Ehepaar Klarsfeld über Frankreich: „Ich kann nicht für die anderen kämpfen“
Das „Nazi-Jäger“-Ehepaar Klarsfeld stellt sich im französischen Wahlkampf hinter Marine Le Pen. Die linken Kräfte halten sie für antisemitisch.
taz: Beate und Serge Klarsfeld, Sie haben Ihr Leben lang Nazis verfolgt und vor Gericht gebracht. Seit einigen Monaten sprechen Sie sich, Herr Klarsfeld, öffentlich für Marine Le Pen und ihre rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) aus. Warum?
Serge Klarsfeld (SK): Präsident Macron hat die Franzosen in eine schwierige Situation gebracht. Im zweiten Wahlgang wird es nur noch zwei Blöcke geben. Eine Linke, die anti-israelisch eingestellt ist, mit antisemitischem Beigeschmack. Und auf der anderen Seite eine Partei, die früher antisemitisch war und es jetzt nicht mehr ist. Manche bezweifeln, dass der Wandel ehrlich ist – ich nicht.
Serge Klarsfeld ist Rechtsanwalt und Historiker und hat als Jude den Holocaust überlebt.
Beate Klarsfeld ist deutsch-französische Journalistin, die 1968 den damaligen Bundeskanzler Georg Kiesinger wegen seiner NS-Vergangenheit öffentlich ohrfeigte. Gemeinsam spürte das Paar nationalsozialistische Verbrecher auf, etwa den berüchtigten Klaus Barbie, der nach Südamerika geflüchtet war. Viele kamen durch ihre Arbeit vor Gericht und hinter Gitter.
Zuletzt erregte Serge Klarsfeld Aufsehen in Frankreich und löste ein Debatte aus, weil er Marine Le Pen für wählbar erklärte. Stimmen jüdischer Intellektueller verurteilten den Vorstoß. Es sei ein Verrat an den Frauen, Kindern und Männern, die seinetwegen heute noch in Erinnerung seien, schrieben Philosophie-Dozentin Michèle Cohen-Halimi und Schriftsteller Francis Cohen in der Tageszeitung Le Monde.
„Wenn selbst Juden sich auf die Seite der Rechtsextremen stellen, sind wir verloren“, sagte die 99-jährige Holocaust-Überlebende Ginette Kolinka gegenüber FranceInfo und warnte, dass der RN nur auf Stimmenfang aus sei.
Der RN-Vorsitzende Jordan Bardella hat 2023 gesagt, dass Parteigründer Jean-Marie Le Pen, der die NS-Gaskammern als „Detail der Geschichte“ bezeichnete, kein Antisemit sei.
SK: Naja, Bardella ist 28 Jahre alt. Seine Aussage war eine unüberlegte Reaktion, würde ich sagen. Chef der Partei ist immer noch Marine Le Pen, nicht Bardella.
Bardella könnte in Kürze französischer Premierminister werden.
Beate Klarsfeld (BK): Das war eine Dummheit. Marine Le Pen hätte ihn dafür verurteilen sollen. Ich weiß es nicht. Fragen Sie Marine Le Pen, warum sie ihn nicht verurteilt hat.
Ich frage aber Sie, weil Ihr ganzes Lebenswerk daraus besteht, Nazis und Antisemiten zu verfolgen.
BK: Wir hoffen natürlich, dass der RN keine Mehrheit im Parlament bekommt, sondern Macron.
SK: Bardella ist nach dieser Aussage zurückgerudert. Das sind keine Worte, die sein wahrhaftiges Denken widerspiegeln. Außerdem ist Bardella nicht derjenige, der diese Partei in den Wandel geführt hat.
Reden wir also über Marine Le Pen. Sie stand etlichen Rechtsextremen lange sehr nahe und war mit dem verurteilten Holocaustleugner Alain Soral befreundet.
BK: Sie selbst hat sich von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen distanziert. Und von vielen anderen Dingen auch. Sie hat die Vel d’Hiv [die Massenverhaftung und Deportation Tausender Juden 1942 durch die Nazis und französische Kollaborateure, Anm. d. Red.] anerkannt und die Gayssot-Gesetze akzeptiert [Antidiskriminierungsgesetze von 1990, Anm. d. Red.].
1972 wurde die rechtsextreme Partei „Front National“ von Jean-Marie Le Pen und unter anderem dem früheren Waffen-SS-Mitglied Pierre Bousquet gegründet. Jean-Marie Le Pen wurde wegen holocaustverharmlosender, rassistischer, homophober und NS-verherrlichender Aussagen mehrfach verurteilt. Auch Serge und Beate Klarsfeld gingen juristisch gegen ihn vor.
2011 übernahm seine Tochter Marine Le Pen den Parteivorsitz, 2015 wurde Jean-Marie auf ihre Initiative aus der Partei ausgeschlossen. Bis 2018 blieb Le Pen allerdings Ehrenpräsident der Partei.
2011 gründet er die Kleinpartei „Comités Jeanne“, mit der er den Front National und seine Tochter bis heute weiterhin unterstützt – etwa durch einen Kredit von 6 Millionen Euro für ihren Wahlkampf 2017.
2018 nannte sich die Partei um in „Rassemblement National“. Marine Le Pen hat maßgeblich die Strategie der „Entdämonisierung“ vorangetrieben, bei dem rechtsradikale Ideen durch verbal gemäßigtes Auftreten auch in bürgerlichen Milieus salonfähig wurden. In den letzten Jahren hat man sie nicht mehr öffentlich an der Seite notorischer Holocaustleugner oder Antisemiten etwa aus der neonazistischen und gewalttätigen Gruppe GUD („Gruppe Verteidigungsunion“) gesehen, die vorher zu ihrem Umfeld gehörten.
Im aktuellen Programm des Rassemblement National ist eine Verfassungsänderung geplant, die eine „nationale Priorität“ festschreibt. Menschen mit französischem Pass sollen auf dieser Grundlage bevorzugt werden, etwa bei Einstellung im öffentlichen Dienst, Erhalt von Sozialhilfen und Sozialwohnungen, sowie bei der Behandlung im Krankenhaus.
Jordan Bardella, seit 2022 Parteivorsitzender des RN, ist Anhänger der rechtsextremen Theorie des „Großen Austausch“, positioniert sich gegen die Ehe für alle und vertritt ein neoliberales Wirtschaftsprogramm. Er unterstützte die Gruppe der „Identitären“ als diese 2021 von der Regierung verboten wurde.
2017 sagte Le Pen, Frankreich sei für die Vel d’hiv nicht verantwortlich und leugnete somit die französische Kollaboration. 2022 sagte sie, dass ihre Partei seit der Gründung 1972 „die Flamme der Nation am Brennen gehalten hat“. Das klingt nicht so, als hätte sie mit der Vergangenheit ihrer von ehemaligen Waffen-SS-Männern gegründeten Partei gebrochen.
SK: Ich zweifle nicht an der Ehrlichkeit von Marine Le Pen. Mir ist nur bekannt, dass sie die Vel d’Hiv scharf verurteilt hat. Sie hat die Ansagen gemacht, die es brauchte. Ich habe kein Problem mehr mit ihr. Sie unterstützt Israel und den Kampf gegen Antisemitismus. Es gab kein einziges rechtsextremes Attentat gegen Juden, aber aus der radikal islamistischen Ecke gab es das sehr wohl. Die radikale Linke ist anti-israelisch geworden und in Teilen antisemitisch. Wenn sich die zwei Parteien gegenüber stehen, werde ich nicht zögern.
Moment: 2023 wurden in Frankreich in mehreren Fällen Rechtsextreme für geplante Anschläge gegen Juden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Zudem muss sich doch aus der Zurückweisung der radikalen Linken keine Unterstützung der Rechtsextremen ergeben.
SK: Unser Sohn Arno hat ein paar Zehntel von seinem Auge verloren, als er mit 35 Jahren auf das Podium von Jean-Marie Le Pen sprang. Wenn wir das jetzt so machen, dann eben nur, weil wir wirklich an positive Änderungen glauben. Die positive Änderung im Kampf gegen Antisemitismus besteht darin, dass die rechtsextremen Parteien philosemitisch geworden sind. Das ist eine große Errungenschaft, die einzige.
Es ist schwer fassbar, das von Ihnen zu hören. Hinter Ihnen, Frau Klarsfeld, hängt eingerahmt der Zeitungsartikel, in dem von Ihrer Ohrfeige 1968 gegen den deutschen Bundeskanzler Georg Kiesinger für seine NSDAP-Vergangenheit berichtet wird. Auch der hat nach außenhin ein rechtschaffenes Bild abgegeben. Solche Leute haben Sie entlarvt.
SK: Wir sind keine Politiker oder Politikerinnen, wir waren noch nie in einer Partei. Unsere Priorität ist das Schicksal der Juden, mehr nicht.
BK: Viele Jahre lang haben wir Anzeigen in den Zeitungen geschaltet: Figaro, Libération – gegen den RN, für Macron. Wir haben Macron von Anfang an unterstützt. Und wir werden ihn wieder wählen. Aber es ist doch gut, wenn eine Partei sich ändert.
Die AfD ist zum Beispiel nicht bereit dazu. Alexander Gauland [Ex-AfD-Fraktionschef, Anm. d. Red.] und Björn Höcke [rechtsextremer Chef der Thüringer AfD-Fraktion, Anm. d. Red.] sind maximal antisemitisch. Sie haben gesagt, das Holocaust-Mahnmal sei eine Schande. Und sie hassen Israel.
Reicht es denn, dass eine Partei „philosemitisch“ ist, wie Sie sagen, wenn sie gleichzeitig den Hass auf andere Minderheiten schürt und verbreitet?
Beate Klarsfeld
BK: Der RN bekämpft den Islamismus, und das ist für Juden wichtig.
Was der RN bekämpft, ist die Gesamtheit aller Einwanderer.
SK: Die Muslime haben keine Partei ergriffen. Wir haben sie nicht auf der Straße gesehen, wir haben sie in Paris nicht gegen die Hamas demonstrieren sehen.
Ob Muslime unter den 100.000 Demonstrierenden waren, können Sie doch gar nicht so genau wissen. Selbst wenn nicht: Lässt sich damit eine Diskriminierung sämtlicher Einwanderer rechtfertigen?
SK: Bestimmt ist ein Großteil der muslimischen Bevölkerung sehr glücklich, in Frankreich zu sein, und teilt wahrscheinlich nicht die Perspektive der Hamas. Bestimmt. Sie haben einfach eine allgemeine Sympathie für das Leiden der Palästinenser. Aber sie haben Angst und warten ab. Und es gibt eine große islamistische Eroberungsbewegung, für die sich manche begeistern.
Ich kann jedenfalls nicht für die anderen kämpfen. Ich kämpfe für meine eigene Seite. Dafür haben wir unser Leben und unsere Freiheit riskiert, und übrigens auch die unserer Kinder.
Der Theologe Martin Niemöller hat einmal gesagt: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, denn ich war kein Kommunist …“
SK: Ja, ja, das kennen wir.
Und am Ende war also niemand mehr da, weil jeder nur an seine Seite dachte.
Serge Klarsfeld
SK: Aber die Ideologie des RN ist nicht faschistisch! Es ist keine faschistische Partei, sondern eine populistische.
Es ist eine Partei, die Teile der Bevölkerung diskriminiert und aus dem Land heraushaben will.
SK: In ganz West- und Zentraleuropa gibt es populistische Parteien, die pro-jüdisch und pro-israelisch sind. Außer die AfD, das bleibt eine deutsche Partei mit Nazi-Ideen. Aber die anderen haben sich davon frei gemacht, es sind keine faschistischen Parteien.
Auf EU-Ebene kooperieren diese Parteien – auch der RN – als Fraktion „Identität und Demokratie“ mit der AfD.
SK: Marine Le Pen hat mit der AfD gebrochen. Wir werden sehen, wie sich die Gruppierungen im EU-Parlament aufstellen. Die extreme Linke und der Pöbel werden sagen: „Faschisten, Faschisten.“ Man darf nicht übertreiben, das sind keine Faschisten, sondern Populisten. Sobald eine Partei nicht mehr antisemitisch ist, ist sie für mich auch nicht mehr rechtsextrem. Das ist alles. Ja, vielleicht ist das ein Blick mit Scheuklappen.
Ja, schon. Wenn andere Minderheiten diskriminiert oder entrechtet werden, ist das doch nicht vertretbar?
SK: Es kann vertretbar sein, wenn es gegen Elemente geht, die die französischen Gesetze nicht akzeptieren und eigene Gesetze umsetzen wollen, etwa die Scharia.
In einem Interview vor zwei Jahren haben Sie noch gesagt, Herr Klarsfeld: Der Rechtsextreme Eric Zemmour spreche über Muslime so, wie man früher über Juden sprach. Was ist passiert?
SK: Marine Le Pen ist nicht Zemmour und es ist offensichtlich, dass ein laizistisches Frankreich nicht akzeptieren kann, dass Muslime die Scharia durchsetzen wollen. Aber, um das klarzustellen: Wenn es ungerechte Gesetze gibt, die gegen die Menschenrechte stehen, dann werden wir dagegen protestieren.
Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire hat sich klar gegen Antisemitismus positioniert und die Anschläge der Hamas als terroristisch verurteilt. Der jüdische Sozialist Raphaël Glucksmann hat sich gegen den Parteichef der linken La France Insoumise, Jean-Luc Mélenchon, durchgesetzt.
SK: Das ist eine wahltaktische Einigung. Unvereinbare linke Parteien haben plötzlich, in 24 Stunden, eine Einigung gefunden.
Wäre es nicht denkbar, Antisemitismus und Rassismus durch Bildung abzubauen, statt mit noch mehr Diskriminierung darauf zu antworten?
SK: Das braucht Generationen. Kinder haben Eltern. Wenn Eltern antisemitisch oder antijüdisch sind, wie soll ein Kind da anders werden?
Können Sie sich jetzt wirklich nicht dazu durchringen, zu sagen, dass Bildung gegen Antisemitismus besser hilft, als beispielsweise Abschiebung?
BK: Doch, natürlich.
SK: Wir haben Scheuklappen auf und wir können nicht alle unsere Widersprüche regeln.
Es ist ja mehr als ein innerer Widerspruch, wenn Sie sich dazu so öffentlich äußern.
SK: Wir haben uns nicht verändert, es ist ja der Rassemblement National, der sich geändert hat. Er hat Millionen Wähler gewonnen, die überhaupt nicht antisemitisch sind.
Gruppen von vermummten Rechtsextremen, die von dem RN-Erfolg bei den EU-Wahlen berauscht waren, haben in Paris, Nancy und anderen Städten Gewalttaten verübt.
SK: Millionen Franzosen sind wählen gegangen. Ganz generell sind die Franzosen nicht antisemitisch. Sie sind da offenbar pessimistischer als ich.
Ja. Auch Frankreich hat eine Nazi- beziehungsweise Kollaborationsvergangenheit, die nicht umfassend aufgearbeitet wurde. Bis heute gibt es weit verbreitete antisemitische Denkmuster.
SK: Die französische Bevölkerung hat im Zweiten Weltkrieg drei Viertel aller Juden gerettet. Man muss optimistisch sein. Mir jedenfalls ist es lieber, dass die Franzosen eine Partei wählen, die nicht antisemitisch ist und die Juden unterstützt. Ob diese Partei das ernst meint? Wir werden sehen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch