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Ende der Luftbrücke aus KabulJetzt nicht wegschauen

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Die aktuellen Ereignisse in Kabul beweisen: Die kaltschnäuzige Nonchalance des US-Präsidenten Joe Biden bezahlen Menschen mit ihrem Leben.

US-Soldat wartet an einem Evakuierungsflugzeug in Kabul Foto: Taylor Crul/Eyepress/afp

M an sollte es auch mal würdigen: Die Luftbrücke aus Kabul war eine große Leistung. Bis zu ihrem Ende dürften über 100.000 Menschen vom US-Militär und seinen Verbündeten ausgeflogen worden sein – unter Umständen, die schwieriger kaum sein könnten. In jeder Vorausplanung am Schreibtisch wäre das, was in den vergangenen zwölf Tagen am Flughafen der afghanischen Hauptstadt mit den vereinten Kräften der ehemaligen Interventionsmächte geschafft wurde, als komplett wahnsinnig und undurchführbar abgestempelt worden. Die Realität zeigt: Es geht.

Dieser Erfolg sollte zu denken geben angesichts der vielen Forderungen, neue Fluchtbewegungen nach Europa seien unbedingt zu verhindern und Deutschland und die USA und der Westen überhaupt müssten jetzt ihre Außenpolitik neu konzipieren, damit sich so ein Debakel nicht wiederhole. Man müsse die Ziele jetzt „kleiner fassen“, hat Kanzlerin Angela Merkel gesagt. Wie klein denn noch?

Seit dem Verzicht auf ein Eingreifen gegen Assads Verbrechen in Syrien und gegen russische Aggression in der Ukraine traut sich doch sowieso niemand im Westen mehr irgendwas, was eine andere Großmacht ärgern könnte. Kabul beweist demgegenüber: Wir schaffen das. 2015 hat sich wiederholt, im Guten.

Doch der Erfolg der Luftbrücke kann über ihre Schattenseiten nicht hinwegtäuschen. Ebenso wie nach 2015 die Grenzen in Europa wieder geschlossen wurden, bevor alle Fliehenden sicheres Terrain erreicht hatten, werden auch jetzt in Kabul viele Tausende nicht mitgenommen worden sein, wenn die Evakuierungen enden. Sie werden am Flughafen zurückgelassen, zurückgewiesen oder sind nicht einmal bis in die Nähe gekommen.

Sie fürchten nun um ihr Leben oder zumindest um ihre Zukunft unter der Terrorherrschaft, die in Afghanistan zu erwarten ist, sobald die Aufmerksamkeit der Staatengemeinschaft erlahmt und die Taliban nicht mehr gestört werden.

Das Drama von Kabul ist nicht vorbei. Es fängt erst richtig an

Afghanistan – das sind in diesen Tagen unzählige und unfassbare persönliche Dramen. Die unsäglich kaltschnäuzige Nonchalance des US-Präsidenten Joe Biden, der Donald Trumps absurdes Überlassen Afghanistans an die Taliban in der schlechtestmöglichen Weise umgesetzt hat, bezahlen jetzt schon Menschen mit dem Tod.

Umso wichtiger ist es, jetzt nicht wegzuschauen. Das Schicksal der Menschen Afghanistans – gerade jener, deren Zukunft jetzt wegen der schlechten Vorbereitung des westlichen Abzugs auf dem Spiel steht – bleibt unsere Sache und unsere Verantwortung, ob wir es wollen oder nicht. Unterstützung und Solidarität von außen werden weiter gefragt sein. Man muss auch weiterhin Flüchtlinge aufnehmen, sichere Fluchtwege offen halten, Gefährdeten Schutz bieten, Verbrecher an der Macht isolieren, zivilgesellschaftlichem Widerstand den Rücken stärken.

Das Drama von Kabul ist nicht vorbei, wenn der letzte US-Soldat am Flughafen das Licht ausmacht. Es fängt dann erst richtig an.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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5 Kommentare

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  • Das muss man zweimal lesen: "Seit dem Verzicht auf ein Eingreifen gegen Assads Verbrechen in Syrien und gegen russische Aggression in der Ukraine traut sich doch sowieso niemand im Westen mehr irgendwas" schreibt Johnson nach dem Desaster von Afghanistan. So einfach also: der Westen muss sich nur trauen! Auf nach Damaskus! Mit welcher politischen Agenda? Mit welchen militärischen Mitteln? Über die Anschaffung Kampfdrohnen diskutiert man in D seit einem Jahrzehnt. Unterstützung für die Bundeswehr in fast allen Parteien und der Bevölkerung im einstelligen Bereich. Wie sieht's bei der TAZ aus?

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "Die kaltschnäuzige Nonchalance des US-Präsidenten Joe Biden bezahlen Menschen mit ihrem Leben."

    Das halte ich für völligen Unsinn. Ein Terroranschlag kann überall und jederzeit passieren. Was hätte Biden denn tun sollen?



    Natürlich war der Krieg ein Riesenfehler. Wer im Mittelalter lebt, den sollte man nicht zur Demokratie zwingen.



    3 Billionen Dollar : durch die Anzahl der Bevölkerung. Die hätten alle reich sein können. Allerdings hätte die westliche Welt dann keinen Profit an den Waffen gemacht.

  • Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, im Sinne der flüchtenden, man hätte den Flughafen unter Bewachung der Türkei o.a. in seinem zivilen Betrieb weiterlaufen lassen, dann hätten vermutlich weit aus mehr Menschen als die 100.000 ausfliegen können. Mit mehr gecharterten Maschinen hätte man eine deutlich höhere Zahl an Abfertigungen pro Tag hinbekommen (der zugegebener Maßen weit aus größere und logistisch besser aufgestellte BER bewältigt momentan die Abfertigung von bis zu 50.000 Menschen am Tag). Es würden den Flüchtlingen einfach Tickets zugeschickt, was zu weniger Chaos geführt hätte, da nicht ewig vor den Flughafen ausgeharrt und auf das zufällige sich annehmen eines US-Soldaten gehofft werden müsste. Die Show, die die USA da veranstalten, ist in jeder Hinsicht eine verunglückte Propagandaaktion.

    • @Colonel Ernesto Bella:

      Zu beschreiben welche Strukturen es bräuchte um die Flucht aus Afghanistan zu einem angenehmen Reiseerlebnis zu machen ist einfach, diese Strukturen aber ad-hoc aufzubauen und zwar so dass diese ohne jeden Vorlauf reibungslos funktionieren annähernd unmöglich. Das fängt ja schon damit an, dass es gar keine zentrale Datenbank mit den Namen und Adressen aller Betroffenen gibt, man ja nicht einmal sagen konnte um wieviele Menschen es überhaupt geht. Eine zuverlässig funktionierende Post die die Zustellung der Tickets übernimmt wird es derzeit in Kabul auch eher nicht geben, zumal sich viele die sich von den Taliban verfolgt sehen wohl aktuell eher auch nicht an ihrer üblichen Adresse aufhalten werden. Und bei der Lufthansa anzurufen um für übermorgen mal eben 100 Charterflüge ab Kabul zu buchen dürfte auch eher mäßige Erfolgsaussichten haben.



      Der Fehler bestand darin, dass die Folgen der Abzugspläne für Afghanistan und die Afghan*innen bei deren Planung überhaupt keine Rolle spielten. Hätte man Ortskräfte und besonders gefährdete Personen vor den Truppen außer Landes gebracht wäre das relativ reibungslos möglich gewesen, aber man fand die Biervorräte eben wichtiger.

  • Zwanzig Jahre lang Billionen Dollar reinbuttern, über 2.000 eigene Soldaten geopfert für die Zukunft des Landes.

    Da ist 'kaltschnäuzig' nicht der richtige Ausdruck. Irgendwann muss man einsehen, dass es nichts mehr wird.