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Ehemaliges SektenmitgliedAusstieg aus der Angst

Fast zwanzig Jahre braucht Francis Tobias Luce, um sich von den Zeugen Jehovas zu lösen. Emotional muss er sich danach komplett neu zusammensetzen.

Heute lebt Luce in Bremen und hat eine Selbsthilfe­gruppe für Sektenaus­steiger*innen gegründet Foto: Tristan Vankann

Wann immer ein Gewitter aufzog, dachte Francis Tobias Luce, dass der Tag seiner Bestrafung gekommen sei. Noch Monate nach seinem Ausstieg bei den Zeugen Jehovas ging ihm das so.

Als „Harmagedon“ bezeichnet die Glaubensgemeinschaft eine Art endzeitliche Schlacht, nach der sich entscheidet, wer ins Paradies kommt und wer nicht. Aus­stei­ge­r*in­nen stehen auf der falschen Seite, wenn der Tag Gottes anbricht und die Welt vom bösen Übel befreit wird.

Im Offenbarungsbuch wird das eindrücklich visualisiert: Auf bunten Zeichnungen fallen mehrköpfige Raubkatzen über eine schlafende junge Frau her, Aasgeier picken herumliegenden Leichen die Augen aus. Eine andere beliebte Erzählung ist der Blitzschlag, der die „Abtrünnigen“ aus dem Nichts trifft. „Dieses Unwohlsein beim ersten Donnergrollen bin ich lange nicht losgeworden“, sagt Francis Tobias Luce.

Dabei ist er mit diesen bunten Bildern gar nicht aufgewachsen, sondern trat erst als 19-Jähriger bei den Zeugen Jehovas ein. Ende der achtziger Jahre war das, damals trug der trans Mann Luce noch seinen weiblichen Geburtsnamen. Luce, der seine Kindheit in einem Heim und bei einer Pflegefamilie verbracht hatte, war gerade für eine Hauswirtschaftslehre nach Wilhelmshaven gezogen.

„Ich wurde mit Liebe überschüttet“

In der neuen Umgebung fühlt er sich nicht wohl, kennt kaum jemanden und ist unglücklich mit seiner Ausbildung. Die Zeugen klingeln an einem Vormittag, Luce vertröstet sie erst und lässt sie an einem anderen Tag doch in die Wohnung. „Sie waren so freundlich und höflich, dass ich dachte: Hörst du ihnen erst mal zu.“

Was Francis Tobias Luce in seinen ersten Monaten in der Gemeinschaft erfährt, beschreibt er als „Love Bombing“. Fast jeden Tag in der Woche Einladungen zum Kaffeetrinken oder Abendessen, „ich wurde mit Liebe überschüttet“.

Luce sitzt in Kapuzenpulli auf einem Sessel in seinem Wohnzimmer, das Gespräch findet über Zoom statt. Er lacht viel beim Erzählen. Die erste Zeit bei den Zeugen Jehovas sei schön gewesen. Zweifel an dem, was dort gepredigt wurde, habe er anfangs gar nicht gehabt. „Zu Beginn geht es viel ums Paradies, um die Schönheit, die uns erwartet, wenn wir Gottes Gesetze befolgen.“

90 Stunden Pionierdienst im Monat

Von Angst, Schrecken und „Harmagedon“ erfährt er erst, als er in der Glaubensgemeinschaft sozial verankert ist. Seinen Alltag bestimmen nun die Verpflichtungen: 90 Stunden im Monat hat er Pionierdienst, klingelt an Türen oder steht am Bahnhof, um „über Gott zu sprechen“. Die restliche Zeit arbeitet er als Reinigungskraft, um seine ehrenamtliche Arbeit für die Zeugen Jehovas irgendwie zu finanzieren.

Abends geht es im Königreichssaal – so nennt die Gemeinschaft ihr Gotteshaus – darum, die Bibel zu verstehen und all die Menschen, zu denen sie nicht durchdringen, die sie wieder und wieder schroff abweisen. „Diese Frage, wie das sein kann, dass die Menschen nicht mehr zuhören, beschäftigt jedes Mitglied“, sagt Luce.

Laut eigenen Angaben haben die Zeugen Jehovas etwa 160.000 Mitglieder in Deutschland. Seit 2017 gelten sie offiziell als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ihre Existenz ist zwar durch das Grundgesetz geschützt, ihnen wird jedoch regelmäßig vorgeworfen, gegen ebenjenes zu verstoßen.

Das Kultusministerium in Baden-Württemberg, das sich lange geweigert hatte, dem Körperschaftsstatus für die Zeugen Jehovas zuzustimmen, ist beispielsweise der Ansicht, die Gemeinschaft gefährde mit ihrem Verbot von Bluttransfusionen „Leib und Leben“ von Kindern. Außerdem widerspreche die soziale Ächtung von Menschen, die aussteigen wollen, der Religionsfreiheit. Auch die Zweizeugenregel steht immer wieder im Zentrum der Kritik. Für Francis Tobias Luce war sie der Grund, dass er sich fünf Jahre nach dem Eintritt erstmals seiner Mündigkeit beraubt fühlte.

Gewalt in der Ehe, erst verbal, dann körperlich

1991 heiratet Luce, selbstverständlich, einen Mann aus der Gemeinde. Er merkt, dass er sich auf diese Verbindung nicht einlassen kann, und vermutet, trans zu sein. Irgendwann nimmt er seinen Mut zusammen und vertraut sich dem Partner an. Der reagiert erst mit verbaler, später mit körperlicher Gewalt. Luce wird depressiv, denkt immer häufiger daran, sich das Leben zu nehmen. Er möchte die Partnerschaft auflösen und den gewalttätigen Mann anzeigen.

Für diese Fälle gibt es bei den Zeugen Jehovas die Zweizeugenregel. Sie ist ein internes „Rechtsprozedere“, bei dem zwei Älteste aus der Gemeinschaft bestätigen müssen, dass ein Gemeindemitglied Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Erst dann darf die Person eine neue Beziehung eingehen. Die Regel gilt auch bei Gewalt gegen Kinder. Lässt sich die Tat nicht nachweisen, hat das Opfer zu schweigen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

„Ich habe in meinen über 25 Jahren bei den Zeugen Jehovas nicht ein einziges Mal mitbekommen, dass diese Regel zum Erfolg geführt hätte.“ Luce erlebt kräftezehrende Monate, in denen er versucht, seine Situation vor den „Ältesten“ zu beweisen. 1998 lässt er sich zwar offiziell scheiden, eine Rehabilitation in der Gemeinde erfährt er nicht.

Trotzdem vergehen noch 17 Jahre, bis er die Zeugen Jehovas verlässt. Aus Naivität und aus Angst, wie er sagt.

Naivität, weil er glaubte, gegen die Zweizeugenregel vorgehen zu können. Für Luce ist schon damals unbegreiflich, dass die Beweislast beim Opfer und nicht beim Täter liegen soll. Er versucht, Gemeindemitglieder auf seine Ohnmacht aufmerksam zu machen, und wirbt für Reformen. Statt auf Zustimmung stößt Luce auf Anfeindung. Langjährige Freundinnen werfen ihm mangelndes Vertrauen in den Schöpfer vor.

Die irrationale Angst vor Gottes Rache

Und Angst, „weil ich wusste, dieser Schöpfer kann jeden Tag eingreifen und dafür sorgen, dass mich der Schlag trifft“, sagt Luce. Er weiß, dass das paradox klingt: ein Mensch zu sein, dessen Verstand und Gerechtigkeitssinn ausgeprägt genug sind, um die Regeln innerhalb einer Gemeinschaft abzulehnen, dessen Handeln aber maßgeblich beeinflusst wird von der Furcht vor einer Endzeiterzählung.

In den Jahren nach der Trennung von seinem Mann wird Francis Tobias Luce in der Gemeinde mehr und mehr ausgegrenzt. Er kommt seinen religiösen Verpflichtungen noch nach, alles andere Gemeinschaftliche meidet er.

2014 zieht Luce nach Oldenburg und traut sich aus der Distanz, seinen Ex-Mann anzuzeigen. Den Ausschlag gibt ein Gedankenspiel, in dem er sich ausmalt, dass sein gewalttätiger ehemaliger Partner den Tag des Harmagedon überlebt. Denn nach den Regeln der Zeugen Jehovas würde der Mann verschont bleiben. Seine Taten konnten ihm nicht nachgewiesen werden, er galt als vorbildlich fromm. Wenn sein Ex-Mann sich keine Sorgen vor dem Weltuntergang machen muss, denkt Luce sich, dann muss er das erst recht nicht.

Mit dem Ausstieg verschwinden das gesamte soziale Umfeld und der strukturierte Alltag

Die Anzeige führt ins Leere, die Taten sind verjährt. Ein weiteres Mal kommt es für Luce bei den Zeugen Jehovas zu einer Art Tribunal, vor dem er sich dafür rechtfertigen muss, mit seinen Privatangelegenheiten nicht an die Zeugen selbst herangetreten zu sein.

„Dieses Gespräch hat mich so traumatisiert, dass ich psychisch krank davon geworden bin“, sagt er. Luce schafft es gerade noch, eine sogenannte Ausstiegskarte auszustellen, und macht seinen Austritt damit offiziell. Formell ist der Weg aus der Glaubensgemeinschaft nichts weiter als ein Dreizeiler. Emotional musste sich Luce danach komplett neu zusammensetzen.

Ein Leben im Nichts

Wer nach Jahrzehnten aus einer Sekte aussteigt, beginnt ein Leben im Nichts. Das gesamte soziale Umfeld und der durch religiöse Verpflichtungen strukturierte Alltag verschwinden. Aus­stei­ge­r*in­nen sind „Abtrünnige“, sie sind in den Augen ihrer langjährigen Vertrauten – selbst ihrer noch in der Sekte aktiven Familienmitglieder – gestorben. Mütter reden nicht mehr mit ihren Töchtern, der beste Freund, mit dem man zusammen aufwuchs, wechselt bei einer Begegnung die Straßenseite.

Hinzu kommt, dass sich Aus­stei­ge­r*in­nen oftmals ein komplett neues System aus Werten und Überzeugungen aufbauen müssen. Ehemalige Zeugen Jehovas, die in die Gemeinschaft hineingeboren wurden, erzählen, dass sie lernen mussten, wie man Freundschaften schließt, wie man streitet, wie man eine eigene Haltung entwickelt.

Auch für Francis Tobias Luce fühlten sich die Monate nach dem Ausstieg so an, als hätte er „keine Identität mehr“. Fast alles, was ihn bisher definierte, war plötzlich nicht mehr da. Dazu kam die Frage nach seiner geschlechtlichen Identität. „Das war eigentlich mein größtes Problem.“ Zwar hatte er früh in seiner Ehe gemerkt, dass etwas nicht richtig ist. Aber in seiner Zeit bei den Zeugen Jehovas war er überhaupt nicht mit sich selbst „in Berührung gekommen“.

Homosexualität oder Transidentität gelten bei den Zeugen Jehovas als krankhaft. Es gibt Zeichentrickvideos, die Kindern vermitteln, dass Schwule und Lesben nicht ins Paradies kommen. Luce kam es nicht in den Sinn, sich jemandem dort anzuvertrauen. Spätestens nachdem der Ehemann versucht hatte, seine Transidentität aus ihm rauszuprügeln, begrub er das Thema. Nach dem Ausstieg sucht sich Luce eine Psychologin, die ihm eine Namensänderung vorschlägt. Seinen Geburtsnamen abzulegen, hilft ihm, sich selbst neu zusammenzusetzen.

Kontakt zu anderen Au­s­tei­ge­r*in­nen

Weil es in Oldenburg keine Selbsthilfegruppe für Sek­ten­aus­stei­ge­r*in­nen gibt, nimmt er Kontakt zu bekannten Ex-Zeugen auf. Rainer Ref, Walter Schöning, Margit Ricarda Rolf – sie alle haben Bücher geschrieben oder erzählen auf ihren Youtube-Kanälen, wie sie es nach ihrer Zeit bei den Zeugen Jehovas geschafft haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie melden sich bei Luce zurück, mit manchen steht er heute noch in Kontakt.

Francis Tobias Luce lernt, dass er sich ein soziales Umfeld aufbauen muss und dass psychologische Betreuung ganz essentiell für ihn ist. Er gründet auf Facebook eine Selbsthilfegruppe, in der er sich mit Menschen, die Ähnliches erfahren haben, austauscht.

Vor ein paar Monaten ist er nach Bremen gezogen, um dort eine Ausbildung als Genesungsbegleiter anzufangen. Er hilft Menschen durch persönliche Krisen und unterstützt sie dabei, sich wieder einen Alltag aufzubauen. Ende Oktober hat er eine Selbsthilfegruppe gegründet. Sechs Sek­ten­aus­stei­ge­r*in­nen kamen zur ersten Sitzung.

Eines Sommers nach seinem Ausstieg ist es draußen schwül und drückend. „Es hat sich nach Gewitter angefühlt und da bin ich einfach rausgegangen.“ Luce läuft weiter, als der erste Donner über ihn hinwegzieht, atmet ruhig. „Ich hab das einfach ausgehalten“, sagt er. „Ich wusste: Ich kann das.“

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24 Kommentare

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  • Es ist erschreckend, was mit Menschen geschieht, die in einer Sekte missbraucht werden.



    Meine Tochter ist in einer Sekte in Leipzig, der sogenannten Generation Heilig (Sacred Human) Sekte, um den Guru Sebastian Gronbach.



    Ich habe mitbekommen, wie sie in Kindergärten und Schulen nach Müttern suchen, die sich gerade in einer Lebenskrise befinden, um diese dann anzuwerben.



    Überhaupt scheinen vor allem Menschen mit Deitessionen oder Suchtkrankheiten bevorzugt Opfer von Sekten zu werden.



    Es ist eine Schande, dass da nicht dagegen vorgegangen werden kann

  • Ich habe aus erster Hand sehr Ähnliches und keineswegs Besseres erfahren über die Neuapostolische Kirche, die sind auch alles andere als harmlos.

    Etwas anderes, was mir auffällt, ist dass bei Trans Menschen scheinbar die Suche nach dem was individuell richtig ist und stimmt, sich auch reflektiert in einer Suche nach Wahrheit für die Gesellschaft. Das ist sehr auffällig bei Chelsea Manning, welche ohne Rücksicht auf ihr eigenes Wohlergehen Kriegsverbrechen der USA aufgedeckt hat, und dafür im Gefängnis seelisch mïsshandelt wurde.

    Ich denke, wir verdanken diesen Menschen mehr als uns bewusst ist. Da bleibt es mir nur, Mitgefühl, Dank und Respekt auszudrücken für diejenigen, die solch schwierige Wege gehen.

  • Die Beziehung zu Gott ist eine Sache, die in der Freiheit und damit Eigenverantwortung jedes einzelnen Menschen steht. So hat Gott es auch eingerichtet. Wer meint, in dieser Frage, Druck oder Zwang ausüben zu müssen, hat selbst Gott nicht verstanden. Die Ausübung von Druck oder Zwang im Bereich des Glaubens ist tatsächlich ein gottloses Unterfangen. Von religiösen "Gemeinschaften" im Sinne des Wortes kann mit solchen Umgangsformen keine Rede sein.



    Der Staat könnte zumindest zwei Dinge tun: 1) Das Verbot der Mitgliedschaft von Minderjährigen in religiösen Körperschaften, 2) Die Aufhebung des Status als "Körperschaft des öffentlichen Rechts" für religiöse Gruppierungen.



    Das das dann nicht nur die Zeugen Jehovas trifft, sondern alle, liegt ganz in meiner Absicht ...

  • Letzten Endes handelt es sich bei allen Christen um Leute, die anders leben wollen als die sie umgebende Gesellschaft. Wenn die Zahl der Christen sehr klein und die umgebende Gesellschaft sehr groß ist, erfordert das auf seiten der Christen unvermeidlich einen großen psychischen Aufwand. Das war auch in der Antike so und ebenso im Bolschewismus.



    Ein Unterschied ist natürlich, dass die Regeln der kleinen Kontrakultur explizit sein müssen, während die Regeln der dominierenden Kultur implizit bleiben können - so entsteht der Anschein, die dominierende Kultur sei liberal und dort könne "jeder machen, was er möchte". (Aber dass jemand Christ ist - das kann die dominierende Kultur dann doch nicht ertragen.)

  • Meine Mutter ist den Zeugen Jehovas beigetreten, als ich in der 2. Klasse war. 1978, Dorfschule, Ausschluss aus dem Religionsunterricht, Außenseiter-Existenz vorprogrammiert, Fußballverein etc. waren tabu. Anfangs angetan von der "Nettigkeit" der Gemeinschaft, die Lehren hat man in dem Alter natürlich wenig hinterfragt, die bunten Bücher waren toll. Als meine Mutter dann ständig mit allen Verwandten im Streit lag ob ihrer militanten Missionierungsversuche, begann das ganze zu kippen und war auch belastend für uns Kinder mit ohnehin wenig Anschluss. Ab dem Teenageralter wurde die Skepsis immer größer, der ewige Druck des "Predigens" und des peinlichen "Straßendienstes" in der Provinz, wo dich viele kennen, wurde unerträglich. Mein Auflehnen wurde immer massiver. Ich versuchte, den Verpflichtungen zu Versammlungen und Predigtdienst bei jeder Gelegenheit zu entkommen, nahm dafür lieber Streit in Kauf. Meine beiden Brüder liefen noch brav mit, ich rebellierte, wo es nur ging. Mit 15 und Erreichen der Religionsfreiheit präsentierte ich meinen Ausstieg, den 3 Älteste in einem "eindringlichen" Gespräch in meinem Kinderzimmer (!) verhindern wollten ... "Du wirst in der Verdammnis umkommen" etc. ... Meinen Willen konnte das nicht brechen. Ich konterte mit: "Wenn ihr den Scheiss glaubt, tut ihr mir echt leid" ... Sie fanden kein Durchkommen bei mir und trollten irgendwann ab. Die Folge war aber Dauerclinch mit meinen Eltern, vor allem meiner Mutter. Meinen Vater würde ich nur als Mitläufer bezeichnen. Er beugte sich, um seinen Frieden zu haben.

    Nach vielen Eskalationen, deren Höhepunkt mit meiner ersten Freundin - mit 17! - erreicht war, zog ich von zuhause aus. Ich konnte es nicht mehr ertragen - den ewigen Streit, die Vorwürfe der "Unzucht" etc. Endlich frei!

    Obwohl ich nur zwei Straßen weiter eine Wohnung nahm, hatte ich fast 2 Jahre keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern. Kurz darauf folgte mein älterer Bruder - ich hatte ihm den Weg geebnet.

  • Vielen Dank für diesen Artikel, der aus meiner Sicht einen sehr guten Ton trifft!

    Ich bin selbst in eine Zeugen-Jehovas-Familie geboren und habe mit 16 offiziell mit der Gemeinschaft gebrochen. Ich kämpfe aber heute, fast 15 Jahre später, immer noch mit den Spuren, die das Aufwachsen in dieser Gemeinschaft in der Psyche hinterlässt.

    Für viele Menschen ist die Aussage, dass man bei Zeugen Jehovas aufgewachsen ist, Anlass für Türklingel-Witze. Viele sehen die als "harmlose Idioten". Wer sagt "soll man halt aussteigen, wenn es nicht passt", hat einfach keine Vorstellung davon, wie stark diese Formen von Gehirnwäsche wirken können. Ich würde mir wünschen, dass Leute weniger schnell ihre vorgefertigte Meinung präsentieren würden, wenn es um das Thema Sekten geht, und stattdessen mehr zuhören, was Menschen mit Sektenerfahrung dazu zu sagen haben.

    Was im Artikel beschrieben wird, kann ich größtenteils nachvollziehen. Natürlich ist mein Erlebnis ein ganz anderes, da ich bis zu meinem Austritt gar nichts anderes kannte. Mir hat es, obwohl ich verbotene Freunde "in der Welt" hatte, jeden Boden unter den Füßen weggezogen. Meine Eltern durften noch Kontakt zu mir haben, weil ich die Taufe bis zu meinem Austritt verweigert hatte. Sie haben mich zunächst massiv versucht, zum Wiedereintritt zu bewegen. Erst als ich mit 19 von zuhause auszog, konnte ich anfangen, zu begreifen, wer ich als Person bin, was mir wichtig ist, woran ich eigentlich glaube. Die ersten Jahre bekam ich eine Panikattacke, wenn ich Zeugen Jehovas nur irgendwo stehen sah. Eine generalisierte Angststörung ist mir geblieben.

    Es war ein langer Weg, doch ich bin froh, ihn gegangen zu sein.

    Wer sich aufrichtig mit dem Leben in dieser Gemeinschaft befassen will, dem empfehle ich den Roman "Kein Teil der Welt" von Stefanie de Velasco, der meiner Erfahrung nach das Leben bei den ZJ sehr treffsicher beschreibt. Mein Mann hat erst durch dieses Buch verstanden, durch welche Hölle ich gegangen bin.

  • Schon herb. Da kann man nur froh sein, wenn man nicht in soetwas hineingeboren wurde.



    Sich als erwachsener Mensch denen anzuschließen ist für mich absolut unnachvollziehbar. Doofe Lehrstelle hin oder her.

    • @Fabian Wetzel:

      Dann wissen Sie nicht, wie es ist, im Heim aufzuwachsen oder keine Familie zu haben. Man ist sein Leben lang auf der Suche nach einer inneren Heimstatt und teils sehr anfällig für "Liebes"-versprechen, wie der Artikel ja auch erwähnt.

      Bitte nicht so viel über andere Menschen urteilen, wenn man selbst die Erfahrungen gar nicht gemacht hat. Scheint irgendwie eine Krankheit in Deutschland zu sein.

      Ein ehemaliges Heimkind.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Zeugen Jehovas sind ein sehr patriarchalisches System. Eine Begründung dafür findet man natürlich in der Bibel.



    Was anderes lesen diese Leute in der Regel, außer ihre "Wachturm-Literatur" auch nicht, denn die Wahrheit steht da ja drin!



    Die perfekte Zensur.



    Wer als Kind in so eine ZJ-Familie reingeboren wird, hat schlechte Karten! Oftmals rebellieren die Kinder dann auch in einem gewissen Alter. Das wird schön vertuscht, soweit es geht.

  • 2G
    27871 (Profil gelöscht)

    Natürlich muss man seine ehrenamtliche Arbeit für einen Club, eine Gemeinschaft oder sonstwen irgendwie finanzieren. Und natürlich muss ein Täter nicht seine Unschuld beweisen. Wieso sollte das bei diesen Zeugen anders sein als beim Rest der Republik.

    Das scheint mir, soweit hier geschildert, eine ziemlich konservative Religionsgemeinschaft zu sein, in der das Vertrauen in den Schöpfer eine große Rolle spielt. Wer dieses Vertrauen nicht hat, sollte sich nicht an Reformen probieren, sondern austreten. Das scheint ja, zumindest wissenschaftlich betrachtet, gefahrlos möglich zu sein.

    Ich habe mal in den 90ern ein Heft der Zeugen mitgenommen und gelesen, Titel "Rockmusik ist Teufelswerk". Der Name lässt es schon vermuten, es wurde abstrus, und zwar so richtig. Wer so etwas glaubt, der sollte nicht annehmen, dass sein Verstand besonders ausgeprägt sei, sondern er sollte zügig eine Beratungsstelle aufsuchen.

    • @27871 (Profil gelöscht):

      Nichts für ungut, aber ich empfinde Ihren Kommentar als etwas zu arrogant für einen erklärtermaßen Unwissenden und Unbeteiligten.

      Ich vermute, Sie haben sich weder das Programm Ihrer Partei, noch die ev./kath. Bibel - oder auch die Ansichten Ihrer Trinkumpanen mal derart "kritisch" angesehen, wie sie das von potentiellen ZJ-Mitgliedern einfordern. Wir machen im Leben alle irgendwelche faulen Kompromisse.

      Ich denke, der Artikel hat sehr deutlich gemacht, dass der Einstieg über die emotionale Schiene läuft und das dicke Ende erst dann kommt, wenn man die Person am Haken hat - weil sie kaum noch externe Beziehungen besitzt.

  • 0G
    09139 (Profil gelöscht)

    Ich habe einen großen Respekt vor diesen Menschen, die es schaffen aus einer Sekte auszusteigen. Und die auch noch anderen Menschen helfen, sich von der Sekte zu lösen.



    Ich glaube das kann man sich gar nicht richtig vorstellen, wie das ist, wenn die ganze Denkweise dank religiöser Gehirnwäsche so verschwurbelt ist.



    Nochmal: großen Respekt und haltet durch!



    Elende Würstchen sind das, wenn ich das lese:



    " Für diese Fälle gibt es bei den Zeugen Jehovas die Zweizeugenregel. Sie ist ein internes „Rechtsprozedere“, bei dem zwei Älteste aus der Gemeinschaft bestätigen müssen, dass ein Gemeindemitglied Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Erst dann darf die Person eine neue Beziehung eingehen. Die Regel gilt auch bei Gewalt gegen Kinder. Lässt sich die Tat nicht nachweisen, hat das Opfer zu schweigen."

    Ich wäre für ein Verbot, so etwas kann doch nicht angehen. Zum Kotzen!

    • 2G
      27871 (Profil gelöscht)
      @09139 (Profil gelöscht):

      Diese Zweizeugenregel scheint nur intern, nicht jedoch strafrechtlich eine Relevanz zu besitzen. Ähnliches gibt es in vielen Vereinen. Aus unserm Verein fliegt man raus, wenn alle Mitglieder für den Ausschuss stimmen.

      Insofern stimme ich Ihrer Respektbezeugung zu, denn der Austritt kann hier nur die einzige Möglichkeit sein. Jemandem nicht zu glauben, ist glücklicherweise nicht strafbar.

      • @27871 (Profil gelöscht):

        "Ähnliches gibt es in vielen Vereinen."



        Wie sie gelesen haben ging es aber nicht darum per MV einen Ausschluss wegen vereinsschädigenden Verhaltens zu beschließen, sondern das Opfer einer Gewalttat am Gang zur Polizei zu hindern und den Vorgang unter dem Deckel zu halten. So etwas gibt es nur in zwei Arten von 'Vereinen': in Sekten und bei der Mafia.

        • @Ingo Bernable:

          Sie haben die Kirchen vergessen.

        • 2G
          27871 (Profil gelöscht)
          @Ingo Bernable:

          Und wie hat man das gemacht, dieses hindern? Man hat mit dem letzten Buch einer Märchenenzyclopedia gedroht.

          Im Artikel heißt es:



          "Erst dann darf die Person eine neue Beziehung eingehen. Die Regel gilt auch bei Gewalt gegen Kinder. Lässt sich die Tat nicht nachweisen, hat das Opfer zu schweigen."

          Genau wie im "richtigen" Leben, oder denken Sie, da funktioniert der Familienrat anders?

          Einzige Konsequenz muss da sein, sich samt seiner Kinder aus dem Staub zu machen und ggf. zur Polizei zu gehen. Man wird da nicht eingesperrt oder so?!

          Natürlich ist das in einem Abhängigkeitsverhältnis schwer, genau wie im "richtigen" Leben.

          • @27871 (Profil gelöscht):

            Warum so scharf?

            Sie sind doch grundsätzlich beide ähnlicher Meinung. :-)

            Den Sprung zum Familienrat halte ich für nicht sehr hilfreich, insbesondere im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. innerhalb einer Familie geibt es keine externen Regeln, nur Beziehungen.



            So eine Sekte ist dagegen schon ein "staatähnliches" Gebilde an deren existierende Regeln man schon formale Ansprüche stellen darf.

            • 2G
              27871 (Profil gelöscht)
              @Sonntagssegler:

              Sie haben noch nie von einem Kind gehört, welches Hilfe bei den Eltern sucht, weil es z.B. von deren Bruder, also einem Onkel, belästigt wurde, und was dann um des Familienfriedens Willen unter den Tisch gekehrt wurde?

  • Luce hat noch Glück gehabt.



    Ich hatte einen Klassenkameraden, der in die Zeugen Jehovas hinein geboren wurde. Nach dem Abi wollte er dort nicht mehr dazu gehören. Und wurde mit dem Tode bedroht. So heftig, dass er eine neue Identität bekam. Er ist der einzige Klassenkamerad, von dem wir seit dem Abi nichts mehr wissen.



    Für mich sind die Zeugen Jehovas alles andere als harmlos!

  • Die Zeugen Jehovas sind eine Sekte. Von einem ehemaligen Adventisten gegründet, der die Apokalypse in den Vordergrund schob, hat sich daraus ein Glaubensgebräu entwickelt, was aus dilettantischem Theologisieren, absurder Wortklauberei, und einer allgemeinen Drohkulisse besteht. Nun ist das kein Alleinstellungsmerkmal dieser Sekte. Ähnliches ist bei Pfingstlern und anderen evangelikalen Sekten und Freikirchen zu finden.

    Das Gefährliche bei den Zeugen Jehovas ist die Form einer Gehrinwäsche, wie sie in den sogenannten Bibelstudien vollzogen wird. In den Traktaten wie "Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt" finden sich Glaubensdogmen, die aus sehr fragwürdigen zusammenhangslosen Bibelzitaten bestehen und zu einer Glaubensforderung zusammengeklittert werden. Dann folgt pro Seite mindestens eine Frage aus reiner Scheinrhetorik. Die Antwort ist unten kleingedruckt und nur diese Antwort muss mechanisch wiedergeben werden. Man paukt also gewissermaßen Fragen und die dazugehörenden Antworten, ohne dass darüber kritisch nachgedacht werden darf.

    Ein solches Vorgehen ist eine Form der Gehirnwäsche und vollzieht sich von Kindesbeinen an.

    Für einen Naturwissenschaftler ist es unmöglich dieser Sekte anzugehören, wenn man nicht ein Doppelleben führen will. Deshalb findet man kaum Akademiker in den Reihen der Schäfchen.

    Geradezu kriminell wurde es, als die theokratische Gesellschaft vor dem letzten veröffentlichten Termin zur Endschlacht 1975 die Eltern anwies, dass ihre Kinder keine höheren Schulen mehr besuchen sollten, weil man solche Berufe im neuen System nicht mehr benötigen würde. Die Kinder sollten lieber, Bäcker,Schreiner,Schneider und andere Handwerker werden, was dann nur noch gefragt wäre. Ärzte wären dagegen überflüssig.

    Auf Grund solcher Handlungen hätte es niemals eine Zulassung als öffentliche Körperschaft geben dürfen. Die Zeugen Jehovas sind alles andere als harmlose Spinner.

  • Das ist nicht so schön. Nach meinen Erfahrungen sind die Zeugen Jehovas aber auch keine Monster. Sie halten einfach noch starrer an ihren Ansichten und Werten fest als es Gruppen immer tun - unsere Gesellschaft ja auch. Die Reibungen, für alles, was nicht ins Schema passt, sind dementsprechend höher.

    Noch allgemein: Wo ich vorsichtig wäre ist bei der Aussage: "Für Luce ist schon damals unbegreiflich, dass die Beweislast beim Opfer und nicht beim Täter liegen soll."

    Unsere Gesellschaft ist heute sehr auf Ausgleich, Gerechtigkeit und die Verantwortlichkeit des Staats und der Gesellschaft dafür ausgerichtet. Da entwickelt so eine Aussage eine eigene Logik, die schnell nicht mehr hinterfragt wird.

    Das Problem des demkratischen Rechtsstaats ist doch aber gerade, dass er apriori nicht weiß, wer Täter und wer Opfer ist. Was ist wenn ein rechtsgewaltätiger Mann seiner bei einer feministischen Gruppe aktiven Kollegin vorwirft ihn z.B. versucht hat auf dem Parkplatz mit dem Auto zu überfahren. Liegt dann automatisch die Beweislast der eigenen Unschuld bei der Frau? Wie könnte sie das beweisen. Ich denke, an dem Extrembeispiel sieht man, dass es so einfach nicht geht. Was wir meinen ist eher, dass Personen aus schwächeren, marginalisierten etc. Gruppen grundsätzlich erstmal einen Glaubwürdigkeitsbonus haben und der Staat muss genau festlegen welche Personen das sind. Das reicht auch nicht pauschal, sonst könnte jeder kommen. Für jede Person individuell müsste der Staat festlegen, dass sie bei solchen Gewalt- und Diskriminierungsfragen erstmal einen Glaubwürdigkeitsbonus hat und die andere Seite sich entsprechend mehr anstrengen muss die Unschuld zu beweisen.

    • 9G
      91655 (Profil gelöscht)
      @Markus Michaelis:

      1. Die "Zwei-Zeugen-Regel" hat wenig mit dem Konstrukt zu tun, dass Sie als Entschuldigung nutzen. Sie war eine interne Anweisung für die interne Rechtsprechung, welche die besitzergreifende Gruppe vor dem Bekanntwerden von Straftaten in der Öffentlichkeit bewahren sollte! Es ging nicht um Schuld und Sühne, sondern darum, aktiv zu verhindern, dass die Lüge über die "Heile Welt" der Zeugen Jehovas enttarnt würde. Es sollte halt alles in der "Familie" bleiben. Ein mißbrauchtes Kind konnte z.B. den Ansprüchen dieser Regel regelmäßig nicht entsprechen.

    • @Markus Michaelis:

      Das wirkt auf mich alles ziemlich relativierend.



      "Nach meinen Erfahrungen ..."



      Wobei die entscheidende Frage sein dürfte ob sie diese Erfahrungen innerhalb einer solchen Sekte, als 'abtrünniges' Mitglied gar, gemacht haben oder eben die zwar verbohrte aber doch noch freundlich wirkende Fassade kennengelernt haben. Mir ist jedenfalls auch ein Fall bekannt in dem die Eltern ihre Tochter als tot betrachten weil sie mit 18 ihren Ausstieg (aus der in diesem Fall evangelikalen Pfingstkirche) erklärte und zum Studium nach Berlin ging. Die beiden anderen Töchte ehelichten nach dieser Episode jedenfalls erstaunlich schnell zwei gottesfürchtige Herren aus der selben Gemeinde und ich hätte da doch vorsichtige Zweifel ob dabei wirklich nur die große Liebe und die freie Entscheidung ihre Finger im Spiel hatten.



      Was sie zu Rechtsstaatlichkeit und Beweislast schreiben ist ja alles gut und schön, allerdings wurde die rechtsstaatliche Aufklärung hier ja aktiv von der Gemeinde unterbunden und durch ein eigenes Tribunal ersetzt. Dass dieses Konzept dessen katastrophales Scheitern auch bei Umsetzung in milderer Form man zuletzt immer wieder etwa auch im Rahmen der endlosen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche beobachten musste, bei Anwendung durch eine hermetisch abgeschottete Gruppe religiöser Eiferer kaum geeignet ist auch nur rudimentäre juristische Minimalstandards zu erfüllen dürfte auf der Hand liegen.

    • @Markus Michaelis:

      Ja wo kämen wir denn auch hin, wenn man Leuten einfach so - ohne stichhaltige Beweise für häusliche Gewalt - erlauben würde eine neue Beziehung mit einem anderen Partner einzugehen. Nicht auszudenken...