Ein Jahr #MeToo: Die dunkle Seite der Debatte
Trotz der Kritik von allen Seiten ist #MeToo keineswegs gescheitert. Aber das ist kein Grund, sich nicht offen mit der Kritik auseinanderzusetzen.
Vor Kurzem saß ich in einer Call-in-Sendung des WDR. Direkt die erste Anruferin beschimpfte mich, dass #MeToo eine „widerliche Schmuddelkampagne“ sei, „eine Mischung aus mittelalterlichem Pranger und Selbstjustiz“.
Vor Kurzem saß ich auf einem Podium mit Svenja Flaßpöhler, um mit ihr über ihr Buch „Die Potente Frau“ zu sprechen, in dem sie erklärt, dass #MeToo auf sexuelle Frauenbilder – und Männerbilder – aus dem 19. Jahrhundert zurückgreift.
Vor Kurzem bekam ich eine Mail von einem Männerrechtler: „Es gibt mittlerweile sechs Menschen, die sich infolge von #MeToo umgebracht haben, warum bleibt das in der feministischen Debatte weitgehend unerwähnt?“
Was antwortet man darauf? Lasst uns reden!
Denn zumindest an ein paar Punkten stimme ich ja mit der Kritik der Anruferin in der WDR-Sendung überein. Zum Beispiel, dass in der öffentlichen Debatte eine Weile lang über Diskriminierung nur noch gesprochen wurde, wenn es sich um sexuelle Grenzüberschreitungen handelte.
Interne Kritik ist wichtig
„Eine von fünf Frauen erfährt am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung.“ Was schließen wir daraus? Dass Frauen besser zu Hause bleiben sollen? Wohl kaum! Doch als ich das sagte, schnitt mir die Anruferin wütend das Wort ab: „Nein, also oh-oh, ich möchte diese #MeToo Debatte überhaupt nicht haben!“
Wann hat sich unsere Debattenkultur dahingehend gewandelt, dass wir nur noch einer Meinung sein dürfen? Dass Kritik bedeutet, die gesamte Sache abzulehnen?
Genauso bekam ich vor der Veranstaltung mit Svenja Flaßpöhler besorgte Mails, wie ich nur mit ihr diskutieren könne. Und im Nachhinein weiß ich nicht, ob ich es besonders gut gemacht habe. Denn – Überraschung, Überraschung – auch ich habe nicht gelernt, Kritik wertschätzend zu äußern.
Dabei finde ich eine interne Kritik von #MeToo wichtig. Eine Kritik, die nicht sagt: Weg damit. Eine Kritik, die berücksichtigt, dass etwas nicht perfekt sein muss, um wichtig zu sein. Weil wir ansonsten niemals mit irgendetwas anfangen würden.
Sprechen als erster Schritt
Denn das Problem, das Flaßpöhler sieht, ist ja da: Sobald wir über sexuelle Grenzüberschreitungen sprechen, sprechen wir von Frauen als passiven Opfern und Männern als aggressiven Tätern – und zementieren dadurch Geschlechterrollen, die wir doch eigentlich verändern wollen. Bloß hat das nicht #MeToo erfunden.
Auch Artikel von Autor*innen, die ich keineswegs als Feministen wahrnehme (aber wer weiß, ich bin ja nicht die Gatekeeperin des Feminismus), reproduzieren ein Geschlechterszenario mit zitternden Maiden und ständig erigierten Penismännern. Was also tun? Aufhören über Grenzüberschreitungen zu reden? Oder stattdessen lieber die Art, wie wir das machen, überdenken?
„Aber #MeToo bricht doch die Passivität gerade dadurch auf, dass Frauen aktiv anklagen, was ihnen passiert“, lautet eines der häufigsten Argumente gegen Flaßpöhler. Da ist etwas dran. Allerdings ist das nur der erste Schritt. Eine befreundete Psychologin bekam einen Shitstorm, nachdem sie sagte, ihr Ziel sei, Menschen, die mit #MeToo Erlebnissen zu ihr kommen, vom Erleiden in die Tat zu bringen: „Wir müssen sie zu Täterinnen machen.“
Das ist vielleicht ungeschickt ausgedrückt, doch was sie meinte, war, dass sie mit ihren Patient*innen Handlungsoptionen herausarbeitet. Natürlich, es wäre der Job von Chefs, seine oder ihre Angestellten zu schützen oder gar nicht erst zu belästigen, aber wir alle haben in den meisten Situationen deutlich mehr Möglichkeiten und auch eigene Macht, als wir wissen. Und darüber zu reden verhilft uns zu existenziellen Informationen und ist nicht Victim Blaming. Deshalb darf einem selbstredend trotzdem niemand etwas antun.
Kampf gegen Sexismus ist was für jeden Tag
Und die Geschichten, die wir seit einem Jahr hören, sind ja echt. Sie werden nicht von den Medien erfunden, um die Auflagen oder Klickzahlen mit heißen Sex-Grenzüberschreitungs-Szenen zu erhöhen. Dass wir sie erst jetzt so geballt hören, liegt daran, dass es vorher keinen gesellschaftlichen Raum dafür gab.
Und das ist auch einer der Gründe, warum wir eine so anachronistische Sprache dafür haben: Wir haben nun einmal im Alltag kaum darüber geredet. Vor #MeToo beschränkten sich die Gespräche auf bestimmte Thementage wie den 25. November, an dem Redaktionen dazu aufriefen: Frauen erzählt uns, was euch alles schon passiert ist. Und das war’s.
Dabei ist der Kampf gegen Sexismus nicht nur etwas für den internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sondern für jeden Tag. Und er ist auch nicht nur für Frauen, sondern für alle Geschlechter.
Doch genau damit tun wir uns schwer. Am Anfang von #MeToo habe ich hier in der taz einen Artikel über die Stimmen von männlichen Opfern geschrieben, die es deutlich schwerer hatten, gehört zu werden. Teilweise wurden sie sogar nachdrücklich aufgefordert, den Mund zu halten und lieber den Frauen zuzuhören.
Eine weiterentwickelte Debatte
Das hat sich inzwischen verändert. Der Vorteil, dass die Debatte seit einem Jahr auf den unterschiedlichsten Kanälen geführt wird, ist, dass sie sich weiterentwickelt. Trotzdem lese und höre ich in jedem Bericht zu einem Jahr #MeToo eine Variante der Worte: Vor einem Jahr begannen Frauen massenhaft, die sexuellen Übergriffe auf sie anzuprangern.
Noch größer als unsere Probleme mit männlichen Opfern sind die mit weiblichen Täterinnen oder potenziellen Täterinnen. Die Vorwürfe gegen Asia Argento, den damals 17-jährigen Jimmy Bennett sexuell genötigt zu haben, stellten viele vor ein kognitives Problem. Wie war das möglich? „Seid sanft,“ tweetete Rose McGowan auch wenn sie diesen Tweet später löschte. Niemand tweetete bei Kevin Spacey „Seid sanft.“
Wieder: Was lernen wir daraus? Dass wir jetzt auch bei Anklagen gegen Frauen hart durchgreifen sollen? Oder lieber, dass wir grundsätzlich Vorsicht und Wohlwollen wallten lassen sollten? Es ist nämlich beides möglich: Opfern zu glauben und sie zu unterstützen. Und Angeklagte nicht vorzuverurteilen. Und vor allem darüber zu sprechen, wie wir Systeme so verändern, dass es weniger Übergriffe gibt.
Und damit kommen wir zu dem Elefanten im #MeToo-Raum. Was ist mit den Selbstmorden? Sind die drei Frauen, die den walisische Politiker Carl Sargeant der Belästigung bezichtigten, schuld daran, dass er sich daraufhin das Leben nahm? Oder ist es die Schuld des walisischen First Ministers Carwyn Jones, an den sie sich gewandt hatten und der nicht die Polizei einschaltete, sondern stattdessen Sargeant entließ? Oder ist es direkt die gesamte #MeToo Debatte, durch die das walisische Parlament unter Druck war, möglichst schnell zu handeln?
Das Arbeitsklima entscheidet
Diese Fragen sind falsch und schrecklich. Aber sie zeigen, dass wir darüber reden müssen. Ebenso wie über den Fall des ehemaligen Chefs des Stockholmer Stadttheaters und Ehemanns der Sopranistin Ann Sofie von Otter, Benny Fredriksson. Nachdem die Tageszeitung Aftonbladet #MeToo-Vorwürfe von 40 Frauen druckte, hauptsächlich bezüglich seines „diktatorischen Führungsstils“, trat er von seinem Posten zurück und nahm sich in der Folge das Leben. Sargeant und Fredriksson beteuerten beide bis zum Ende ihre Unschuld.
Auch hier kann die Wahl nicht eine zwischen Verschweigen oder Ausgrenzen sein, sondern zwischen verantwortlichem und angemessenem Handeln versus Sündenböcke suchen. Angesichts der Vorwürfe gegen Sargeant gab es Klagen über das grundsätzliche Klima im walisischen Parlament. Wir wissen, dass Systeme einen massiven Einfluss darauf haben, ob es zu Übergriffen kommt oder nicht.
Die Debatte
Ausgelöst von den veröffentlichten Anschuldigungen gegen den US-Produzenten Harvey Weinstein entstand eine internationale Debatte über sexualisierte Gewalt. Während einige sie als feministische Revolution feiern, kritisieren andere den generellen Umgang mit dem Thema. Doch was ist seit dem 5. Oktober 2017 passiert? Hat sich unsere Gesellschaft in diesem Jahr verändert oder ist alles beim Alten geblieben?
Die Serie
Den Oktober über werden auf dieser Seite und auf taz.de verschiedene Aspekte der Debatte betrachtet.
Je mehr ein Arbeitsklima von Angst und Mobbing geprägt ist, desto mehr Grenzüberschreitungen und natürlich auch sexualisierte Grenzüberschreitungen wird es darin geben. Je menschenfreundlicher und kooperativer ein System ist, desto besser ist es auch dafür ausgerüstet, konstruktive Lösungen für Probleme zu finden. Vielleicht auch für Sargeant und seine Anklägerinnen?
Wenn wir etwas aus #MeToo lernen können, dann dass wir Menschen mit mehr Empathie behandeln sollten. Grundsätzlich!
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