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EU in der CoronakriseAus erster Welle nichts gelernt

Die EU-Staaten und Brüssel haben in der Krise schlecht reagiert, geht aus Berichten hervor. Auch auf ein neues Aufflammen seien sie schlecht vorbereitet.

Mehr Tests, mehr Kontaktverfolgung, bessere Apps. Hier ein Test in einem Krankenhaus in Barcelona Foto: Emilio Morenatti/ap

Brüssel taz | Die Europäische Union ist nicht hinreichend auf eine mögliche zweite Welle der Coronapandemie vorbereitet – und sie hat auch noch nicht alle Konsequenzen aus der verheerenden ersten Welle im Frühjahr gezogen. Dies geht aus zwei Berichten hervor, die am Mittwoch unabhängig voneinander in Brüssel und London veröffentlicht wurden.

Der erste, offizielle Bericht kommt von der EU-Kommission. Sie hat zwar kaum eigene Kompetenzen in der Gesundheitspolitik, bemüht sich aber um eine EU-weite Koordinierung. Die 27 Mitgliedstaaten müssten mehr tun, um „künftige Covid-19-Ausbrüche“ einzudämmen, forderte die Brüsseler Behörde in einer (unverbindlichen) Mitteilung.

Im Herbst und Winter könnten sich Covid-19 und Grippeviren zu einem gefährlichen „Cocktail“ mischen, sagte Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. Sie fordert eine massive Ausweitung der Grippeschutzimpfungen, die im Oktober beginnen. „Jetzt ist nicht die Zeit, in unserer Wachsamkeit nachzulassen“, so Kyriakides.

Brüssel forderte die Mitgliedsländer auch auf, die Coronatests auszuweiten und die Kontaktverfolgung bei Infektionen, etwa durch Warn-Apps, zu verbessern. Es müsse verhindert werden, dass sich lokale Hotspots zu Brandherden entwickelten.

Bilanz von investigativen Journalisten ist vernichtend

Kyriakides vermied es, auf die Kritik einzugehen, die in einem Bericht des Londoner Büros für investigativen Journalismus (TBIJ) zur ersten Corona­welle im Frühjahr enthalten ist. Unter dem Titel „Crisis in the Commission“ hat ein internationales Reporterteam die EU-Reaktion auf die Pandemie aufgearbeitet.

Die Bilanz ist vernichtend: Es ging so ungefähr alles schief, was schiefgehen konnte. Nicht nur die Mitgliedsstaaten haben versagt, auch die EU-Kommission wurde ihrer Rolle nicht gerecht. Sogar die Präventionsagentur ECDC, die für die Pandemiebekämpfung zuständig ist, war der Krise nicht gewachsen.

So haben die ECDC-Experten nicht nur erste Alarmsignale aus dem österreichischen Skiort ­Ischgl ignoriert. Sie waren nach dem TBIJ-Bericht bis Mitte Februar auch nicht in der Lage, aktuelle Empfehlungen für das Vorgehen an den europäischen Grenzen zu geben. Die letzten Empfehlungen datierten noch von der Vogelgrippe 2010.

Die Folge: Hektische, in nationalen Alleingängen verhängte Grenzschließungen und ein Beinahe-Zusammenbruch des Binnenmarkts. Auch die EU-Kommission, die über den Binnenmarkt wacht, konnte dies nicht verhindern. Die Brüsseler Behörde habe zu spät und zaghaft regiert, heißt es in dem Bericht.

Für Krisen zuständiger EU-Kommissar wenig aktiv

So habe der für Krisenfälle zuständige EU-Kommissar Janez Lenarčič zunächst wenig Aktivität entfaltet. Noch im Januar hätten Lenarcics Experten die meisten Sitzungen des eigens einberufenen Health Security Committee geschwänzt. Gleichzeitig stellte Brüssel allen Beteiligten ein gutes Zeugnis aus: Es gebe einen „hohen Grad an Vorbereitung“.

Doch in Wahrheit war fast nichts vorbereitet. Als größtes Problem erwies sich der Mangel an Masken und anderer Schutz­ausrüstung, der durch zeitweise Exportverbote in Deutschland und Frankreich vergrößert wurde. Doch selbst als sich die Knappheit schon abzeichnete, lieferte die EU noch Ausrüstung nach China, so der TBIJ-Bericht.

Insgesamt ergibt sich ein Bild kollektiven Versagens auf vielen Ebenen. Die Aufarbeitung lässt jedoch auf sich warten. Zwar wurden in einzelnen Ländern nationale Untersuchungen eingeleitet. Doch auf EU-Ebene tut sich wenig. Das Europaparlament hat einen Sonderausschuss zum Kampf gegen den Krebs eingerichtet, nicht aber zu Covid-19.

Auch die EU-Kommission sieht keinen Grund für eine kritische Nachbetrachtung. Sie habe „sehr früh vor der Gefährlichkeit des Coronavirus gewarnt, noch vor der WHO“, heißt es in Brüssel. Entsprechend gehandelt hat die EU jedoch nicht; kurz nach den ersten Warnungen entwickelte sich Europa zum Epizentrum der Pandemie.

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3 Kommentare

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  • Wir haben schon gelernt dass man mit Masken und Kontaktbeschränkung das Virus eindämmen kann. Aber heute wird der Lockdown nicht mehr ernst genommen und die Urlaubs- und Geschäftsreisen sorgen für erneute Wellen. Muss man wohl damit leben! Alternativ wären nur strikte Tests auf Flughäfen bei Einreisenden und Kontaktsperren und Reisesperren bei Krisenherden. Traut sich wohl aber ein Großteil der Politik nicht!

  • Das falsche Entwicklungsmodell?

    Zitat: Aus erster Welle nichts gelernt“

    Ja, was hätten sie denn daraus lernen können? Wie man Gesichtsmasken näht? Für den französischen Präsidenten E. Macron wäre das nicht ausreichend, er will an die Wurzeln des Übels: „Morgen müssen wir die Lehren ziehen aus dem, was wir gegenwärtig durchmachen, das Entwicklungsmodell hinterfragen, in das sich unsere Welt seit Jahrzehnten verwickelt hat und dessen Mängel nun ans Licht kommen. Eines hat sich durch diese Pandemie schon jetzt herausgestellt: Die kostenlose Gesundheit, unabhängig vom Einkommen, Stellung und Beruf, unser Sozialstaat sind keine Kosten oder Lasten, sondern wertvolle Güter, unverzichtbare Trümpfe, wenn das Schicksal zuschlägt. Diese Pandemie hat jetzt schon deutlich gemacht, daß es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen. Die kommenden Wochen und Monate werden Entscheidungen erfordern, die in diesem Sinne einen Bruch darstellen. Ich werde mich dessen annehmen.“ („Il nous faudra demain tirer les leçons du moment que nous traversons, interroger le modèle de développement dans lequel s'est engagé notre monde depuis des décennies et qui dévoile ses failles au grand jour. Ce que révèle d'ores et déjà cette pandémie, c'est que la santé gratuite sans condition de revenu, de parcours ou de profession, notre Etat-providence ne sont pas des coûts ou des charges mais des biens précieux, des atouts indispensables quand le destin frappe. Ce que révèle cette pandémie, c'est qu'il est des biens et des services qui doivent être placés en dehors des lois du marché. Les prochaines semaines et les prochains mois nécessiteront des décisions de rupture en ce sens. Je les assumerai.") (TV-Ansprache am 12. 3. 2020, eigene Übers. Quelle: Web-Site des Elysée-Palastes)

    Ob die EU-Kommission die gleichen Lehren zieht?

    • @Reinhardt Gutsche:

      1. Glauben Sie an die salbungsvollen Worte von Herrn Macron?



      2. So recht er haben mag, im September bzw. Oktober dürften die hier angeregten Veränderungen wohl nicht abgeschlossen sein. Als stellt sich die alte Frage: Was tun?