EU-Politikerin über Jahr der Schiene: „Infrastruktur unzureichend“
Die Schiene muss besser werden, sagt die grüne EU-Abgeordnete Anna Deparnay-Grunenberg. Sie setzt sich für ein europäisches Eisenbahnnetz ein.
taz: Frau Deparnay-Grunenberg, das EU-Parlament und die Europäische Kommission haben 2021 zum europäischen Jahr der Schiene erklärt. Warum?
Anna Deparnay-Grunenberg: Wir wollen ein Jahr lang das Thema Bahnfahren seitens aller EU-Institutionen nach vorne stellen und dazu alle Stakeholder ins Boot holen. Es geht darum zu reflektieren, welche Bedeutung die Schiene für Europa hat, und um die Themen Klimaschutz, Green Deal und Verkehrswende. In den Schienenverkehr muss mehr investiert, die Elektrifizierung und die Digitalisierung müssen vorangetrieben werden. Es müssen mehr Güter auf die Schiene verlagert werden, damit diese Lkw-Kolonnen nicht mehr durch Europa fahren. Das Jahr der Schiene ist dazu da, diesen paneuropäischen Diskurs zu pflegen. Soll das Bahnfahren billiger werden? Mit mehr Unterstützung der öffentlichen Hand?
Gibt es konkrete Projekte?
Kern des Jahres der Schiene ist, konkrete Verbesserungen anzustoßen. Dafür stehen 8 Millionen Euro als Fördermittel für kleine Projekte zur Verfügung. Es gibt viele Bewerber, etwa ein Projekt zum nachhaltigen Tourismus mit Rundumpaket für Urlaub in Sizilien, wo man mit dem Zug und der Fähre anreist und sich vor Ort mit E-Shuttle oder Rad bewegt. Wir müssen europaweit das Thema nachhaltiger Tourismus vor Ort und Anreise auf der Schiene mehr in den Blick nehmen.
Wie könnte das gehen?
Die EU könnte einen Standard festlegen, was nachhaltiger Tourismus ist. Das macht sie aber nicht. Es gibt sehr viele Widerstände, etwa von Betreibern von Bauprojekten oder Vertretern von Küstenregionen, die nicht als nachhaltig dargestellt würden. Dabei hätten wir jetzt die Chance, etwas Neues zu beginnen. Vielen Beschäftigten und Unternehmen im Tourismus geht es durch die Pandemie sehr schlecht. Aber das Wiederauflebenwollen dieses Sektors, wie er vorher war, ist sehr groß. Die EU packt das nicht an, auch weil die nationalen Regierungen das nicht wollen. Sie sagt nicht: Lasst uns das Jahr der Schiene und die Krise und die große Aufgabe, das Klima zu retten, zusammen mit dem Tourismus denken. Sie versäumt die Gelegenheit.
geb. 1976, ist Grünen-Abgeordnete des EU-Parlaments und Mitglied im Ausschuss für Verkehr und Tourismus.
NGOs sagen, dass das europäische Jahr der Schiene vor allem eine Marketingveranstaltung ist. Die haben recht, oder?
Marketing für eine gute Sache ist ja auch das Wesen vieler NGOs. Es ist nicht verkehrt, die Aufmerksamkeit auf das System Bahn zu lenken und die Frage zu stellen, wie Digitalisierung und Ökostrom, guter Service und eine gute App uns auf eine nächste Stufe der Mobilität in Europa bringen können. Wenn wir uns nicht als Gemeinschaft, als Bürgerinnen und Bürger dafür einsetzen, kann es passieren, dass immer mehr in die Straße, etwa ins autonome Fahren, investiert wird, oder die Oberleitung für Laster kommt statt mehr Schienenverkehr.
Das europäische Jahr der Schiene hat nicht gut angefangen. Gerade hat die EU die Rechte für Bahnkund:innen erheblich zurückgedreht. Bei Verspätung wegen höherer Gewalt wie extremen Witterungsbedingungen entfällt künftig die Entschädigung. Wird Bahnfahren in Europa womöglich schlechter als besser?
Es stimmt, dass es gewisse Dissonanzen gibt. Die EU-Institutionen sehen nicht das Signal, das sie gesendet haben und mit dem sie das europäische Jahr der Schiene schwächen. Der Hintergrund war, dass die unterschiedlichen Passagierrechte im Flug- und Bahnverkehr angeglichen werden sollten. Das alles hat sich ewig lang gezogen. Zum Schluss ist etwas herausgekommen, von dem ich sage: Es gibt zwar kleine Verbesserungen bei den Bahnpassagierrechten, aber eben auch eine Kröte – das mit der Entschädigung.
Welche kleinen Verbesserungen gibt es?
Zum Beispiel, dass man als Mensch mit Gehbehinderung oder mit Mobilitätseinschränkung nicht mehr 48 Stunden vorher dem Bahnunternehmen Bescheid geben muss, wenn man Hilfe haben will. Das ist reduziert worden auf 24 Stunden. Es gibt auch Verbesserungen beim Thema Radmitnahme. Alle neuen Züge, die renoviert oder neu gebaut werden, müssen in Zukunft mit vier Plätzen für Fahrräder ausgestattet werden.
Heute ist es extrem schwer, grenzüberschreitende Tickets zu kaufen, wenn man quer durch Europa fahren will. Gibt es auf europäischer Ebene Initiativen, das zu verbessern?
Es gibt viele Initiativen von NGOs. Bei der Reform der Fahrgastrechte hätte die EU das Recht für Bahnfahrer verankern müssen, ein durchgehendes Ticket von A nach B in Europa buchen zu können und die Fahrgastrechte mitnehmen zu können. Aber die Mitgliedsstaaten haben sich gegen die Empfehlung des Parlaments und der Kommission gesträubt und das nicht akzeptiert. Es gibt keine Durchgangstickets, weil einige der Akteure im europäischen Bahnsektor als ehemalige Staatsbahnen sehr national geprägt sind. Sie verstehen sich nicht als Teil eines europäischen Systems. Wir müssen daran arbeiten, das zu verändern.
Wie könnte das gehen?
Wir müssen die Bahnunternehmen in der EU zwingen, ihre Daten herauszugeben. Damit könnten wir eine App speisen, die wirklich alles enthält, was es an Angeboten gibt. Heute ist es doch so: Ich suche eine Fahrt von Stuttgart nach Brest in der DB-App und bekomme andere Preise und Zeiten als bei der Suche im Angebot der französischen Bahn SNCF. Das kann ja nicht sein, das Angebot ist ja das Gleiche. Wenn alle Bahnunternehmen ihre Daten geschützt an die öffentliche Hand geben, kann der Kunde in einer App sehen, was für ihn am günstigsten ist. Will er nicht besonders schnell, aber günstig, lieber mit Flixtrain fahren, oder will er ganz schnell ans Ziel kommen, und der Preis ist egal? Die EU-Kommission hat schon mehrmals einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Es sind die Mitgliedsstaaten, die bremsen.
Was ist das Problem?
Die Frage, wer ist Schuld und muss etwa bei Verspätungen zahlen, verhindert, dass die Bahnbranche selbst das Thema voranbringt. Die Unternehmen fürchten, ihr Geld nicht zurückzubekommen, wenn sie Fahrgästen einen Teil des Ticketpreises erstatten müssen, obwohl sie selbst nicht verantwortlich für die Verspätung sind. Wenn die Bahnbranche das nicht hinbekommt, muss die öffentliche Hand mit einer eigenen Lösung kommen. Einzelne Unternehmen haben durch ihre ehemalige Monopolstellung die Nase so vorn, dass sie nicht an einer Kooperation mit anderen Bahngesellschaften interessiert sind.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat angekündigt, dass ein Europatakt kommen soll, also regelmäßige Verbindungen zwischen Metropolen mit guten Anschlüssen in die Region. Ist das mehr als ein leeres Versprechen?
Es bleibt ein leeres Versprechen, wenn man nicht wenigstens das macht, was jetzt gemacht werden könnte. Wenn man erstens nicht bereit ist, die Fahrgastrechte durchgehend über die Grenzen hinweg dem Fahrgast mitzugeben, dann ist es lächerlich, darüber zu reden, dass man einen Europatakt will. Zweitens ist die Infrastruktur nach wie vor unzureichend, etwa die Digitalisierung der Züge und der Schaltzentralen. Da wird viel zu wenig investiert.
Was könnte denn sofort gemacht werden, abgesehen von den Fahrgastrechten?
Wir könnten sofort die echte Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen Transportmöglichkeiten herstellen. Die Straße wird immer noch viel mehr subventioniert als die Schiene. Wir haben keine Maut für die Straße. Aber die Züge müssen sich für jeden Kilometer einbuchen und einen Trassenpreis zahlen. Das ist nicht fair. Im grenzüberschreitenden Verkehr haben wir bei der Bahn eine Mehrwertsteuer, der Flug ist davon befreit. Man könnte eine Kerosinsteuer einführen. Möglich wäre für Lkw und Pkw eine faire CO2-Bemautung. Aber in dieser Frage gibt es keine Offenheit der EU-Mitgliedsstaaten.
Bahnreisen werden Flüge nur ersetzen, wenn es gute Nachtzugverbindungen gibt. Aber die Deutsche Bahn ist aus dem Schlafwagengeschäft ausgestiegen und schafft keine neuen Schlafwagen an, obwohl der Bundesverkehrsminister eine Renaissance der Nachtzüge angekündigt hat.
Es ist wirklich schade, dass die Deutsche Bahn nicht wieder einsteigt. Sie lässt zwar ICE über Nacht fahren, aber ein echter Wiedereinstieg und Belebung des Marktes in Richtung Nachtzug ist das nicht. Dabei spielt Deutschland als Land, das mitten in Europa ist, hier eine wichtige Rolle. Die Deutsche Bahn setzt zwar auf eine Partnerschaft mit den Österreichischen Bundesbahnen, die sich auf Schlafwagen spezialisiert haben. Aber das löst das riesige Problem nicht, das wir mit dem rollenden Material haben.
Es gibt tolle Prototypen für Schlafwagen mit individuellen Kabinen, in denen man wie im Hotel übernachten kann. Aber die Industrie wird so etwas in größerem Maße nur produzieren, wenn sie auch die Signale von wichtigen Playern wie der Deutschen Bahn hört. Ohne diese Signale bekommen wir nicht die Wucht in den Markt, die wir brauchen. Der Bau dauert einige Jahre. Irgendwann muss man anfangen, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen.
Immer mehr private Unternehmen wollen die bestehende Lücke im europäischen Bahnverkehr füllen, etwa von Belgien oder Skandinavien aus. Sie klagen, dass ihnen viele Steine in den Weg gelegt werden. Zu Recht?
Leider ja. Lokführer müssen zum Beispiel die Sprache der verschiedenen Länder sprechen, durch die sie fahren. Die Schienen sind nicht angepasst, die Loks müssen beim Grenzübergang gewechselt werden. Das alles müssen wir harmonisieren. Die Mitgliedsstaaten würden gerne alle ein bisschen mehr in Schiene machen, aber sie wollen nichts dafür tun. Der Kern des Problems: Wir müssen aufhören, bestimmte Sachen etwa im Straßenbau zu machen, um Planungskapazitäten, Gelder und administrative Kapazitäten vor Ort zu haben, damit die Schiene besser wird.
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