: DasPrinzipAbschottung
Auf dem EU-Gipfel zur Migration kämpft Angela Merkel nicht nur um die Zukunft Europas, sondern vor allem um ihre eigene. Griechenland und Spanien gewinnt sie als Partner, aber reicht das?
Aus Brüssel Eric Bonse
So wenig sagen wie nötig. So viel retten wie möglich. Das war das unausgesprochene Motto von Angela Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel. Bei dem zweitägigen Treffen stand für die Kanzlerin sehr viel auf dem Spiel, eigentlich alles – und doch versuchte sie, von Anfang an den Eindruck zu erwecken, sie habe alles in der Hand. Wie immer.
Noch bevor das Treffen am Donnerstag im gläsernen Europagebäude an der Brüsseler Rue de la Loi begonnen hatte, eilte Merkel zu ihrem ersten, kurzfristig improvisierten Termin. Sie wollte den neuen italienischen Premierminister Giuseppe Conte zu einem Vier-Augen-Gespräch treffen.
Der war auf so viel Ehre gar nicht vorbereitet. Ob Merkel ganz allein mit ihm reden wolle, fragte der unerfahrene Politiker, der von seinem Regierungspartner, dem rechtsradikalen Lega-Führer und Innenminister Matteo Salvini, zu einer besonders harten Linie getrieben wird. „Dann brauche ich erst mal meine Tasche“, sagte Conte.
Vierzig Minuten dauerte die Unterredung mit Tasche, die über Merkels politisches Schicksal entscheiden könnte. Details sickerten nicht nach draußen. „Es waren nicht einmal Berater dabei, wir können leider nichts sagen“, wehrte ein EU-Diplomat ab. Auch Merkel sagte nichts – außer einem Satz. „Wir werden auch über Sekundärmigration sprechen“, ließ die Kanzlerin die wartenden Journalisten wissen.
Sekundärmigration – das ist das Thema, das Innenminister Horst Seehofer und die CSU umtreibt. Es geht um Migranten, die bereits in einem anderen EU-Land ihren Antrag gestellt haben und dann in Deutschland nochmals Asyl begehren. Das möchte Merkel verhindern – mit bilateralen Rücknahmeabkommen, die es erlauben, die betroffenen Menschen zurück nach Griechenland, Italien oder einem anderen EU-Land zu schicken.
Doch außer Merkel sorgt sich kaum jemand um die Sekundärmigration – schon gar nicht Conte. Denn ihm und den ihn stützenden Populisten und Nationalisten in Rom geht es vor allem um die Primärmigration, die Bootsflüchtlinge, die in Italien anlanden. Um diese unerwünschte Zuwanderung zu beenden und Solidarität der EU zu erzwingen, ging Conte bis zum Äußersten.
Donnerstagabend gegen 19 Uhr, eigentlich soll EU-Ratspräsident Donald Tusk nun über die Ergebnisse des Gipfels berichten. Doch die Pressekonferenz wird überraschend abgesagt. „Ein Mitglied“ habe Vorbehalte angemeldet und damit alle Gipfelbeschlüsse blockiert, teilt Tusk schriftlich mit. Gemeint ist Italien, das mit einem Veto droht. „Nichts ist beschlossen, bevor alles beschlossen ist“, heißt der Hebel, mit dem Conte den Gipfel in Geiselhaft nimmt.
Von nun an spielt Merkel nur noch eine Nebenrolle. Conte und der französische Staatschef Emmanuel Macron übernehmen die Regie, bemühen sich um einen Kompromiss. Von Merkel ist nichts mehr zu sehen oder zu hören. Es soll bis zum Morgengrauen dauern, bis die Kanzlerin die Sprache wiederfindet und eine kurze Erklärung vor der Presse abgibt.
„Wir haben, wie Sie ja an der Uhrzeit merken können, eine sehr intensive Debatte gehabt“, sagt sie am Freitagmorgen kurz vor fünf. Doch nun gebe es einen Beschluss „bei dem vielleicht herausforderndsten Thema für die Europäische Union“. Sagt’s und eilt in ihr Hotel im Zentrum Brüssels, um zumindest einige Stunden Schlaf zu bekommen.
Im Gepäck hat sie einen Absatz, der ihr im Machtkampf mit Seehofer helfen soll. Es ist Punkt 11 im Gipfelbeschluss zur Migration: „Was die Lage innerhalb der EU betrifft, droht die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen Mitgliedstaaten die Integrität des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und des Schengen-Besitzstands zu gefährden.“
So weit, so vage. Doch dann kommt’s: „Die Mitgliedstaaten sollten alle erforderlichen internen Rechtsetzungs- und Verwaltungsmaßnahmen gegen diese Migrationsbewegungen treffen und dabei eng zusammenzuarbeiten.“ Das lässt sich als Ermächtigung lesen, „interne Maßnahmen“ zu ergreifen – sofern sie mit anderen EU-Staaten abgestimmt sind. Man kann es aber auch anders interpretieren. Als Gummiparagrafen, der alles und nichts bedeutet.
Doch noch immer fehlt Merkel das, was sie am dringendsten braucht: eine Absprache mit Italien zur Rücknahme von Asylbewerbern. Andere Mittelmeerländer signalisieren ihre Bereitschaft dazu. Sogar Ungarn – das Land, das in Eigenregie den Grenzwall an der Südostflanke der EU gebaut hat und die Aufnahme von Migranten verweigert – soll zur Verständigung bereit sein.
Doch von Conte kommt: nichts. Mittlerweile ist es schon Freitagmittag, Merkel läuft die Zeit davon. Sie nutzt eine Verhandlungspause, um sich mit den Regierungschefs von Spanien und Griechenland, Pedro Sanchez und Alexis Tsipras, zu treffen. Sie gelten neuerdings als treueste Verbündete der CDU-Chefin.
Solidarität sei wichtig, gerade mit Deutschland, hatte der Sozialist Sanchez zu Beginn des Gipfels gesagt. Schließlich stecke das Land derzeit in einer politischen Krise. Auch Tsipras, der Syriza-Politiker, zeigt sich solidarisch. „Wenn es hilft, macht es uns nichts aus, dass wir vielleicht einige Rückführungen aus Deutschland haben werden“, betont Tsipras.
Ausgerechnet die Linke stützt nun die christdemokratische Kanzlerin. Wer hätte das gedacht? Angela Merkel kommt sichtlich gestärkt aus den Treffen mit Sanchez und Tsipras. Beide Partner seien bereit, in ihren Ländern registrierte Asylbewerber zurückzunehmen, wenn sie an der deutsch-österreichischen Grenze aufgegriffen werden, sagt sie.
Doch ist das nun die „wirkungsgleiche“ Vereinbarung, die die CSU gefordert hat? „Wenn wir das alles umsetzen, dann ist das mehr als wirkungsgleich“, sagt Angela Merkel. „Dann ist das ein substanzieller Fortschritt.“ Die Kanzlerin lächelt. Sie wirkt wieder so, als habe sie alles fest in der Hand.
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