorträgen ihre Kameras eingeschaltet haben, sitzen in WG-Zimmern, Küchen, Wohnzimmern.
Von 2 Millionen Haushalten in Berlin leben 1,6 Millionen in Mietwohnungen. 40 Prozent aller Mieter:innen zahlen schon mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für Wohnraum. Viele, die sich hier versammeln, sind persönlich betroffen von steigenden Mietpreisen. In den Zoom-Konferenzen des Volksbegehrens Deutsche Wohnen & Co. enteignen scheint es so, als hätten sie endlich ein Gegenmittel gefunden.
Ein Selbstläufer wird das alles aus der Sicht von Rouzbeh Taheri dennoch nicht. „Unter normalen Umständen würden wir die Unterschriften locker schaffen, da bin ich sicher. Aber wegen Corona ist ungewiss, wie viele wir wirklich sammeln können“, sagt er. Auch deswegen liegt bei allem Engagement in den Kiezteams viel Ungewissheit über all den Anstrengungen – etwa die Frage, ob es am Ende nach einem möglichen Volksentscheid wirklich zu Enteignungen kommt.
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