EU-Außengrenze in Melilla: Die Stadt der Hoffnung
Die Grenze um die spanische Exklave Melilla ist hoch, der Stacheldraht ist scharf. Flüchtlinge lassen sich davon nicht abhalten.
BENI ENZAR/MELILLA taz | Dort liegt sie, die verheißene Stadt. Scheinbar nur einen Steinwurf entfernt. Flirrende Nachmittagshitze über dem Häusermeer. Der Wind trägt Geräusche vom Hafen herüber. Seit 18 Monaten versuchen Joshua und Cletus, dorthin zu gelangen. Nach Melilla, nach Europa. Über diesen meterhohen Zaun, an dem sie und ihre Leidensgenossen schon so oft die Prügel und das Pfefferspray der spanischen Grenzpolizei entgegennehmen durften.
Mit brennenden Augen und schmerzenden Gliedmaßen humpelten sie dann wieder in ihr Versteck auf dem Berg zurück – wenn die marokkanische Polizei sie auf dem Rückweg nicht noch ein zweites Mal verprügelte.
Joshua und Cletus, der eine aus Ghana, der andere aus Nigeria, bewegen sich in Nador mit größter Vorsicht. Heute ist Markttag, und sie halten die Hand für ein paar Dirham auf. „Wenn die Polizei uns sieht, müssen wir rennen.“ Selbst hoch oben auf dem erloschenen Vulkan Gurugú seien sie nicht sicher, versichern sie. „Fast jede Woche kommt die Polizei und zerstört unsere Zelte.“ Wer sich erwischen lässt, werde verprügelt. Die Männer beteuern, dass es dabei schon Tote gegeben habe. „Die werden weggetragen und tauchen nie wieder auf.“
Joshua und Cletus nehmen von Nador den Bus in Richtung Melilla, nach einigen Kilometern lassen sie sich in der Einöde aussetzen. „Dieser Weg ist anstrengend, aber hier läuft weniger Polizei herum“, meint Cletus. „Dort oben müssen wir hin, das ist der Gurugú.“ Er zeigt auf den mit Kiefern bestandenen Gipfel des Bergs, der sich schätzungsweise einen Kilometer entfernt erhebt. Die beiden wandern durch wilde Kakteenfelder, Geröll- und Müllhalden und durch winzige Ortschaften, Anwohner winken freundlich und rufen „Salam aleikum“. „Die Landbevölkerung ist nett, nur die Polizei nicht.“
Die Stadt: Melilla liegt an der marokkanischen Küste und gehört als Exklave zu Spanien. Etwa 85.000 Menschen leben dort.
Die Camps: Melilla ist Etappenziel vieler afrikanischer Flüchtlinge, die außerhalb der Stadt in illegalen Camps leben. Erst in der vergangenen Woche haben an die 1.000 Flüchtlinge versucht, in die Stadt zu gelangen - etwa 500 Menschen ist es gelungen, darunter einer schwangeren Frau. Sie ist erst die zweite Frau, die es über den Grenzzaun geschafft hat.
EU-Außengrenze: Der fast sieben Meter hohe Zaun wird durch scharfen Natodraht gesichert. Dennoch will Spanien nach den jüngsten Massenanstürmen den weiteren Ausbau der Grenzanlage vorantreiben. Schon in den kommenden Tagen sollen die Zäune zusätzlich mit engmaschigen Netzen überspannt werden, die das Überklettern erschweren sollen.
Ein Mann aus Kamerun kreuzt eine Stunde später kurz vor dem Gipfel ihren Weg. Er ist überhaupt nicht erfreut, dass Joshua und Cletus einen unbekannten Weißen im Schlepptau haben. Später erzählt Joshua, dass sich hier vor einigen Wochen ein Spanier als Journalist ausgegeben habe. Bereitwillig habe man ihm darüber Auskunft gegeben, dass noch in derselben Nacht ein neuer Ansturm auf den Zaun bevorstehe. Der vermeintliche Journalist – ein Spitzel der Guardia civil – griff zum Handy und warnte seine Kollegen auf der anderen Seite der Absperrung. Die Polizei war gut vorbereitet, der Ansturm scheiterte.
Der Clanchef empfängt
Als Ghanaer und Nigerianer gehören Cletus und Joshua zu einer Minderheit in dem vornehmlich frankofonen Camp. Daher sind sie nun recht kleinlaut. Beide müssen beim Clanchef von Kamerun vorsprechen. Die Kameruner bilden mit den Männern aus Mali die größte Gruppe, und ihr Clanchef ist de facto auch der Boss des etwa 2.000 Männer zählenden Lagers.
Versteckt hinter belaubten Büschen und Felsen, ist das mit Teppichen behängte Zelt auf den ersten Blick gar nicht auszumachen. Ein großer und breitschultriger Mann, knapp 30, tritt hinaus ins gleißende Sonnenlicht. Müde sieht er aus. „Die Guardia civil“, sagt er und zeigt auf die rosafarbene Narbe auf seinem dunkelbraunen Nasenrücken.
Etwa 15 junge Männer aus verschiedenen Nationen sitzen auf Steinen und Baumstämmen und halten ein halbstündiges Palaver. Dann sind die Irritationen beseitigt. „Das hier ist das Mali-Getto, dahinten das Kamerun-Getto“, erklärt der Ivorer Abou auf dem anschließenden Gang durchs Lager. Ein Geruch nach Rauch und Schweiß liegt in der Luft, mal riecht es auch nach Urin. Die Stimmung ist gedrückt.
An den Bäumen hängen Decken und Kleidung, der harte und staubige Boden ist bedeckt mit Steinen und selbst gebauten Zelten. Das Fundament besteht aus Findlingen, wie sie überall auf dem Berg verstreut herumliegen. Über ein paar Kiefernäste wird eine blaue Plane gespannt, fertig ist die Laube. „Hier wohne ich“, sagt Joshua und nimmt die Plane im Eingangsbereich seines Zeltes zur Seite. Stickige Luft, im Inneren ein Konglomerat aus Decken, Tüchern und Kleidung. Und ein Essbesteck. Vom Zelt des Nachbarn steht nur noch das Fundament. „Die Polizei, vorgestern Nacht“, sagt Cletus.
Ein gerösteter Ziegenkopf
Ein Mann nimmt einen Ziegenkopf beim Horn und wendet ihn in der Glut. Ein paar Meter weiter rösten zwei Brüder in einer zerbeulten Pfanne Kartoffeln und Zwiebeln überm Feuer. „Um uns Essen kaufen zu können, gehen wir in der Stadt betteln“, erklärt Cletus. Andere hätten Verwandte in Europa und ließen sich Geld über Western Union schicken. „Manchmal jagen wir auch oder stellen Fallen. Etwas weiter weg gibt’s eine Quelle, dort holen wir unser Wasser und waschen uns.“
Oberhalb des Lagers befindet sich der ganze Stolz der afrikanischen Zwangsgemeinschaft: ein selbst angelegter Fußballplatz. Die Pfosten sind ein paar mickrige, in den Boden gesteckte Zweige. Aber der Platz inmitten schräger Geröllhalden ist eben und steinfrei. „Hier halte ich mich fit“, sagt Cletus. Er träumt davon, in Europa eine Karriere als Fußballer zu starten. Sein Freund Joshua ist bodenständiger: „Geld verdienen, irgendwo in Europa“, sagt er.
Aber dafür müsste man erst mal nach Melilla gelangen. Viele haben schon zehn oder zwölf Versuche hinter sich, über den Zaun zu kommen. „Ich bin seit fast zwei Jahren hier auf dem Gurugú“, sagt ein besonders junger Mann aus Guinea-Bissau. 15 sei er gewesen, als er herkam. Mit 13 habe er sich auf den Weg gemacht, quer durch den Kontinent, alles zu Fuß. Seine Familie, sagt er, habe für ihn und seine elf Geschwister nicht mehr sorgen können.
Abou, der Ivorer, nimmt sein Handy in die Hand, es klingelt. Ein Mobiltelefon haben sie hier fast alle. Man muss ja in Kontakt bleiben. Vor allem mit den Landsleuten, die den Sprung über den Zaun schon geschafft haben. Vielleicht haben die ja ein paar Tipps in Sachen Sicherheitslücken. „Time to say goodbye“, sagt Abou mit seinem Handy am Ohr. „Der Chef sagt, das reicht jetzt.“
"Hier sind alle frei - wenigstens etwas"
Schlepperbanden sollen angeblich auch hier ihre Finger im Spiel haben und Zeitpunkt und Strategie für den nächsten Versuch festlegen – überprüfen lässt sich das so nicht. Im Moment sind Massenanstürme eine beliebte Methode. Aber manche versuchen es auch allein. „Das kann jeder tun – wie er will“, sagt Cletus zum Abschied. „Hier sind alle frei – wenigstens etwas.“
„Auf dem Gurugú gewesen?“, fragt der Zöllner eine Stunde später am Grenzübergang Beni Enzar. Journalisten sind auch hier nicht sonderlich beliebt. „Guruwas? Nie gehört, nie da gewesen.“ Der Mann lächelt, etwas gequält zwar, aber immerhin. Dann sagt er: „Herzlich willkommen in Melilla.“ So einfach kann’s gehen. Für die mit dem richtigen Pass.
Zwei lange Jahre hat Guillaume auf dem Monte Gurugú gelebt – wenn man von „leben“ reden kann. Dann, vor knapp vier Monaten, gelang dem Kameruner mit vielen weiteren Flüchtlingen der Sprung über den Grenzzaun. Jetzt steht der 31-Jährige in der Innenstadt von Melilla und wäscht für kleines Geld Autos.
Schlafen und essen kann er im Ceti, dem „Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes“ (Zentrum für den vorübergehenden Aufenthalt von Migranten). Alle, die es über den Zaun schaffen, laufen umgehend hierher – über die Hauptstraße sind es kaum 200 Meter. „Wenn wir auf dem Zaun sitzen, misshandelt uns die Polizei“, berichtet Guillaume. „Aber sobald wir einen Fuß auf spanischen Boden gesetzt haben, lässt sie uns in Ruhe, und das Rote Kreuz versorgt unsere Verletzungen.“
Marihuana-Verkauf und Autowäsche
In den vergangenen Monaten haben es sehr viele Menschen ins Ceti geschafft. Das Auffanglager hat eigentlich nur für rund 400 Menschen Kapazitäten, zurzeit sind an die 2.500 dort untergebracht. Im Außenbereich wurden Extrazelte mit Feldbetten aufgestellt.
Tagsüber dürfen sich alle frei in der Stadt bewegen. Dafür bekommen die sin papeles (die Papierlosen), einen Ausweis, der ihren Status als Flüchtling belegt. Arbeiten dürfen sie nicht. Manche verkaufen am Strand Marihuana – ein riskantes Unterfangen, weil illegal. Andere bieten „halblegal“ am Straßenrand ihre Dienste als Autowäscher an. Die Polizei schaut weg. Einen oder zwei Euro bekommen sie für ein gewaschenes Auto. „Manche Kunden sagen aber auch, sie seien nicht zufrieden mit unserer Arbeit und fahren weg, ohne zu bezahlen“, berichtet Guillaume.
Fünf Männer aus Ghana und Kamerun, die im Schatten eines Baumes sitzen, haben diese Erfahrung bereits hinter sich. „Wir waschen keine Autos mehr“, sagen sie. In ihren Gesichtern ist erste Enttäuschung zu lesen. Seit acht Monaten schlafen sie auf ihren Feldbetten. Das Essen, sagen sie, werde langsam etwas eintönig. Außerdem gebe es ständig Ärger mit den syrischen Familien. „Wenn man eine Syrerin zwei Sekunden lang ansieht, hat man sofort drei Männer gegen sich“, sagt der 26-jährige Melandry aus der Zentralafrikanischen Republik und malt mit einem Stock einen stilisierten Frauenkörper in den Staub.
Sein nächstes Ziel – und das der meisten anderen im Lager – ist die Iberische Halbinsel. „In Madrid kann man Geld verdienen“, glaubt Melandry. „Und wenn nicht, gehen wir nach Frankreich, Deutschland oder Skandinavien – irgendwann und irgendwo wird es schon klappen mit dem besseren Leben.“
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