Eine neue Verkehrspolitik ist nötig: Hamburg braucht Tempo 30
In Hamburg erstickt die Debatte um Tempo 30 im alten Mantra von Hafen und Infrastruktur. Es ist höchste Zeit, die Stadt daraus zu befreien.
K ürzlich war ich in Lychen, Brandenburg, und erkannte, dass Reisen tatsächlich bildet. Man sieht Unvertrautes und betrachtet das Eigene mit neuen Augen. Ich sah, dass es auf Erden möglich ist, in einer deutschen Kommune Tempo 30 nahezu flächendeckend einzurichten; ich betrachte das nahezu flächendeckende Tempo 50 in Hamburg mit neuem Befremden.
Das Befremden muss man sich warm halten, denn dieser Zustand wird inzwischen als gottgegeben hingenommen. Selbst der Allgemeine deutsche Fahrradclub (ADFC) in Hamburg hat resigniert. Die Debatte um ein flächendeckendes Tempo 30 sei tot, sagt Dirk Lau, der ADFC-Sprecher, und klingt dabei so, als sei seine Wut darüber auch schon fast tot.
Tatsächlich muss man nicht mal bis Lychen reisen, um zu erleben, wie es ist, wenn der Autoverkehr langsamer rollt, man kann es auch in Buxtehude oder Lauenburg erfahren. Für alle, die es noch nicht kennen: Die Fußgänger:innen und Radfahrer:innen machen sich nicht länger passend für den Autoverkehr, sie sind nicht länger Dauer-Flüchtende und Dauer-Ausweichende; der Autoverkehr macht eine kleine Konzession an die übrige Verkehrswelt.
Es wirkt unglaublich naheliegend. Es ist unglaublich fernliegend in einer Stadt wie Hamburg, die ihre Mantren gleichförmig wiederholt, „der Hafen, die Infrastruktur“ lauten sie und bedeuten, keine Handbreit zurückzuweichen für etwas, das kein Auto oder LKW ist, es sei denn an Orten, die man für bedeutungslos hält.
Der Hamburger ADFC hatte vor ein paar Jahren eine Kampagne für Tempo 30 gestartet und außer Verbitterung wenig gewonnen. Da ist einerseits die Straßenverkehrsordnung, hinter der man sich verstecken kann, wenn man denn will. Darin heißt es, dass Tempo 50 Regel ist und Tempo 30 die Ausnahme, die begründet werden muss.
Die Debatte ist nicht rational
Natürlich könnte Hamburgs grüner Verkehrswendesenator eine Bundesratsinitiative starten mit dem Ziel, genau diese Logik umzudrehen in Richtung: Tempo 30 ist die Regel, Tempo 50 die Ausnahme. Natürlich könnte er sich dem Städtebündnis anschließen, das genau das fordert. Aber, auch das ist inzwischen ein Mantra in der Debatte, was will man tun in einer Koalition, in der man der SPD selbst das Rückfahren von Tempo 60 auf 50 abringen muss? Man sucht sich Schlachten, die man vielleicht gewinnt.
Aber was ist mit denen, die weiter auf dem Schlachtfeld leben müssen, die ausbaden müssen, dass nicht einmal die wenigen Chancen genutzt werden. Schon jetzt gilt: Dort, wo soziale Einrichtungen sind, also etwa Schulen, Altenheime, Kitas, soll im unmittelbaren Bereich regulär Tempo 30 gelten. Soll. Denn in Hamburg, so sagt Dirk Lau vom ADFC, werde das immer wieder ausgehebelt. Mag ja sein, so heißt es dann aus der Behörde, dass dort alte Menschen oder kleine Kinder die Straße überqueren müssen, aber wenn sie mehrspurig ist, könnte ihre Leistungsfähigkeit durch Tempo 30 eingeschränkt werden.
Die Abwägung ist klar und das Ergebnis bitter: Vorrang hat nicht der Schutz der Menschen, Vorrang hat das Tempo. Dass es längst Studien gibt, die belegen, dass der Verkehrsfluss durch Tempo 30 verbessert wird – geschenkt.
Die Debatte ist nicht rational. Sie muss es auch nicht sein, solange die alten Glaubenssätze ziehen. „Die Wirtschaft, systemrelevant, Arbeitsplätze“, es klingeln einem die Ohren, sodass man gar nicht mehr nachfragt, ob in einem Verkehrsversuch herausgefunden werden könnte, ob der Hafen unter Tempo 30 zusammenbricht. Stattdessen wird eine Stadt in Geiselhaft für eine unbelegte Behauptung genommen.
Dass man die Schwächeren dazu zwingt, sich für das System der anderen passend zu machen, ist gute alte Sitte, die Liste der Beispiele lang: Tiere sind Dinge, Arbeitnehmer:innen passen sich den Interessen der Arbeitgeber:innen an. Aber die gute alte Sitte hat an manchen Stellen Risse bekommen. Die Debatte um Tempo 30 ist tot. Lang lebe Tempo 30!
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