EU-Binnenmarkt nach dem Brexit: Der Herr der Heringe

Boris Johnson tut gern so, als ginge es beim Brexit um die Fischerei. Das ist Quatsch, nützt aber auch der EU.

Johnson und ein dicker Fisch

Zeigt sich gern mit großen Fischen: Boris Johnson im Wahlkampf 2019 Foto: Ben Stansall/ap

Beim Brexit wird es jetzt spannend. Die Briten haben definitiv entschieden, dass sie Ende 2020 aus dem EU-Binnenmarkt ausscheiden und die „Übergangsphase“ nicht verlängern. Bisher erinnerte der Brexit an eine Bildstörung im Fernsehen: Es ging weder vorwärts noch zurück. Doch nun hat der britische Premier Boris Johnson endgültig die Forward-Taste gedrückt.

Großbritannien verabschiedet sich zu Silvester komplett aus der EU, obwohl noch ziemlich nebulös ist, wie es ab Neujahr weitergehen soll. Das ist mutig, um es freundlich zu sagen. Rechtlich bindend ist bisher nur das Austrittsabkommen, mit dem die Briten die EU verlassen haben. Der wichtigste Punkt ist dort: Drei Mil­lio­nen EU-Bürger in Großbritannien sowie mehr als eine Million Briten in der EU können beruhigt sein, dass sich für sie nichts ändert.

Sie dürfen weiterhin am Ort ihrer Wahl leben und arbeiten, dürfen ihre Familien nachholen und nicht diskriminiert werden. Im Austrittsabkommen wurde zudem das leidige Nordirland-Problem vom Tisch geräumt. Auf der grünen Insel wird es keine Zollgrenze geben, die den Norden vom Süden trennt. Stattdessen bleibt das britische Nordirland faktisch im EU-Binnenmarkt, gehört aber gleichzeitig zum britischen Zollgebiet.

Damit nicht einfach Waren von Großbritannien über Nordirland in die EU gelangen können, werden die nötigen Kontrollen von britischen Zöllnern in den nordirischen Häfen vorgenommen. Die EU ist den Briten damit weit entgegengekommen, wird doch eine hoheitliche Aufgabe – der Zoll – an einen Drittstaat abgetreten. Dieses Austrittsabkommen wurde von einer „politischen Erklärung“ begleitet, die Johnson zwar unterschrieben hat, die aber rechtlich nicht bindend ist.

Europa traut den Briten nicht

Deswegen nützt es den Europäern nicht viel, wenn in dem Text mehrmals versichert wird, dass man gemeinsam einen „fairen Wettbewerb“ anstrebe (a level playing field). Dies sind nur Worte. Am Ende entscheidet das Handelsabkommen – das es noch nicht gibt und um das nun gerungen wird. Viele Briten verstehen nicht, warum die Europäer so dringend auf dem „level playing field“ beharren. Traut man den Briten etwa nicht? Nein. Das ist leider die harte Antwort.

Die Briten leben derzeit über ihre Verhältnisse. Denn sie importieren viel mehr, als sie exportieren

Die Europäer fürchten, dass die Briten auf gezieltes Steuerdumping setzen könnten, um lukrative Großkonzerne abzuwerben. Die Europäer haben die Drohung nie vergessen, mit der Ex-Premierministerin Theresa May im Frühjahr 2017 in die Brexit-Verhandlungen startete.

In ihrer Grundsatzrede erwähnte May ausdrücklich die „Freiheit“ der Briten, „kompetitive Steuersätze festzulegen und politische In­strumente einzusetzen, die die besten Unternehmen und größten Investoren der Welt nach Großbritannien locken würden“. Diese Drohung war nicht nur diplomatisches Geplänkel, sondern dürfte ernsthafte Absichten beschreiben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Briten Unternehmen aus Europa abwerben wollen. Da reicht schon ein Blick in die Statistiken:

Großbritannien lebt über seine Verhältnisse. Es konsumiert mehr, als es sich leisten kann. 2019 importierten die Briten Waren im Wert von 501 Milliarden Pfund, aber sie exportierten Güter für nur 372 Milliarden. Bisher ließ sich dieses gigantische Minus im Warenhandel leidlich finanzieren, weil die Briten bei den Dienstleistungen ein Plus von 106 Milliarden erwirtschafteten. Dahinter verbargen sich vor allem die Aktivitäten am Finanzplatz London.

Mehr Import als Export

Doch ausgerechnet diese lukrativen Finanzgeschäfte werden durch den Brexit teilweise wegfallen, denn für die Banken aus Asien oder den USA war es vor allem deswegen attraktiv, sich in London anzusiedeln, weil Großbritannien zur EU gehörte. Doch sobald die Briten aus dem Binnenmarkt ausscheiden, müssen die internationalen Banken neue Tochterinstitute auf dem europäischen Kontinent gründen, wenn sie weiterhin Geschäfte in der EU tätigen wollen.

Bankexpertin Dorothea Schäfer schätzt daher, dass der Finanzplatz London um 30 Prozent schrumpfen dürfte. Es wird also ungemütlich für die Briten: Ihre Exporte reichen sowieso nicht, um die Importe zu bezahlen – und künftig dürfte dieses Loch noch größer sein, weil ein Teil der Finanzdienstleistungen wegfällt. Da liegt es nahe, aggressiv um ausländische Unternehmen zu werben. Die EU wiederum will genau dies verhindern und Steuerdumping oder andere Tricks ausschließen.

Das Thema „level playing field“ dürfte daher darüber entscheiden, ob es zu einem Handelsvertrag kommt oder ob Großbritannien einen „harten Brexit“ vollzieht und den Binnenmarkt ohne Abkommen verlässt. Während hinter den Kulissen um das Wesentliche gestritten wird, läuft auf der Bühne die Show fürs Publikum.

Briten und EU tun so, als ginge es beim Brexit ganz zentral um die Fischereirechte. Bisher gilt in der EU ein kompliziertes System von Fangquoten, künftig wollen die Briten ihre Meeresgebiete allein befischen. Beim Getöse um diesen Konflikt könnte man meinen, dass Millionen von Arbeitsplätzen in Gefahr seien. Es wären aber wohl nur etwa 100 Jobs, die auf deutschen Booten verloren gingen. Denn es gibt hierzulande überhaupt nur sieben Schiffe, die Hochseefischerei betreiben.

Nur noch sieben deutsche Hochseeschiffe

Zudem sind nicht alle sieben in britischen Gewässern unterwegs, weil es auch noch Fanggebiete vor Norwegen, Spitzbergen, Island, Grönland, Westafrika und im Südpazifik gibt. Übrigens ist es in Großbritannien ähnlich: Auch dort ist die Fisch­indus­trie weitgehend bedeutungslos und macht nur 0,12 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Trotzdem ist es kein Zufall, dass nun ständig über die Fischerei geredet wird.

Bei diesem Thema ist ein Kompromiss einfach, der sich dann als großer Sieg für die Briten verkaufen ließe. Johnson wäre der Herr über Hering und Kabeljau und könnte damit verbrämen, dass die EU ein „level playing field“ durchgesetzt hat.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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