Einheitsregierung in Israel: Die nationale Misstrauenskoalition
Netanjahu und Gantz haben sich auf eine Koalition geeinigt. Doch die Übereinkunft zeugt von gegenseitiger Skepsis statt von Gestaltungswillen.
Die ersten sechs Monate sind laut der am Montagabend getroffenen Vereinbarung als „Notstandsperiode“ vorgesehen; in dieser Zeit dürfen nur Gesetze zur Eindämmung der Coronakrise in Israel verabschiedet werden. Auf die Notstandsperiode folgt eine „Phase der Einheitsregierung“, ein Begriff, der bereits irreführend ist, denn die Vereinbarung spiegelt in erster Linie das Misstrauen wider, das Netanjahu und Gantz gegeneinander hegen.
Der Kompromiss wird eine Regierung sein, die aus zwei Blöcken besteht: dem rechtsreligiösen Block unter Führung von Netanjahus Likud mit voraussichtlich 59 Abgeordneten und Gantz’ Block, bestehend aus voraussichtlich 19 Abgeordneten. Netanjahu soll für 18 Monate die Amtsgeschäfte übernehmen und den Posten des Regierungschefs dann an Gantz abtreten.
Doch unabhängig von ihrem Status erhalten beide große Macht über jeweils einen Teil der gemeinsamen Regierung. Beide können einen Minister aus dem eigenen Block entlassen – eine Macht, die normalerweise nur der Ministerpräsident, nicht aber sein Vize, innehat. Mit einem System aus gegenseitiger Kontrolle, etwa durch ein Vetorecht, das die Blöcke bei Regierungsentscheidungen haben, haben die Verhandlungsteams außerdem vorgesorgt, dass keiner im Alleingang Entscheidungen durchdrücken kann.
Weg frei für Annexion von Palästinenser-Gebieten
Der Präsident des Israelischen Demokratieinstituts, Yohanan Plessner, sieht politische Blockaden bereits programmiert: „Es wimmelt von gegenseitigen Kontrollmechanismen und Formalitäten bei wenig inhaltlicher Substanz“, so sein Urteil. Gleichzeitig aber könnten vom Likud angestrebte antidemokratische Gesetze verhindert werden, etwa eine Entmachtung des obersten Gerichtshofes.
Die Vereidigung der neuen Regierung ist für den 4. Mai vorgesehen. 32 Ministerposten sind für die erste Phase vorgesehen, vier weitere sollen nach Ende der Coronakrise hinzukommen. Jedem Block fällt jeweils die Hälfte der Ministerposten zu.
Eine Einigung fanden Netanjahu und Gantz in Sachen Annexion von Teilen des besetzten Westjordanlandes. Ab dem 1. Juli darf Netanjahu dem Parlament einen Plan vorlegen, die israelischen Siedlungen sowie das Jordantal – wie im umstrittenen Nahostplan von US-Präsident Donald Trump vorgesehen – unilateral zu annektieren. Vorausgesetzt wird lediglich, dass die US-Regierung zustimmt. Gantz und sein Blau-Weiß-Bündnis haben zugesichert, nicht gegen den Schritt zu stimmen.
Ein weiterer Streitpunkt war die Ernennung von Richtern. Laut dem gefundenen Kompromiss wird nun Zvi Hauser, ein Blau-Weiß-Abgeordneter vom rechten Flügel, in das parlamentarische Komitee zur Ernennung von Richtern geschickt. Mit ihm würde es in dem einflussreichen Gremium eine rechte Mehrheit geben.
Eine vierte Wahl ist noch nicht vom Tisch
Die größte Sorge Netanjahus aber war wohl eine persönliche: Es ist ein offenes Geheimnis, dass der eigentliche Grund für das mehrmalige Scheitern der Regierungsgespräche der anstehende Gerichtsprozess gegen ihn war. Er ist wegen Betrug, Untreue und Bestechung angeklagt. Gantz hatte gedroht, ein Gesetz ins Parlament zu bringen, die es einem Angeklagten unmöglich macht, als Ministerpräsident zu dienen. Angesichts der Aussicht auf eine Einheitsregierung hat er davon nun abgesehen.
Doch noch steht eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes in dieser Frage aus. Der hat am Dienstag drei Petitionen erhalten, deren Verfasser mit jeweils unterschiedlichen juristischen Begründungen fordern, dass Netanjahu aufgrund der Anklage nicht als Ministerpräsident tätig sein darf.
Allerdings hat Netanjahu auch hier Vorsorge getroffen: Sollte das Gericht entscheiden, dass er das Amt des Ministerpräsidenten tatsächlich nicht bekleiden darf, so dürfte laut der am Montag getroffenen Vereinbarung auch Gantz nicht Ministerpräsident werden. Dann müsste sich die Knesset wohl auflösen und es käme zu einer vierten Parlamentswahl seit April 2019. Netanjahu hofft, mit diesem Schreckensszenario eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes zu seinen Ungunsten verhindern zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen