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Ende der Corona-MaßnahmenThüringer Alleingang

Bodo Ramelow kündigt ein Ende der Corona-Schutzmaßnahmen an – und erntet Widerspruch. Wie fragil die Lage ist, zeigen zwei lokale Ausbrüche.

Bodo Ramelow (l.) will das Ende der Corona-Maßnahmen Foto: Martin Schutt/reuters

BERLIN taz/dpa | Mit aktuell rund 2.800 bestätigten Sars-CoV-2-Fällen gehört Thüringen zu jenen Bundesländern, die von der Pandemie bisher am wenigsten betroffen sind. Ministerpräsident Bodo Ramelow hat diese Zahlen und das allgemein sinkende Infektionsgeschehen nun zum Anlass genommen, die baldige Aufhebung der allgemeinen Corona-Beschränkungen in seinem Bundesland anzukündigen.

„Wir haben im März auf der Grundlage von Schätzungen von 60.000 Infizierten entschieden – jetzt haben wir aktuell 245 Infizierte“, sagte der Linken-Politiker der Bild am Sonntag. „Der Erfolg gibt uns mit den harten Maßnahmen recht – zwingt uns nun aber auch zu realistischen Konsequenzen und zum Handeln. Und das heißt: Für Thüringen empfehle ich die Aufhebung der Maßnahmen.“

Konkret will Ramelow vom 6. Juni an auf allgemeine, landesweit gültige Corona-Schutzvorschriften verzichten. Damit würden die Regeln zu Mindestabständen, dem Tragen von Mund-Nasen-Schutz sowie Kontaktbeschränkungen nicht mehr gelten. Anstatt dieser Vorgaben soll es dann regionale Maßnahmen abhängig vom Infektionsgeschehen vor Ort geben. Dafür ist ein Grenzwert von 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche im Gespräch.

Auch wenn einzelne Länderchefs immer mal wieder mit bestimmten Lockerungen vorpreschen, stellt Ramelows Vorstoß ein Novum dar. An den seit zwei Monaten bundesweit geltenden Kontaktbeschränkungen wagte sich bislang kein Ministerpräsident zwischen Kiel und München zu rütteln – zu zerbrechlich ist die Lage.

Gegenwind auch vom Koalitionspartner

Die von Bund und Ländern vereinbarten Regelungen gelten noch bis 5. Juni – danach will Ramelow in Thüringen nun also umsteuern. „Von Ver- zu Geboten, von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten“, schrieb Ramelow auf seiner Internetseite.

Aus anderen Bundesländern erntete Ramelow Widerspruch. „Ich halte eine komplette schnelle Lockerung für verfrüht“, sagte Mecklenburg-Vorpommerns Landesinnenminister Lorenz Caffier (CDU). Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) warnte ebenfalls vor einem zu fahrlässigen Umgang mit dem Virus. Auch Virologen und Epidemiologen warnen immer wieder vor einer zu frühen Aufhebung der Hygiene- und Schutzmaßnahmen.

Gegenwind bekommt Ramelow auch in seinem eigenem Bundesland. So etwa aus seiner eigenen rot-rot-grünen Koalition: „Das hat überall große Irritationen ausgelöst“, sagte der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Matthias Hey.

Auch Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitsche (FDP), der im März als eines der ersten Stadtoberhäupter eine Maskenpflicht in seiner Kommune eingeführt hatte, kritisierte: „Mir scheint das ein Gang aufs Minenfeld“, schrieb er auf Facebook. „Wo's kracht, da gibt's halt lokal einen zweiten Lockdown. Soll das wirklich unsere Strategie sein in Thüringen?“

Unverändert fragiles Infektionsgeschehen

Zwei am Wochenende bekannt gewordene Corona-Ausbrüche in Hessen und Niedersachsen offenbaren, wie unverändert fragil das Infektionsgeschehen ist. Nach einem Gottesdienst in einer Kirchengemeinde der Baptisten in Frankfurt am Main infizierten sich mehr als 40 Menschen mit Sars-CoV-2. In deren Folge musste ein bereits genehmigter Stadion-Gottesdienst zum Ende des Ramadan mit bis zu 1.000 Besuchern in Hanau abgesagt werden.

In einem zweiten Fall sind nach nach einem Restaurantbesuch in Ostfriesland mindestens zehn Menschen positiv auf das Coronavirus getestet worden – offenbar durch bewusstes Verletzen der Abstandsregeln.

„Nach ersten Erkenntnissen ist das Infektionsgeschehen vor Ort nicht auf einen normalen Restaurantbesuch zurückzuführen“, erklärte Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD). „Stattdessen wurde dort offenbar eine private Party gefeiert.“ Zeugen sollen ausgesagt haben, dass Gäste Hände schüttelten und Mindestabstände nicht eingehalten wurden. Dem Betreiber droht nun eine Strafe.

Mit Blick auf die beiden Fälle rief Grünen-Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt die Länder auf, ihre Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus immer wieder auf die Wirksamkeit hin zu überprüfen. „Viele von ihnen haben die Lockerungen vorangetrieben“, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Sie müssen jetzt aufpassen, dass uns die Situation nicht entgleitet.“ Die Fälle zeigten: „Wir müssen weiterhin wachsam sein“, sagte die Grünen-Politikerin.

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19 Kommentare

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  • "Nach einem Gottesdienst in einer Kirchengemeinde der Baptisten inFrankfurtam Main infizierten sich mehr als 40 Menschen mit Covid-19"

    Stand gestern Abend sind es schon über 100 Personen.

    www.hessenschau.de...na-kirche-100.html

    • @Sven Günther:

      die Baptisten haben sich beim gemeinsamen Essen angesteckt.



      Es sind eben gläubige Covidioten.

      • @Monika Frommel :

        Ich mache da eher das gemeinsame Aerosolschleudern aka Singen im Chor ohne Masken als Grund aus.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @Sven Günther:

      "Hessen vorn".

      Uralt-Parole aus einer Zeit, als Sie noch als Entwurf unterwegs waren ... :-)

      • @76530 (Profil gelöscht):

        Ist mir aus dem Geschichtsunterricht bekannt, diese mystische Zeit, als wir noch von der SPD regiert wurden.

        Und die Ausläufer davon habe ich ja noch mitbekommen, Hans, ich will auf kein Cent Ruhegehalt verzichten, Eichel war sogar mal bei uns an der Schule.

        • 7G
          76530 (Profil gelöscht)
          @Sven Günther:

          Ja, ja, Hans Eichel, der Mann mit dem Charisma von Ellbogenschonern ... Bei den Ausläufern muss es sich wohl um ein Tief gehandelt haben, mit Kern über Kassel und dem Edersee. :-)

  • Na super! Nun ist Politik schon wieder eine Glaubensfrage geworden. Von wegen: Wahlfreiheit und bessere Argumente...!

    MP Ramelow ließ heute Morgen im Frühstückstadio ausrichten, er habe nie das Masketragen oder das Abstandhalten beenden wollen, sondern nur den Zwang, an jeweils 7 Tagen pro Woche einen Krisenstab tagen zu lassen, dessen Teilnehmer mangels Krise nicht so recht wüssten, worüber sie beraten sollen. Die Frage ist nun: Glaube ich der taz oder dem Radiosender, der ihre Aussage korrigiert hat?

    Kommt ganz drauf an, vermute ich, wie ich grade gehäkelt bin. Halte ich Ramelow für einen tollen Politiker? Bin ich ein großer Fan von R2G plus CDU-Duldung? Vertraue ich der Tageszeitung blind? Bin ich kulturbeflissrbef Bildungsbürgerlichen und definiere mich über meinen Radiokonsum? Oder glaube ich die Erfahrung gemacht zu haben, dass „die Politik“ und „die Medien“alle lügen, sobald sie sich nur was davon versprechen?

  • „Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung. Dies ist eine dynamische Situation, und wir werden in ihr lernfähig bleiben, um jederzeit umdenken und mit anderen Instrumenten reagieren zu können." (Angela Merkel in ihrer Fernsehansprache am 18.03.2020)

    Bodo Ramelow sagt doch jetzt auch nichts anderes. Da er aber von der Linkspartei ist, bekommt er erstmal Widerspruch. Ein Ausnahmezustand kann doch per Definition gar kein Dauerzustand sein - auch wenn sich die ersten schon so sehr daran gewöhnt haben, dass sie ihn jetzt gar nicht mehr missen möchten. (;-))

    • @Rainer B.:

      Naja, es sind gerade einmal 2 Monate seit es Beschränkungen gibt. Mir kommt das lange vor, aber ein Dauerzustand ist das noch lange nicht.

      Im Grunde gibt es ja gerade auch medizinisch viele neue Fortschritte und Erkenntnisse hinsichtlich Blutverdünnung, Hydroxychloroquin, Impfstoffentwicklung...

      2 Monate sind verglichen zu der Länge und Frequenz größerer Pandemien von über einem Jahr respektive 100 Jahren dann doch recht kurz. Wenn einmal Impfstoff und wirkungsvolle Medikamente bekannt sind (und die Chancen stehen nicht schlecht), dann wird Corona langfristig im schlechtesten Fall so wie Hepatitis oder Tuberkulose sein, prinzipiell durchaus gefährlich aber eigentlich sehr gut behandelbar und vermeidbar.

      Eine andere Frage ist natürlich inwieweit die Beschränkungen auch im wirtschaftlich gesunden Deutschland nicht bald zum Problem werden...

      • @hey87654676:

        Die Frage ist doch die, ob man das Infektionsschutzgesetz da, wo es nur wenige, oder gar keine Infektionen mehr gibt, überhaupt noch in vollem Umfang anwenden kann. Ich sehe das nicht, andere sehen das anders. Es bedarf im Grunde einer intensiven parlamentarischen Debatte darüber, die aber bislang ausgeblieben ist.



        Ohne Ihre Hoffnungen auf einen schnellen Impfstoff trüben zu wollen, sind die Fakten so, dass es normalerweise ca. 5 Jahre dauert, bis zur Zulassung eines neuen Impfstoffs. Es bedarf einfach sorgfältiger Testreihen, um sicherzustellen, dass ein Impfstoff nicht am Ende mehr schadet, als er nutzt. Auf diesem Hintergund sollte man auch Proteste gegen eine Corona-Impfpflicht verstehen, obwohl es ja derzeit noch gar keinen Impfstoff gibt. Die Gefahr ist groß, dass man jetzt mit heißer Nadel mal eben einen Impfstoff strickt und den dann ohne ausreichende Tests anwendet. Das käme einem Lotteriespiel gleich.

  • Die nächste Wahl ist 2024, Ramelow ist 64. Man kann ihm Vieles vorwerfen. Aber nicht, dass er aus persönlichem Interesse irgendwelche populistischen Forderungen bespielen würde.



    Möglicherweise ist der Thüringer Weg gar nicht so schlecht. Aber das darf ja nicht sein.

    • @schwarzwaldtib:

      Vielleicht - vielleicht auch nicht. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass viele den Fisch schon für geputzt halten. Und das nicht nur in der Politik, sondern auch auf der Straße. Wenn man nach Singapur, Südkorea und China schaut, können einem da aber schon Zweifel kommen.

  • 0G
    05158 (Profil gelöscht)

    Politischer Machterhalt bzw.Erweiterung gegenüber gestellt Menschenleben.



    Es kann "gut" gehen aber wenn nicht?



    Übernimmt dann Herr Ramelow Verantwortung?



    Schließe mich @SMARAGD an.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @05158 (Profil gelöscht):

      Sie wissen doch: Bodo Ramelow gehört zur Partei Die Linke.

      Er kann strategisch denken - und handeln. Ich bin mir sicher, dies ist bestimmt eine besonders perfide Form des Klassenkampfs.

      Wehret den Anfängen!!!

      • 0G
        05158 (Profil gelöscht)
        @76530 (Profil gelöscht):

        Oh, oh,



        ich stelle eine gewisse zynironische Diktion fest.(hervorgerufen durch längst versendete Artikel.;-))



        Bodo Ramelow hat einen polittaktischen Fehler begangen(da staune ich, wie die Profis mitunter agieren) Er rudert im Moment schon wieder etwas zurück. Das ist ja fast noch schlimmer!)



        Und um ihren eventuellen Griff zur Kopfschmerztablette zu beschleunigen:



        Michel Friedman



        „Wer noch sagt: ,Wehret den Anfängen’, begreift nichts“

        www.welt.de/kultur...greift-nichts.html

        ;-)

        • 7G
          76530 (Profil gelöscht)
          @05158 (Profil gelöscht):

          Ich finde etwaiges "Zurückrudern" nicht per se schlecht oder falsch. Wie ich nichts per se schlecht oder falsch finde.

          Alles eine Frage des Kontextes. Mir sind Menschen sympatisch, die in der Lage sind, Entscheidungen zu korrigieren. Festhalten an sich ist kein Wert.

          "Wer A sagt, muss auch B sagen", ist für mich ohnehin einer der blödsten Sprüche wo gibt.

          Und Herr Friedman bewirkt bei mir - nichts. Davon aber eine Menge.

          Was Ihre Vermutung angeht: stimmt. Mein Motto: verzeihen ja, vergessen nie. (Django)

          Astalavista ... oder so.

  • Weiß Herr Ramelow nicht, wie sehr ein zweiter Lockdown der Wirtschaft schaden würde? Wie viel es den Staat dann kosten würde, noch mehr Unternehmen zu retten? Die Abstandsregeln und Mundschutzpflicht in geschlossenen Räumen können wir aufheben, wenn es einen wirksamen Impfstoff gibt und 70% der Menschen geimpft sind. Aber der existiert halt bis jetzt nur als Idee, nicht als Substanz.

    Und wie soll die Polizei Lockdowns effektiv kontrollieren, die in jedem Landkreis anders ausgestaltet sind, und deren Verteilung sich alle paar Wochen ändert? Wie sollen die Bürger*innen jeweils wissen, was in allen umliegenden Landkreisen gilt? Meine Güte, das war glaube ich nicht durchdacht.

    Das tut mir wahnsinnig leid für die Muslime in Hanau, dass sie nach dem schweren Attentat jetzt nicht mal einen großen Gottesdienst zum Zuckerfest feiern können.

    • @Smaragd:

      bei aktuell 245 Infizierten ist deren Überwachung wesentlich effektiver als eine Überwachung einer Maskenpflicht, und man muß nicht auf einen Impfstoff warten (funktioniert übrigens auch bei Grippe nicht) sobald es Medikamente gibt, die einer Erkrankung das Todesrisiko nimmt.