EU-Parlamentarier Michael Cramers: „Wir wollten die Welt verändern“
Verbinden war Cramers politische Lebensaufgabe – über die Verkehrspolitik hinaus. 2019 scheidet er nach 30 Jahren aus dem EU-Parlament aus.
taz: Herr Cramer, Sie sind doch bestimmt mit dem Rad gekommen – wo ist denn Ihr Helm?
Michael Cramer: Ich habe überhaupt keinen, wie Sie ja wissen.
Es hätte ja sein können, dass Sie jetzt mit 69 die Altersweisheit zum Umdenken gebracht hat, nachdem Sie uns vor ein paar Jahren ein heftiges Plädoyer gegen Helmpflicht geschrieben haben.
Entscheidend ist nicht ein Helm, sondern die Sichtbeziehung zu den Autofahrern. Deshalb haben wir die Gehweg-Radwege in Berlin erfolgreich bekämpft. Schon seit einigen Jahren werden sie nur noch auf der Fahrbahn markiert. Viele Radelnde fühlen sich auf Gehweg-Radwegen zwar subjektiv sicherer, diese sind aber objektiv gefährlich, weil der Autofahrer meist nur die Straße im Blick hat und nicht den Gehweg rechts der parkenden Autos.
Stürzen kann man trotzdem.
Ja – deshalb wurden auch Airbags für Radelnde entwickelt. Helm oder Airbag kann jeder, der möchte, benutzen, es darf aber nicht verpflichtend vorgeschrieben werden. Auch das Europaparlament hat mit großer Mehrheit eine Helmpflicht abgelehnt.
Wir sitzen ja hier zusammen, weil Ihre Zeit im Europäischen Parlament sich dem Ende zuneigt. Im nächsten Jahr treten Sie nicht mehr an. Gehen Sie freiwillig oder hat man Ihnen bedeutet, Sie möchten doch bitte …?
Das habe ich schon vor drei Jahren entschieden – auch um die Partei darauf vorzubereiten, dass sie für die Verkehrspolitik eine Nachfolge finden muss.
Vom Timing her könnte es allerdings besser sein, oder? Sie hören in einer Zeit auf, die von Abgesängen auf die EU und die europäische Idee an sich begleitet wird.
Ja, der Brexit, die neu aufkommenden Nationalisten in vielen Staaten – das ist beängstigend. Aber in der Entwicklung der Europäischen Union gab es immer Krisen, Stillstand und auch Vorankommen. Eines weiß ich: Wenn die Mitgliedstaaten der EU nicht zusammenhalten, ist es für alle negativ.
Der Mensch 1949 in Gevelsberg in Westfalen geboren, studierte in Mainz Musik und Sport als Lehramt, zog nach Berlin und arbeitete bis 1995 als Lehrer in Neukölln.
Der Politiker 1986 trat Cramer der Alternativen Liste bei, die später in den Grünen aufgingen. Schon 1989 kam er ins Berliner Abgeordnetenhaus, dem er 15 Jahre angehörte und wo er vor allem als verkehrspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion in Erscheinung trat. 2004 wurde er erstmals ins Europaparlament gewählt. Von 2014 bis 2017 leitete er dort den Ausschuss für Verkehr und Tourismus. Bei der nächsten Europawahl im Mai 2019 tritt Cramer nicht erneut an.
Der Geehrte Für seine grenzüberschreitenden Projekte und den „Iron Curtain Trail“, die 10.000 Kilometer lange europäische Variante des von Cramer mit vorangetriebenen Berliner Mauerradwegs, wurde er im Juli dieses Jahres mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Die Bücher Michael Cramer veröffentlichte mehrere Radtourenbücher über den Mauerradweg in Berlin, den Radweg entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze von der Ostsee bis nach Tschechien und den Radweg entlang des Eisernen Vorhangs, der einst Europa teilte. Die Bücher sind im Esterbauer Verlag erschienen und kosten 13,90 Euro (Berliner Mauerweg) bzw. 15,90 Euro. (sta)
Und Ihre persönliche Bilanz – ist die auch negativ?
Ich habe sehr gute Jahre im Europaparlament erlebt, in das ich 2004 erstmals gewählt wurde. Die Osterweiterung und die Diskussion mit den neuen Mitgliedern waren sehr spannend und ich habe viel gelernt. Und all das war verbunden mit einer großen Euphorie für die Zukunft der EU.
Was war – und ist – denn der größte Unterschied zur Arbeit im Abgeordnetenhaus?
Den Fraktionszwang in den deutschen Parlamenten, der ja dem Grundgesetz widerspricht, weil er die Entscheidungsfreiheit von Abgeordneten stark einschränkt, den gibt es im Europaparlament nicht. Hier in Berlin, da konnte ich eine Rede halten mit den besten, auch konsensfähigen Ideen – dann kamen nachher Regierungsmitglieder von CDU und SPD und sagten: Du hast ja Recht, aber wir haben uns in der Koalition schon anders festgelegt.
Kein Fraktionszwang? Das klingt nach einem Wünsch-dir-was für Parlamentarier.
Nein, den gibt es wirklich nicht. Wir vertreten über 200 Parteien, die in sieben oder acht Fraktionen organisiert sind. Das einstimmige Votum einer Fraktion ist eine Ausnahme. Wie sollen denn die französischen Sozialisten und die deutschen Sozialdemokraten eine gemeinsame Position in der Energie-Politik hinbekommen? Die Deutschen sind stolz wie Bolle auf den Atomausstieg, die Franzosen genau so stolz auf ihre 60 AKWs.
Genau diese Gegensätze aber müssten die Arbeit doch schwer machen?
Die Abgeordneten im Europäischen Parlament verstehen sich mehr als Vertreter des Parlaments, dessen Bedeutung sie stärken wollen. Deshalb sucht man in der Regel nach einem Kompromiss mit starker Mehrheit, um gegen Kommission und Rat bestehen zu können. Nur so können die Parlamentarier ihre Positionen zur Geltung bringen. Da kann man auch als kleine Partei viel bewegen, weil wirklich die Argumente zählen und man Mehrheiten organisieren kann.
Wenn Sie hier in Berlin für ein Bündnis mit der CDU werben würden, bekämen Sie in Ihrer Partei mächtig Dresche.
Mit wem ein Bündnis sinnvoll oder möglich ist, hängt davon ab, wie viele eigene inhaltliche Positionen durchsetzbar sind oder wie viele vertretbare Kompromisse gefunden werden können. Woran ist denn nach der Abgeordnetenhauswahl 2011 die rot-grüne Mehrheitsregierung gescheitert? Daran, dass Klaus Wowereit unbedingt die Autobahn wollte. Die CDU klopfte damals vor der Wahl auch bei uns an. Ich sagte denen: „Wir bauen mit euch doch keine Autobahn!“ Da antwortete mir ein führender CDU-Mann: „Das ist uns doch klar, das würden wir doch gar nicht verlangen.“ In der Verkehrspolitik schaue ich, mit wem eine umweltschonende Mobilität eher gefördert werden kann.
Nun war und ist Europa kein Thema, das die Wähler begeistert.
Das hat die Politik letztlich selbst zu verantworten. Der Brexit hat in Großbritannien doch nur eine Mehrheit bekommen, weil die Medien und fast alle Parteien seit mehr als 30 Jahren nur auf Europa rumgehackt haben.
Das mag ja stimmen – aber hier bringen Zeitungen manchmal Sonderseiten um Sonderseiten, und doch, es interessiert kaum jemanden, was in Brüssel passiert. Was läuft da falsch?
Da gibt es einige Aspekte: Die Struktur ist kompliziert, das Zusammenwachsen der Nationalstaaten konfliktreich und die demokratische Einflussmöglichkeit für den Bürger kaum erkennbar. Die Bedeutung der EU ist für viele Menschen nicht greifbar.
Könnte man ja erklären …
Die Exekutive, also Kommission und Rat, sind abstrakte Größen und werden nicht mit handelnden Personen verbunden wie bei nationalen Spitzenpolitikern. Und die dort entschiedenen Inhalte werden nicht mit Brüssel assoziiert, wenn sie für die Bürger von Vorteil sind. Ohne die EU wäre das Roaming nicht abgeschafft! Davon sind alle begeistert. Aber das Positive der EU spielt in den Medien und in der Tagespolitik kaum eine Rolle.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Als wir 1998 in der EU die Fahrgastrechte für die Bahn beschlossen hatten – also dass man bei einer Stunde Verspätung 25 Prozent des Fahrpreises zurückbekommt, bei zwei Stunden 50 Prozent – hat das Brigitte Zypries als zuständige Justizministerin im Bundestag so vorgestellt, als wäre es ihre Idee gewesen, ohne darauf hinzuweisen, dass dieses EU-Gesetz nur in nationales Recht übertragen werden musste. Als dann aus der Opposition Vorschläge kamen, die Rückerstattung zu erhöhen, sagte sie: „Nein, das verbietet die EU!“ Völliger Quatsch! EU-Gesetze sind immer nur Mindestwerte – in Belgien gibt es heute schon bei einer Stunde Verspätung 50 Prozent zurück, also doppelt so viel wie bei uns.
Sie meinen, unsere angeblich so überzeugten Europäer beschädigen selbst das Ansehen der EU?
Ja, leider! Dasselbe sieht man beim Thema Abbiegeassistent für Lkw. Da hat der Bundesrat im Juni dafür gestimmt, dass er Pflicht werden soll. Das müsste jetzt nur noch der Bundestag beschließen. Aber was sagt Bundesverkehrsminister Scheuer: „Das geht ja nur, wenn die EU das will.“ Auch das stimmt nicht – er könnte es in Deutschland sofort regeln! Es ist immer das Gleiche: Wenn etwas positiv ist, dann feiern sich die Politiker in ihren Ländern selbst dafür, aber wenn etwas schlecht läuft, ist Europa schuld. Die legendäre Regelung zur Gurkenkrümmung …
… das musste ja noch kommen.
… und das Verbot der Glühbirne hat die deutsche Bundesregierung unterstützt – aber wenn bei der Umsetzung Gegenwind kommt, ist die EU verantwortlich. Da muss man sich dann nicht über die Stimmung wundern.
Bei den Grünen läuft ja gerade eine Debatte über linken Patriotismus. Darf man als Grüner von Heimat sprechen, sie sogar lieben? Sprechen Sie von Heimat – und meinen Sie dann Ennepetal, ihren Geburtsort, oder Berlin oder Brüssel?
Ich finde es gut, dass hier mal Ennepetal erwähnt wird, wo ich groß geworden bin ..
.. was südlich vom Ruhrgebiet liegt, sollten wir den Lesern noch mitgeben.
Noch genauer: an der Grenze von Ruhrgebiet, Sauerland und Bergischem Land.
Ihre Heimat also …
Die Rechten haben den Begriff diskreditiert. Heimat ist eigentlich etwas Positives, ist da, wo Du Dich auskennst und zugehörig fühlst. Als es im Europaparlament bei einem meiner ersten Berichte 2005 um nachhaltigen Tourismus ging, sagte der zuständige portugiesische Abgeordnete: Wir brauchen die europäische Identität. Ich habe geantwortet: Stimmt – aber es ist nicht so einfach. Ich bin ein gebürtiger Westfale, der als Berliner für Deutschland europäische Politik macht. Identität ist vielschichtig.
Wie hat Ihr Kollege reagiert?
Er hat dann meinem Antrag zugestimmt, dass entlang des Eisernen Vorhangs nach dem Muster des Berliner Mauer-Radwegs ein „Iron Curtain Trail“ mit einer Länge von 10.000 km durch 20 Länder entlang der Westgrenze der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten geschaffen wird. Von dieser Spaltung waren alle betroffen, er ganz weit weg in Portugal, ich ganz nah dran in Berlin. Der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs war eine Sache für ganz Europa und auch ganz konkret für die Menschen vor Ort. Und wir dürfen niemals vergessen: Ohne die Gewerkschaft Solidarność, die mit 10 Millionen Mitgliedern viermal so stark war wie die kommunistische Staatspartei, wäre 1989 weder die Mauer in Berlin noch der Eiserne Vorhang in Europa gefallen.
Ist es also gut, dass Ihre Parteichefs in ihrer Sommertour den Heimat-Begriff auch für sich reklamierten?
Es kann nicht sein, dass nur Söder, Seehofer und Co. den Inhalt dieses Begriffes bestimmen. Denn sie wollen damit vor allem Menschen ausgrenzen. Das sollten wir nicht zulassen. Dieses komplexe und stark die Gefühle ansprechende Wort enthält viele Aspekte von Gruppenidentität, die nicht ausgrenzt, sondern sich gemeinsam entwickelt. Das gilt übrigens auch für das Wort „christlich“, das manchmal von der CSU als ausgrenzender Kampfbegriff benutzt wird. Aber wer „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ignoriert, sollte auch das C in seinem Parteinamen streichen. Und wir Grüne – egal ob Christen oder Angehörige einer anderen Religion oder Atheisten – wollen die Schöpfung bewahren.
Sie haben mal gesagt, „Berlin war die beste Vorbereitung auf Brüssel“ – wieso?
In Berlin habe ich mich als Verkehrspolitiker für das Zusammenwachsen der geteilten Stadt eingesetzt, in der EU muss der geteilte Kontinent zusammenkommen. Das ist fast gleich.
Der Horizont in Brüssel ist doch viel größer.
Aber leider werden dieselben Fehler gemacht. Sehr teure und oft Jahrzehnte dauernde Großprojekte genießen absolute Priorität. Die kleinen, „grenzüberschreitenden“ Lückenschlüsse werden vernachlässigt, oft gar nicht angepackt, obwohl sie die Menschen schnell zusammenbringen würden. Meine hartnäckige Kritik war nicht umsonst: Die Kommission hat jetzt 140 Millionen Euro nur für kleine grenzüberschreitende Verbindungen zur Verfügung gestellt.
Gab es trotzdem mal den Moment, in dem Sie als Parlamentarier so frustriert waren, dass Sie dachten: Mir reicht's?
Natürlich ärgert man sich und ist oft frustriert. Aber aufhören? Den Gedanken gab's nie. Da zitiere ich gerne Theodor Heuss: „Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist“ – und der bin ich nicht. 30 Jahre kämpfte ich gegen die Atomkraft, damit war man für manche ein Vollidiot. Heute wird diese Überzeugung breit geteilt. Ich fühle mich sehr wohl – aber es hat 30 Jahre gedauert.
Genervt haben muss Sie schon, dass ausgerechnet Sie, der Vorzeige-Öko und Radfahrer, jede Woche Kerosin in die Luft pulvern und von Berlin nach Brüssel und zurück fliegen müssen.
Auf die Frage habe ich schon gewartet. Ja, das ist ein Problem. Seit 1979 bin ich ohne eigenes Auto mobil, meine Ökobilanz war toll. Mein Parlamentsmandat hat sie nun leider verhagelt. Ich bin in den ersten fünf Jahren Brüssel mehr geflogen als in meinem ganzen Leben vorher. Aber kein Flug war privat. Leider gibt es keine schnelle und direkte Zugverbindung nach Brüssel. Um meine Termine wahrnehmen zu können, muss ich fliegen. Nach Straßburg nehme ich die Bahn. Aber ich zahle für jeden Flug an „atmosfair“, die mit dem Geld weltweit ökologische Verbesserungen finanzieren.
Sie hatten ja auch mal ein Auto …
…na, klar. Ich bin ja mehrfach in den Weihnachtsferien 3.000 Kilometer mit dem Auto von Berlin nach Kreta gefahren. Heute wäre das ein Horror für mich.
Was hat Sie denn dazu gebracht, das Auto stehen zu lassen? Hatten Sie so eine Art Erweckungserlebnis?
Nein, das hatte nicht nur ökologische Gründe. In Berlin hatte ich mein Auto manchmal drei oder vier Wochen lang nicht benutzt – ich war auch oft froh, überhaupt einen Parkplatz gefunden zu haben. Da habe ich dann gedacht: Dann kannst du es auch gleich abschaffen und zur Not mal mit dem Taxi fahren. Für das Geld der jährlichen Taxiquittungen hätte ich mein Auto gerade mal einen Monat lang finanzieren können. Es war eine nicht nur ökologisch, sondern auch finanziell sinnvolle Entscheidung.
Die hätten Sie ja auch schon vorher im Studium in Mainz treffen können.
Nach der erfolgreichen Anti-AKW-Demo in Whyl hätte ich den Wagen tatsächlich fast schon abgeschafft. Aber da habe ich nebenher Musik gemacht – ich habe ja Musik und Sport studiert – und in die Kirchen zu meinen Auftritten und zurück wäre ich ohne Auto nicht gekommen. Und das Geld für diese Auftritte benötigte ich als armer Student: Für die Kantate 51 von Johann Sebastian Bach bekam ich mit 150 DM die höchste Gage.
Mit welchem Instrument waren Sie denn unterwegs?
Trompete. Wäre ich zehn Jahre jünger gewesen, wäre ich wahrscheinlich Musiker geworden.
Was hat das mit dem Alter zu tun?
Es war ja die 68er-Zeit – und da wollten wir doch die Welt verändern und nicht „Spießer“ beglücken.
Was wird denn nach der Europawahl im Mai 2019 aus Ihnen werden? Seniorenbeirat? Rot-Rot-Grün-Berater? Weltumradler?
Vom Europa-Radweg, dem Iron-Curtain-Trail, bin ich ja von den 10.000 Kilometern fast 9.000 schon abgeradelt. Die den Trail beschreibenden drei Bücher habe ich überarbeitet und es sind fünf daraus geworden. Der letzte Teil erscheint Ende des Jahres. Allein für die permanente Überarbeitung gibt es viel zu tun. Also: Langeweile werde ich nicht haben.
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