Editorial von Andreas Rüttenauer: Berliner Visionen
Über Berlin ist schon viel debattiert worden, seit die Mauer gefallen ist. Dabei ist nicht selten ganz groß gedacht worden. Die brodelnde Metropole im Herzen Europas wollten nicht wenige in der Stadt sehen. Andere hatten Angst, dass sich Berlin zu einem unbeherrschbaren Moloch auswachsen würde. Und so manch einer war fast ein wenig stolz, als es mal hieß, Kreuzbergs elende Mitte, das Kottbusser Tor, sei der gefährlichste Ort mindestens Europas. Und als sich die digitale Elite des Landes anschickte, ein Start-up nach dem anderen in Berlin aus dem Boden zu stampfen, da wurde fantasiert über ein digitales Berlin, das den Maßstab setzen könnte für eine moderne Metropole des 21. Jahrhunderts.
An Kleingartenanlagen dürften dabei die wenigsten gedacht haben, auch nicht an die Einfamilienhaussiedlungen oder die Schlafstädte an den Rändern der Stadt. Metropolenfantasien haben stets im Zentrum der Stadt ihre Blüten getrieben. Da gibt es den Traum vom ökologischen Stadtumbau. Oder den einer Finanz- und Kreativmetropole, in der vor allem Englisch gesprochen wird.
Und was ist mit denen, die mit solchen Visionen nichts anfangen können? Für die gibt es Franziska Giffey, möchte man meinen. Die Spitzenkandidatin der SPD für die Wahl zum Abgeordnetenhaus tut alles, damit bloß ja niemand Angst haben muss. Nicht vor Verbrechern. Nicht davor, dass den Autos Platz weggenommen wird in der Stadt. Nicht vor allzu breiten Fahrradwegen. Und überhaupt vor allzu viel Veränderung. Unter ihr darf Berlin bleiben, was es trotz aller Metropolenträume immer war: ein wenig provinziell.
Und doch tut sich etwas in der Stadt. An Giffeys SPD vorbei ist das Thema Wohnen zum großen politischen Thema geworden. In Stuttgart, der Stadt mit den teuersten Mieten im Land, blickt man beinahe schon neidisch auf die Hauptstadt. Denn in Berlin wird das Sprechen über bezahlbaren Wohnraum nicht dem Markt überlassen. Das Thema wird auf der politischen Bühne verhandelt. Darauf lohnt es sich wirklich zu schauen.
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