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Einwanderung und ArbeitskräftemangelMigrantisches Gold

Gastkommentar von Naika Foroutan

Es geht nicht mehr nur um die sogenannten Qualifizierten. Deutschland braucht Arbeitskräfte in großer Zahl.

Pflege: In zentralen Sektoren unserer Gesellschaft fehlt qualifiziertes Personal Foto: Tom Weller/dpa

W inter 2022 in Deutschland. Auf dem Flughafen Frankfurt am Main müssen die Passagiere aus den USA eine Stunde auf dem Rollfeld warten: Es gibt keinen Bus, der sie abholt, denn es fehlen Fahrer. In Berlin fehlt Personal, um die Koffer zu verladen. S-Bahn und U-Bahn schrauben die Taktung ihres Schienenverkehrs herunter, weil ihnen die Mitarbeiter ausgehen. Eine Umfrage in bayrischen Kitas und Krippen ergibt: Der Personalmangel dort ist dramatisch und gefährdet das Kindeswohl. Auch in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen fehlt Personal.

Transport, Bildung, Pflege – zentrale Sektoren moderner Gesellschaften kollabieren, weil ihnen Man- und Womanpower fehlt. Deutschland braucht mindestens 400.000 Ein­wan­de­re­r:­in­nen pro Jahr, um seine Infrastruktur am Laufen zu halten und seinen Wohlstand zu bewahren. Unvergessen bleiben zugleich die Polemik und die moralische Panik, als innerhalb eines Jahres plötzlich 800.000 Flüchtlinge zu uns kamen. 2015 war das. „Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns lieb und teuer ist“, musste die Kanzlerin beteuern. Ein Jahr später gingen die Zahlen wieder drastisch zurück.

Nur die Besten der Besten will man anziehen. Deutschland will wählen können, wer hierher darf – zum Beispiel per Punktesystem. Und: Keine „Kulturfremden“ bitte. Doch wir werden erleben, dass dieses Land bald um diese „Kulturfremden“ betteln muss, damit sie nicht in die USA, nach Kanada oder Australien gehen. Während wir hier noch darüber streiten, ob der deutsche Pass die Kirsche auf der Sahnehaube ist oder verramscht wird, wenn Einbürgerungen leichter werden, hat sich Kanada längst von der Vorstellung verabschiedet, nur um den „qualifizierten Facharbeiter“ zu werben. Gesucht werden dort „relevant skilled worker“: Busfahrer, Supermarktverkäufer:innen, Gepäckverlader, Pflegekräfte und Kinderbetreuer:innen.

Deutschland wird nicht mehr Deutschland bleiben, wenn wir nicht endlich eine moderne Migrationspolitik betreiben, die smart und vorausschauend plant und erkennt, worauf wir als große Volkswirtschaft zusteuern, statt sich von rassistischer Panik treiben zu lassen. Wir konkurrieren um migrantisches Gold, weltweit. Das sollten nun jedem klar sein, im Winter 2022 in Deutschland.

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19 Kommentare

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  • Wie jetzt? "Gesucht werden dort „relevant skilled worker“: Busfahrer, Supermarktverkäufer:innen, Gepäckverlader, Pflegekräfte und Kinderbetreuer:innen." und "Migrantisches Gold"



    Machen wir uns mal folgendes lar. Deutschland ist für (hoch)qualifizierte Menschen, und da nehme ich jetzt mal Busfahrer, Supermarktverkäufer, Gepäckverlader raus, kein attraktives Land. Auch Wissenschaftler, Ingeniuere etc. werden anderen Ortes besser bezahlt und haben ein beruflich besseres Umfeld.



    Im Artikel zu schreiben, daß wir Busfahrer, Supermarktverkäufer, Gepäckverlader suchen, dies als migrantische Gold darzustellen, und gleichzeitig nicht eine besser Bezahlung für eben diese ARbeit zu fordern, ist schon zynisch und träller die gleiche Melodie wie der Bundesverband der Industrie oder sowas. Für diese Tätigkeiten sind uns nämlich die ARbeitsmigranten gerade gut genug und wie gerufen gekommen. Billigste Arbeitskräfte für unqualifizierte Arbeit, die nicht aufmucken. Und das wollen Sie uns hier als das Non plus Ultra verkaufen? Geht's noch?

    • @Pia Mansfeld:

      Ich habe Zweifel, ob man als Busfahrer nach Kanada auswandern kann und da mit Kusshand genommen würde...

      • @Peterbausv:

        Das behauptet auch niemand. Es geht hier - und das kann man mit aufmerksamen lesen erkennen - um die schlechte Bezahlung der Arbeitskräfte für gering bis gar nicht qualifizierter Arbeit, und dass hochqualifizierte woanders gesucht und besser entlohnt und geachtet werden als hier. Alles klar soweit?

  • Mal ne praktische Frage:

    Wo sollen die Einwanderer in Berlin wohnen?

    Der Wohnungsbau der letzten Jahre ist ja ehrlich gesagt eine Katastrophe. Glaubt irgendjemand, das wird besser?

  • Der ständige Vergleich mit Kanada hinkt. Geringqualifizierte haben über das Punktesystem keine Chance einzuwandern. Bei uns ist das dann leider die Mehrheit der Migranten. Kanada hat über seine natürlichen Grenzen auch keinerlei Migrationsdruck und kann auswählen wen es überhaupt rein lässt. Wir werden nie in einer vergleichbaren Situation wie Kanada sein. Wenn hier alles so golden ist, fragt man sich direkt warum dann außer uns in Europa keiner mehr mitmachen will.

  • "Deutschland wird nicht mehr Deutschland bleiben, wenn wir nicht endlich eine moderne Migrationspolitik betreiben, die smart und vorausschauend plant und erkennt, worauf wir als große Volkswirtschaft zusteuern, statt sich von rassistischer Panik treiben zu lassen. Wir konkurrieren um migrantisches Gold, weltweit." --> Absolut d'accord. Diese Binse bestreitet aber nur noch die AfD.

    Die Frage ist nur, welche Schlussfolgerung man aus dieser Feststellung zieht. Sicherlich benötigen wir definitiv Zuwanderung und Arbeitskräfte (noch nicht heute, aber in relativ absehbarer Zeit).

    Die sich stellende Frage ist nur, wer diese Arbeitskräfte sein werden. Das statistische Bundesamt berechnet, dass 54,89 % aller Arbeitslosengeldempfänger (I & II zusammengenommen - www.destatis.de/DE...ensunterhalt.html) Migrationshintergrund haben.

    Daher ist nicht (nur) die Frage nach der Qualifikation zu stellen, sondern auch nach der Arbeitswilligkeit der Migrierten. Auch ein unqualifizierter Migrant trägt zur Gesellschaft bei, wenn er arbeitet. Möglicherweise sogar mehr als der entsprechende Deutsche, weil sich leichter ausbeuten lässt. Beispiele gibt es ja, siehe Tönnies, genug.

    Daher muss ein Teil der Diskussion sein, dass Arbeitswilligkeit bei den Einwanderern vorliegt.

  • "Deutschland wird nicht mehr Deutschland bleiben, wenn wir nicht endlich eine moderne Migrationspolitik betreiben...".

    Was ist daran so schlimm, wenn Deutschland nicht Deutschland bleibt und sich verändert?

    Ja, aktuell werden (Fach-)Kräfte für viele unterschiedliche Bereiche benötigt. Das hängt mehrheitlich mit der baby boomer Generation zusammen. Diese wird jedoch in den nächsten 10 bis 15 Jahren verschwinden, sodass, um bei dem Beispiel des Autors zu bleiben, weniger Menschen befördert, gepflegt oder gebildet werden müssen. Natürlich brauchen wir jetzt Hilfe in Form von menschlicher Arbeit. Aber was geschieht nach den baby boomer Jahren, wenn plötzlich viele Millionen Menschen nicht mehr gepflegt werden müssen.

    Meiner Meinung nach muss Deutschland nicht das bleiben, was es war oder ist. Wir sollten uns vielmehr als Bevölkerung einigen, was wir wollen und wohin wir wollen. Die Welt ist dynamisch und verändert sich. Deutschland schrumpft und damit wird Vieles, Infrastruktur, Dienstleistungen usw., abnehmen. Und das ist ist in Ordnung. Warum etwas künstlich konservieren, wenn kein Grund dafür besteht.



    Aber das ist nur meine Meinung. Ich bin gespannt auf die Meinungen anderer.

    • @Mikael Magde:

      Wenn Sie weniger Reichtum , als Land gesprochen, akzeptieren, dann haben Sie recht. Bedeutet aber dann auch, dass die Alten nicht mehr auf die zu wenig Jungen zählen dürfen für Pflegeleistungen, Einkommen per Rente... da die sich eben mit der eigenen Zukunft beschäftigen müssen anstatt mit der der Alten. Wir haben einen demographischen Pilz, keine (ideale) Alterspyramide.



      All das auf dem unser Reichtum derzeit fußt ist dann wackelig. Dann werden Autos eben da gebaut wo es genügend Arbeiter gibt... und nicht mehr in DE.

      • 6G
        650228 (Profil gelöscht)
        @Tom Farmer:

        Ja, weniger materieller "Reichtum" würde Deutschland bestimmt ganz gut tun. Mit 50 oder 60 Millionen Menschen könnte man hier auch hervorragend leben. Mehr Platz, mehr Natur, weniger Aggressivität. Sollen sich doch zur Abwechslung mal andere Länder ein paar Jahrzehnte um den Platz an der Sonne kloppen.

  • "Es geht nicht mehr nur um die sogenannten Qualifizierten. Deutschland braucht Arbeitskräfte in großer Zahl." und "Wir konkurrieren um migrantisches Gold, weltweit." Das widerspricht sich. Ferner, bleiben wir bitte mal auf dem Teppich bzgl. Gold. Für Arbeiten wie Pizzaausfahren, Kofferschleppen, Bier-, Schnitzel-, Kuchen- u. Käffchen-servieren, Päckchen-vor-die-Tür-ablegen-klingeln-und-verschwinden braucht es kein Gold, sondern einfach eine bessere Bezahlung. Bei rund 2,4 Mio. Arbeitslosen in D, ist von der Qualifikation her genügend Arbeitskraft vorhanden. Solange aber von Industrie, Handwerk und vor allem Handel und Dienstleistung dieser Mangel ein um den anderen Tag heraufbeschworen wird weil man zu geizig ist, anständige Löhne zu zahlen, und so ziemlich alle Medien das Lied mitsingen, wird sich daran nichts ändern.

    • 0G
      06455 (Profil gelöscht)
      @Lars B.:

      Das trifft den Punkt genau!

  • Solange nicht zwischen den Begriffen wie Geflüchtete, Zuwandernde, Migranten, Arbeitsmigranten sowie denjenigen die nur temporär hier bleiben wollen und denjenigen die hier eine Existenz aufbauen wollen inkl. deren Familien trägt nicht zur konstruktiven Dskussion und Möglichkeitenfindung bei.



    1 Mio Flüchtlinge aus der Ukraine, mal alle Koffer schleppen am BER und Putin machts möglich durch Vertreibungen? Nee, so eben nicht!

  • Manchmal frage ich mich schon, was die offiziell mehr als 2.400.000 als "arbeitssuchend" gemeldeten Personen davon abhält, manche der genannten Mangelbereiche zu füllen. Selbst wenn man ein paar Wochen darauf verwenden muss, um einen Busführerschein zu machen, ist die Jobsuche zur Zeit doch wirklich einfach. Viele andere Tätigkeiten sind noch viel leichter erlernbar. Koffer verladen könnten (rein körperlich) sicher die Hälfte der genannten Zahl.

    Bei Pflege- und Kitakräften sieht es aber anders aus. Das sind Ausbildungsberufe, da braucht man mehr Zeit.

    • 0G
      06455 (Profil gelöscht)
      @Winnetaz:

      Das wundert mich auch. Und die Bezahlung als Busfahrer/in z. B. In Meckl.Vorp.ist sehr gut.



      Was mMn fehlt ist etwas mehr Engagement bei der Arbeitsvermittlung und Druck auf Auszubildende und Ar beitsauchende, aber ganz entscheidend Druck auf die Industrie bez.angemessener Bezahlung.

  • "Wir konkurrieren um migrantisches Gold" - richtig. Doch bitte nicht vergessen, dass es Teil unserer imperialistischen Lebensweise ist, nicht nur die qulifiziertesten, sondern ansonsten auch die mutigsten, fleißigsten und kräftigsten "Goldstücke" aus anderen Ländern abzufischen.

    • @Wondraschek:

      Wieviele der seit 2015 Eingereisten sind denn sozialversicherungspflichtig beschäftigt? Es wäre schön gewesen, diese Information in dem Artikel zu erhalten. Das wäre ein gutes Argument zur Unterstützung der bisherigen Migrationspolitik.

  • Zusätzlich könnte man langfristig wieder auf mehr Kinder setzen. Das kann man natürlich nicht herbeireden aber vielleicht könnte die (versteckte) Antihaltung dazu nachlassen, das würde schon helfen.

  • Deutschland hat das große Glück einer natürlich schrumpfenden Gesellschaft.

    Das heißt weniger Ressourcenverbrauch und weniger klimaschädliche Emissionen.

    Dieses Glück sollte man nicht für eine veraltete Wachstumsideologie aufs Spiel setzen.

    Supermarktverkäufer und Busfahrer braucht in vielleicht 10 Jahren keiner mehr.

    Die Busse fahren dann ohne Fahrer, im Supermarkt scanne ich meine Ware bereits jetzt selbst ein und bezahle sie.

    Ein Problem wird dann sein, die Arbeit möglichst gerecht zu verteilen.

    • @rero:

      Deutschland schrumpft aber nicht, sondern durch Migration nimmt die Zahl der Bevölkerung zu.