Debatte um sexualisierte Gewalt: Mitgefühl ist nicht begrenzt

Weinstein, #MeToo: Berichte von Frauen, die vergewaltigt oder belästigt wurden, auf allen Kanälen. Aber was ist mit Erfahrungen von Männern?

Schatten von zwei Menschen auf dem Straßenpflaster

Lasst uns reden Foto: dpa

Dies ist eine These, es ist keine endgültige Analyse. Es ist der Versuch, öffentlich zu denken. Also bitte, schickt mir keine Hassbriefe oder Vergewaltigungsdrohungen, sondern solidarische Post und erzählt mir von euren Vergewaltigungserfahrungen.

Denn so wichtig ich #MeToo auch finde – und ich finde den Hashtag, unter dem die Schauspielerin Alyssa Milano aufrief: „Wenn ihr sexuell belästigt oder vergewaltigt worden seid, schreibt ‚me too‘ als Antwort auf diesen Tweet“ und der daraufhin viral ging, wirklich essentiell – fehlen mir dabei doch ganz viele Stimmen. Nämlich die der Männer.

Natürlich gibt es auch Männer, wie Schauspieler Jensen Ackles, der „für meine Frau, für meine Töchter, für alle Frauen … Ich bin an eurer Seite“ tweetete. Das ist reizend, doch das meine ich nicht. Was ist mit den Männern, die genauso Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben? Warum schreiben nur ganz, ganz wenige von ihnen hier? Weil #MeToo eindeutig an Frauen gerichtet ist. Wenn Männer aufgefordert werden, sich zu beteiligen, dann, indem sie darüber nachdenken sollen, warum sie „so etwas“ machen.

Das ist verständlich, schließlich ist das, wie wir in der Regel über sexualisierte Gewalt sprechen. Aber #MeToo tritt mit der Verheißung an, etwas zu ändern und das Schweigen zu durchbrechen. Aber dann lasst uns das doch für alle machen. Denn Reden kann so viel bewegen, wie ich gemerkt habe, seit meine Kulturgeschichte der Vergewaltigung herausgekommen ist.

Nach nahezu jeder Lesung kommen Menschen und erzählen mir ihre Geschichten oder schreiben sie mir. Und überraschend viele dieser Mails kommen nicht von Frauen. Ein Leser mailte, dass er Opfer von sexualisierter Gewalt ist und eine der Sachen, die für ihn Heilung besonders schwer machen, ist, dass er in allen Texten und kulturellen Botschaften über Vergewaltigung immer als (potenzieller) Täter angesprochen wird, weil er ja ein Mann ist.

Reden verändert die Welt

Bei einer Lesung in Berlin meldete sich jemand und sagte: „Und was ist mit den Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die bis vor nicht allzu Langem völlig legal hier um die Ecke verübt wurden?“ Damit meinte er die euphemistisch als „geschlechtsangleichend“ bezeichneten Operationen an Neugeborenen, deren Genitalien nicht „eindeutig genug“ waren, in der Berliner Charité. Richtig, was ist damit? Warum reden wir nicht auch davon, wenn wir über sexualisierte Gewalt sprechen? Schließlich gehört das zusammen.

Noch einmal: Reden kann die Welt verändern. Vor einer Weile saß ich im Zug nach Hause und die beiden angeschickerten jungen Männer mir gegenüber hatten ein dringendes Gesprächsbedürfnis: „Was hast du hier in Frankfurt gemacht?“ Eine Lesung. „Eine Lesung?“ Ja, eine Lesung. Bis ich ihnen schließlich den Titel meines Buchs verriet und der Angetrunkenere der beiden rief: „Du denkst bestimmt, dass nur Frauen vergewaltigt werden können! Aber ich bin ein halbes Jahr lang regelmäßig von meiner Exfreundin vergewaltigt worden.“ Worauf der andere kommentierte: „Na, wenn du das nicht gewollt hättest, hättest du sie ja verlassen können.“

Es war eine Sternstunde, den beiden sagen zu können, dass natürlich auch Männer vergewaltigt werden und wir inzwischen wissen, wie schwierig es ist, sich aus Missbrauchsbeziehungen zu lösen. Denn der zweite fragte den ersten danach bierernst: „Meinst du, ich bin nicht gut mit dir umgegangen?“

Wenn ich darauf hinweise, wird mir oft gesagt: Das sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Besser bekannt als die 90/10-Regel, die besagt, dass der größte Teil der Opfer Frauen sind und der größte Teil der Täter Männer. Es sei dahingestellt, ob das ein gutes Argument ist, schließlich leidet man als Ausnahme nicht weniger. Doch neuere Forschungsergebnisse rütteln auch an dieser Bastion der Gewissheit.

38 Prozent der Opfer waren männlich

Das amerikanische Justizministerium befragt jedes Jahr rund 90.000 Haushalte für die National Crime Victimization Survey. 2012 kamen sie zu dem überraschenden Ergebnis, dass 38 Prozent der Opfer von sexualisierter Gewalt männlich waren, während die Zahlen für Männer sich bis dahin in der 10-Prozent-Zone bewegt hatten (genauer zwischen 5 Prozent und 14 Prozent).

Noch verblüffender waren die Ergebnisse der National Intimate Partner and Sexual Violence Survey von 2010, für die die amerikanischen Centers for Disease Control neben „gegen den eigenen Willen penetriert werden“ eine weitere Definition für Vergewaltigung zuließen, nämlich „gezwungen zu werden, eine andere Person zu penetrieren“.

Plötzlich schrumpfte der Unterschied zwischen Männern und Frauen – andere Geschlechter kannte die Umfrage nicht – auf unter ein Prozent: 1.270 Million Frauen und 1.267 Million Männer gaben an, in ihrem Leben Opfer von sexualisierter Gewalt geworden zu sein.

Mithu Sanyal: „Vergewaltigung, Edition Nautilus, 2016

Wie kann das gehen? Wie kann man einen Mann dazu bringen, jemanden gegen seinen Willen zu penetrieren? Schließlich braucht er dazu eine Erektion, und eine Erektion ist per Definition der Beweis dafür, dass er erregt ist. Nicht wahr?

Nicht wahr. Wir wissen inzwischen, dass physische Erregung nicht mit psychischer Erregung korrespondieren muss. Wir wissen auch, dass Orgasmen eine Möglichkeit für des Nervensystem sind, unerträgliche Anspannung abzubauen – so unerträglich wie zum Beispiel die Anspannung, vergewaltigt zu werden. Für Menschen – jeglichen Geschlechts – ist es besonders belastend, bei einer Vergewaltigung einen Orgasmus zu erleben. Als würde der eigene Körper einen betrügen, oder – noch schlimmer? – als wolle man es in Wirklichkeit doch. Victim blaming eigenhändig.

Frauen als Täterinnen

Nun muss man Statistiken immer mit einer Prise Salz betrachten. Genau das tat Lara Stemple, Leiterin des Health and Human Rights Law Project der University of California, und erstellte 2014 zusammen mit Ilan H. Meyer eine Metastudie der verfügbaren Daten zu Männern als Opfern und 2016 eine zu Frauen als Täterinnen von sexualisierter Gewalt. Lara Stemple ist eine bekannte Feministin. Das ist wichtig vor den Ergebnissen zu erwähnen. Sexuelle Gewalt gegen Männer (nach der FBI Definition) wurde in 68,6 Prozent der Fälle von Frauen verübt und bei „gezwungen werden, eine andere Person zu penetrieren“ in 79,2 Prozent der Fälle.

Ich weiß nicht, in wie weit diese Zahlen auf Deutschland übertragen werden können. Oder wie hoch der Informationsgehalt von Zahlen überhaupt ist. Schließlich steckt hinter jeder dieser Zahlen eine eigene Geschichte. Aber ich war beeindruckt von Lara Stemple Aussage, dass der Feminismus so lange und so hart gegen Vergewaltigungsmythen gekämpft hat – wie die, dass eine Frau, die vergewaltigt wurde, irgendwie selbst schuld sei, weil sie einen zu kurzen Rock getragen hat etc. – doch dass ein vergleichbarer Kampf gegen Vergewaltigungsmythen in Bezug auf Männer noch aussteht. Sie betont, dass Männer damit nicht die eigentlichen Opfer sind oder die wichtigeren Opfer. Die Anerkennung von männlichen Opfern verringert in keiner Form die Anerkennung von weiblichen Opfern, denn „Mitgefühl, ist keine begrenzte Ressource.“

Geld natürlich schon. Und ich sehe jetzt schon dreimalschlaue AfDler, die Frauenberatungsstellen in Männerberatungsstellen umwandeln wollen. Das darf natürlich um keinen Preis geschehen! Aber wäre es nicht an der Zeit aufzuhören über Vergewaltigung als ein Verbrechen zu sprechen, das Männer Frauen antun, und statt dessen miteinander zu sprechen? Das ist keine Forderung, sondern eine offene Frage. Lasst uns reden.

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