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EU und GeflüchteteMenschen als Waffe

Gastkommentar von Robert Saar

Europa ist mitverantwortlich dafür, dass Menschen als Druckmittel eingesetzt werden. Es macht sich erpressbar und spielt Autokraten in die Karten.

Gestrandet in Belarus an der Grenze zu Polen im Dezember 2021 Foto: Maxim Shemetov/reuters

I m Mai letzten Jahres zwang Belarus einen Li­nienflug zwischen zwei Mitgliedsstaaten der EU zur Landung. Angeblich aufgrund einer Bombendrohung, die jedoch erst nach dem ersten Kontakt zum Flugzeug an belarussische Behörden geschickt wurde – per Mail. An Bord des Flugzeugs befanden sich ein belarussischer Dissident und seine Freundin, beide wurden nach der Landung verhaftet.

Diese staatlich organisierte Entführung ist der Beginn einer internationalen Erpressung, die bis heute fortwirkt. West und Ost befinden sich in einer Art neuem Kalten Krieg – mit völlig neuen Waffen: Menschen.

Als Reaktion auf die Entführung von Roman Protassewitsch sperrte die EU ihren Luftraum für belarussische Fluggesellschaften. Sie bedachte die Diktatur Alexander Lukaschenkos mit weiteren Sanktionen. Der Machthaber kündigte Rache an: von nun an werde sein Land Flüchtende nicht aufhalten, wenn diese in die EU einreisen wollen. Belarus grenzt im Westen an Polen, im Nordwesten an Litauen.

Im Juni berichteten polnische Anwohner erstmals von Geflüchteten, die durch ihre Heimat weiter nach Westen zogen. Es war der Startschuss zu einer systematischen Aktion. Das Ziel: die EU zu erpressen und ihre Doppelzüngigkeit aufzudecken.

privat
Robert Saar

22, kommt aus Berlin und absolviert aktuell ein Auslands­semester in St. Petersburg. Sonst studiert er an der TU Dresden Internationale Beziehungen.

Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention

Viele der Flugverbindungen, die Flüchtende Richtung Belarus nutzen, existieren erst seit einigen Monaten. Die belarussische Fluggesellschaft „Belavia“, ein Staatsunternehmen, untersteht Diktator Lukaschenko. Ebenfalls auffällig ist, wie gerne Belarus plötzlich One-Way-Visa Richtung Minsk ausstellte, zu teils horrenden Preisen, von denen das sanktionsgebeutelte Land ebenfalls profitiert. Lukaschenko lockte also Menschen in prekären Situationen gezielt in sein Land, um sie dann Richtung polnische Grenze zu schicken.

Die sieht mittlerweile gar nicht mehr nach einer grünen Grenze aus. Über 180 Kilometer erstreckt sich ein Grenzzaun, aufgebaut im Eiltempo von polnischen Sicherheitskräften. Auch hier gibt es Stimmen, wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer andeutete, dass auch Mauern an den EU-Außengrenzen wieder nötig wären.

Es ist ein Stück weit verständlich, dass auf Erpressungsversuche von Lukaschenko, der das Ende aller Sanktionen im Gegenzug für die Beendigung des staatlichen Schleusens forderte, nicht mit der sofortigen Aufnahme aller Menschen an der Grenze reagiert wird. Denn das würde den Diktator in seinem erpresserischen Vorgehen bestätigen.

Die abgeriegelte Grenze macht es jedoch denjenigen, die auf der belarussischen Seite sind, unmöglich, überhaupt erst einen Antrag auf Asyl zu stellen, und das ist nicht hinnehmbar. Über Bleiberechte in der EU entscheiden Asylverfahren und nicht die Frage danach, auf welcher Seite der Grenze sich ein Mensch befindet.

Die polnische Regierung bricht geltendes Völkerrecht

Schlimmer noch: Berichte über Zurückschiebungen durch Polen reißen nicht ab. Zurückschiebungen verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, und auch der Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention untersagt die Ausweisung von Flüchtenden in Länder, in denen Freiheit oder Leben aufgrund Nationalität oder Religion bedroht sein würden – in Belarus nichts Undenkbares.

Über 180 Kilometer erstreckt sich ein Grenzzaun, aufgebaut im Eiltempo von polnischen Sicherheitskräften

Polen aber hat die Grenzregion abgeriegelt, lässt sie militärisch bewachen. Die Presse bleibt ausgesperrt. Die Regierung weiß genau, was sie tut – sie bricht geltendes Völkerrecht.

Die EU reagiert auf die Situation an der Grenze bisher mit Verschärfungen der Sanktionen und Schuldzuweisungen in Richtung Minsk – und, etwas leiser, gegen Moskau. Auch das ist verständlich, schließlich schwingt sich Lukaschenko mit Putins Rückendeckung zum Schleuser auf, um die EU zu erpressen.

Was jedoch niemand in Brüssel gerne sagt: Würde die EU zu den Prinzipien ihrer Verträge und Identität stehen, wäre eine solche Erpressung unmöglich. Die EU ist in diesem Punkt nur verwundbar, weil sie seit Jahren auf eine Politik der Abschottung setzt, die mit der Beschreibung „Festung Europa“ treffend formuliert ist.

Den Begriff Festung benutzen osteuropäische Politikerinnen inzwischen ganz ungeniert – bisweilen sogar stolz. Ungarns Justizministerin Judit Varga etwa, die in der FAZ erklärte: „Wir werden ohnehin keine illegalen Migranten reinlassen – die Festung Ungarn steht.“

Ohne Schengen-Pass in Richtung EU

Immer, wenn ein Autokrat wie Erdoğan oder ein Diktator wie Lukaschenko damit droht, Menschen ohne Schengen-Pass in Richtung EU zu schicken, sollten wir uns fragen, warum diese Drohung überhaupt wirkt. Gäbe es ein funktionierendes System der Verteilung innerhalb Europas und menschliche Bedingungen der Einreise in die Union, dann würde Minsk gar nicht erst auf die Idee kommen, Menschen als Druckmittel zu instrumentalisieren.

Lukaschenko ist direkt verantwortlich für das Leid der Menschen, ja. Aber es ist die Politik der EU, die ihm den Weg bereitet. Seit Jahren stopft die Union jedes Loch in der Außengrenze, durch das Menschen einreisen könnten. Auch gibt es kein europäisches Einwanderungsgesetz, welches Migration legalisieren und ordnen würde – eigentlich etwas, wonach Europas Politik ständig ruft. Denn nicht alle Menschen an der Grenze sind Fliehende, manche von ihnen wollen einfach ein besseres Leben. In jedem Fall hat es niemand verdient, so behandelt zu werden.

Nur durch rigorose Abschottung wird eine Lücke in der Außengrenze erst so interessant, dass Menschen in Syrien, Afghanistan, dem Irak und Iran und weiteren Ländern bereit sind, alles zu riskieren. Es ist also die unmenschliche Ausgangs­situation, welche die EU selbst geschaffen hat, die Lukaschenkos menschenverachtende Erpressung erst ermöglicht.

Auch unterstützt die Reaktion der EU das zentrale Argument osteuropäischer Antidemokraten: Demokratie existiert nicht, alle Systeme sind gleich und haben ihre Schatten- und Lichtseiten. Die gleiche Union, die, völlig zu Recht, Menschenrechtsverletzungen in Belarus anprangert, verweigert seit Jahren effektiv Tausenden das Recht auf ein Asylverfahren. Das ist ein schweres Vergehen an den eigenen Werten.

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7 Kommentare

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  • KE1NER

    Was sie immer mit Ihrem Schäuble haben...

    Der hat die unmenschliche Flüchtlingspolitik an den griechischen Inseln aktiv mitgestaltet. Der gehört gar nicht hier hinein.

    • @tomás zerolo:

      Es ist doch kein blame-game! Die Menschen gehen da JETZT zugrunde!

      JETZT kann geholfen werden - und Sie karten irgendwas von früher nach, genauso abgehoben wie diese angeblich wertegeleiteten grünen Außenpolitiker Baerbock und Nouripour, die ungerührt an dem menschlichen Leid vorbeisehen und Unsinn über eine angebliche Legitimation Lukaschenkos durch Merkels Telefonat daherreden.

      Ist es so schwer zu verstehen, dass die Grünen keinen Widerstand aus der größten Oppositionspartei zu gewärtigen hätten, seit Schäuble seine Forderung nach Aufnahme der Geflüchteten öffentlich gemacht hat? Nichts - wegen dieses Vorschlags und aus welcher Ecke er kommt - mehr im Wege steht?

      Das jetzt, sofort, Warschau angeboten werden könnte: 'wir machen die Asylverfahren hier, lasst sie in die EU'?

      Dieser Vorschlag ist die Tür, durch die es gehen kann - es ist wirklich scheißegal, wer sie aufhält.

      Nochmal, gucken Sie zum Fenster raus, stellen sich nur mal 10 Minuten leicht bekleidet in die Kälte, auch wenn es schneit oder regnet - und Ihnen fällt nicht mehr ein als das?

      Und den Grünen 'Lukaschenkos Verantwortung, nicht unsere!'?

      Das möchte ich sehen, wenn Sie selbst in Not wären, ob Sie da auch ganz penibel hinsehen, wer Ihnen eine Rettungsleine zuwirft - aber wenn's um die da an der Grenze geht, wird bequem Nouripour geglaubt, "nicht das Problem" - Hauptsache, nicht Schäuble?

  • Am 16.11.21 zitiert die Taz Omid Nouripour, den außenpolitischen Sprecher der Grünen, : „Die paar Leute, die jetzt in der Kälte stehen, die sind nicht das Problem. Das Problem ist der Erpressungsversuch.“ taz.de/Krise-an-be...r-Grenze/!5815401/ (Merkel hatte mit Lukaschenko zu den Geflüchteten telefoniert, der prioritäre Vorwurf: sie habe so seine gefälschte Wahl legitimiert)

    Zwei Tage später wurde ein einjähriges Kind an der Grenze tot aufgefunden.

    Nouripour wird wohl demnächst Vorsitzender der Grünen, die ihre Haltung offensichtlich nicht geändert haben: Solidaritätsadressen Richtung Polen - das die Geflüchteten wie Feinde behandelt, Pushbacks, Wasserwerfer, Journalist:innen den Zugang verwehrt - weder er noch Baerbock sind davon im Wesentlichen abgerückt.

    Obwohl Wolfgang Schäuble vor fast zwei Monaten öffentlich gefordert hat, die Geflüchteten hier aufzunehmen - außer der AfD könnte keine Oppositionspartei eine solche Aufnahme in den bevorstehenden Landtagswahlkämpfen instrumentalisieren - warum greifen die Grünen den Vorschlag nicht auf, sondern stellen sich an die Seite der rechtsnationalen PiS in Warschau?

    m.faz.net/aktuell/...-17639059.amp.html

    Es ist seitdem nichts geschehen! Die Ampel regiert, die Grünen stellen die Außenministerin, aber Polen macht völlig ungehindert weiter wie bisher - und der Rest ist Schweigen.

    Alles unter dem Label 'neue, werteorientierte Außenpolitik'.

  • Man kann gerne für die Aufnahme von Flüchtlingen plädieren - die Forderung nach einer "fairen Verteilung in Europa" ist aber reine Utopie und sollte aus der Diskussion verschwinden. Das zeigt die Praxis in Deutschland.

    Flüchtlinge zieht es aus nachvollziehbaren Gründen in die (westeuropäischen) Ballungszentren, weil sie hier die vermeintlich besten Jobchancen, ihre Communities, Hilfsangebote und eine freundlicher gesinnte Bevölkerung finden.

    Kein Flüchtling wird auf Dauer in Osteuropa bleiben, wenn er/sie nach einem fairen Verteilungsschlüssel dorthin verlegt wurde.

    • RS
      Ria Sauter
      @gyakusou:

      Das sehe ich auch so.



      Hier gibt es auch die beste finanzielle Versorgung. Aus Sicht der Flüchtlinge verständlich, dass sie nach D oder England möchten.



      Erst wenn es überall Gleichheit gäbe bei der Versorgung wäre es vielleicht möglich, eine Verteilung zu erwägen.

  • "Denn das würde den Diktator in seinem erpresserischen Vorgehen bestätigen."

    Sehe ich anders. So viele Flüchtlinge waren's nicht -- und Lukaschenko hat sicher nicht deswegen aufgehört, weil die Polen ins Hemd gemacht haben, sondern weil die Sanktionen gegen Belavia & Co. wehtun. Hätten DE und FR den so ängstlichen Polen die paar Flüchtlinge abgenommen, wäre Lukaschenkos Aktion verpufft. So stehen wir ohne Unterhose da.

    Die Angst vor Flüchtlingen ist hausgemacht. Wie der damalige Kanzlerkandidat der CDU (wie hiess der noch? Flaschet? Laschmann? habe ich vergessen), der laut aufquiekte, 2015 "dürfe sich nicht wiederholen".

    Zum Kotzen.

    Das ist eine Chiffre an die Rechten, wenn Ihr mich fragt. Dog whistle [1] vom feinsten.

    Das ganze unmenschliche System, mit Internierungslagern an den Grenzen ist genau so gewollt, mit einem widerlichen System des "outsourcing of evil", in dem die rechten Bewegungen als strategische Masse gezielt benutzt werden. Wenn das nicht mal schiefgeht.

    [1] en.wikipedia.org/w...whistle_(politics)

    • @tomás zerolo:

      "So viele Flüchtlinge waren's nicht": sind es nicht!

      Vielen der Menschen kann (und muss) immer noch geholfen werden - dass Nouripour und Baerbock permanent mit "Menschenrechten" rumhausieren, z.B. auf Instagram, "wertegeleitet" aber tatsächlich dem Opportunitätsprinzip geopfert haben, ist ein Skandal!

      Beide setzen sich ein, für die politischen Gefangenen in Belarus, Nouripour hat sogar eine Patenschaft für jemanden übernommen - die ganze Verlogenheit, dass es sich nur um PR handelt, wird doch klar, wenn wan sich überlegt, eine:m von diesen politischen Gefangenen würde die Flucht aus dem Gefängnis gelingen, er:sie sich auf den Weg in die EU, Asyl, machen: an der polnischen Grenze wäre Schluss, und es geht denen am A.... vorbei!

      Was für einen Unterschied macht es - Werte! - ob jewand z.B. Assad, den Taliban oder Lukaschenko entkommen ist?